Simone Keller – vergessene Klaviermusik wiederentdeckt

Schwarz, schwul und provokant: Julius Eastman (1940–1990) zerfetzte die Oberfläche gepflegter minimal music. Mit seiner Bekenntnismusik platzte er in die Blase der weissen Avantgarde New Yorks. Die Schweizer Pianistin Simone Keller trug mit dem Kukuruz Quartett massgeblich zur Wiederentdeckung bei und setzt sich auch für weitere «vergessene» Klaviermusik ein.

Portrait Simone Keller © Doris Kessler

 

Corinne Holtz
Als Julius Eastman in der Aula Rämibühl in Zürich über eine Stunde improvisiert, ist Simone Keller drei Jahre alt. Der Maler Dieter Hall hat den unbekannten Pianisten, Komponisten, Sänger und Performer 1983 für ein Debüt in die Schweiz eingeladen, bevor er selbst für Jahrzehnte in die brodelnde Metropole eintauchen sollte.

Eastman hinterlässt in Zürich ein «verstörtes» Publikum und schenkt seinem Gastgeber eine mit fugue no 7 überschriebene Skizze, die das Kukuruz Quartett Jahre später zusammen mit anderen Transkripten sowie Fotos und Aufnahmen auswerten wird. Die «Eastman-Leidenschaft» setzte ein. Sie beförderte Einrichtungen und Ausdeutungen von Stücken, «die auch Insidern noch nicht bekannt waren», sagt Simone Keller.

Dazu zählt Buddha (1983), das den Interpretierenden gleichzeitig zu realisierende 20 Einzelstimmen auferlegt, ohne bestimmte Instrumente oder deren Anzahl festzulegen. Das Kukuruz Quartett hat sich für Präparationen entschieden, die Klangflächen im Pianissimo an der Schwelle der Hörbarkeit ermöglichen.

Ganz anders Gay Guerrilla (1979) und sein wilder Mix aus Jazzharmonik und Luther-Choral, eine Niederlegung von Eastmans Lebensfragen. «Ich habe lange mit Gott gekämpft», sagte er in einem Interview, und hoffte, dereinst Frieden mit ihm schliessen zu können. Seine panreligiöse Spiritualität fand auch auf die Bühne. 1984 etwa führte er das Solo The Lord give it and the Lord take it away auf, ein 15 Minuten langes Gebet in tiefem Ernst.

Julius Eastman: Gay Guerilla: https://neo.mx3.ch/t/1gxe
Das Kukuruz Quartett spielt Gay Guerilla 2019 an der Brown University, Providence, Rhode Island, USA.

 

Überschreiten von Grenzen, Stilen und Konventionen

Eastman überschreitet Grenzen von Stilen, Genres und Konventionen und hinterlässt Musik, die klanggewordener Protest ist. Das gilt insbesondere für die Trilogie Evil Nigger, deren Titel 1980 afroamerikanische Studierende auf dem Campus der Northwestern University in Evanston (Illinois) protestieren liess. Sie forderten, das «N.»-Wort müsse aus dem Programm gestrichen werden. Eastman wandte sich vor dem Konzert ans Publikum und begründete seinen sprachlichen Rassismus historisch. Das beleidigende Wort verwende er, um die Rolle der Afroamerikaner in der US-amerikanischen Geschichte sichtbar zu machen. «Die Grundlage des ökonomischen Aufstiegs des Landes baut auf der Arbeitskraft der Afroamerikaner, insbesondere der Field-Niggers.» 250 Jahre lang hatten Sklaven und Sklavinnen Reichtum für Weisse erwirtschaftet, während ihnen selbst Eigentum und Bildung in der Regel untersagt waren.

Eastman sagt, was ist, und wird dafür von der eigenen Community abgestraft. Ist hier ein Mechanismus im Gang, dem wir heute im Cancelling unerwünschter Meinungen begegnen? «Nein», findet Simone Keller. «Eastman wollte provozieren und damit zeigen können, warum es wichtig ist, über diese Titel und ihre Sprengkraft nachzudenken.» Es sei richtig, dass wir im Zuge «des kulturellen Wandels sensibler» mit dem tradierten Rassismus auch in der Sprache umgehen würden.

Heruntergewirtschaftete Klaviere machen schmerzhafte Schönheit hörbar..

Das Kukuruz Quartett hat Eastman für Europa entdeckt und seine Musik zuerst in Clubs, Bars und Bierbrauereien gespielt – auf vier «heruntergewirtschafteten» Klavieren, die bereits viele Präparationen überlebt haben und mit ihren «geschundenen Resonanzkörpern genügend Widerstand bieten», um die «Repetitionswut» bei gleichzeitig schmerzhafter «Schönheit» zeigen zu können.

Damit wird das Quartett einer von Drogenexzessen getriebenen Musik gerecht, die im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung während Demonstrationen durch die Strassen schallte und heute in etablierten Konzertsälen erklingt. MaerzMusik in Berlin gab 2017 den Auftakt, kürzlich zog das Lucerne Festival Forwardnach.

Was der visionäre Eklektiker zur Anerkennung durch das Establishment sagen würde, wissen wir nicht. Er selbst verbrachte seine letzten Lebensjahre im Obdachlosenlager im Tompkins Square Park in New York und starb 1990 vergessen in einem Spital in Buffalo.

St. Gallen – Portrait der Pianistin Simone Keller anlässlich der Verleihung des IBK-Preises für Musikvermittlung © Lisa Jenny

 

«Ich bin als weisse Musikerin verpflichtet, auch Musik von Menschen anderer Hautfarbe zu spielen», sagt Simone Keller. Im Studium habe sie ausschliesslich Musik von weissen Männern gespielt und das noch in den 2000er-Jahren, als bereits die eine und andere weisse Komponistin wiederentdeckt wurde, etwa Clara Schumann, Fanny Mendelssohn und Lili Boulanger.

Höchste Zeit, auch an afroamerikanische Komponistinnen wie etwa Irene Higginbotham und ihre berühmteste Komposition Good Morning Heartache (1945) zu erinnern und «Ungleichheits- und Machtverhältnisse» sichtbar zu machen, findet Simone Keller und titelt ihre neuste CD mitsamt Buch Hidden Heartache.

Irene Higginbotham (1918-1988), Good Morning Heartache, interpretiert von Simone Keller, Klavier, und Michael Flury, Posaune, 2024.

 

Anders als Julius Eastman ist Julia Amanda Perry (1924–1979) vergessen. Die afroamerikanische Pianistin, Komponistin und Dirigentin feiert am 25. März ihren 100. Geburtstag. Nach ihrer Grundausbildung am Westminster Choir College Princeton studierte sie in Europa bei Luigi Dallapiccola und Nadia Boulanger, war Guggenheim-Stipendiatin in Florenz und dirigierte zwischen 1952 und 1957 so berühmte Orchester wie das BBC Philharmonic und die Wiener Philharmoniker. Dennoch standen Perry zurück in den USA kaum Türen offen. Mit Hidden Heartache verweist Simone Keller auf Strukturen dieses Vergessens und bringt Klaviermusik von Ausgesperrten der Musikgeschichte ans Licht.
Corinne Holtz

Julius Eastman (1940-1990), Irene Higginbotham (1918-1988), Olga Diener (1890-1963), Lucerne Festival ForwardFestival MärzMusik.

An Julia Amanda Perrys Geburtstag (25.3.2024), erscheinen Buch und Doppel-CD mit 100 Minuten Klaviermusik der letzten 100 Jahre, mit Werken von u.a. Julius Eastman, Julia Amanda Perry, OIga Diener, Jessie Cox u.a., Intakt records.
CD: Kukuruz Quartet, Julius Eastman, Piano interpretations, Intakt records 2018.

Simone Keller: Hidden Tour, 19.–27. März 2024.

Julia Perry Centenary Celebration & Festival, New York City, 13.–16. März 2024.

Sendung SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 17.1.2024: Erst vergessen, heute ein Hype: Julius Eastman (1940–1990), Redaktion Corinne Holtz.

neo-profiles:
Simone Keller, Kukuruz Quartett, Jessie Cox.

Contrechamps Genève feiert das Hören

Ensemble Contrechamps Genève startete eine dichte Saison mit zahlreichen Highlights. Das Programm ist exemplarisch für die neue Ausrichtung des wichtigsten Genfer Ensemble für zeitgenössische Musik unter der künstlerischen Leitung des Perkussionisten Serge Vuille. Er übernahm Contrechamps vor fünf Jahren und hat die Ensemble-DNA seither radikal neu geprägt. Serge Vuille im Gespräch:

 

Portrait Serge Vuille © Serge Vuille

 

Gabrielle Weber
Contrechamps bespielt den grossen Konzertsaal der Victoria Hall in Genf, es eröffnet die Festivals Biennale Musica Venezia oder Sonic Matter Zürich oder es lädt ganz einfach – ohne Konzert – zu einem Vinyl- und neo.mx3.ch-Release-Hörwochenende in Genf ein. Die unterschiedlichen Veranstaltungen sind charakteristisch für die neue Ausrichtung des traditionsreichen Ensembles unter Serge Vuille.

„Contrechamps sucht ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Musik-Praktiken“, sagt Vuille. Da sind einerseits Konzerte mit Instrumentalmusik für grosses Ensemble, oft verbunden mit Komponistenpersönlichkeiten und der jungen Szene der Romandie, andererseits Projekte in Verbindung mit anderen Sparten und Musikgenres, in Kombination mit Visuellem und Performativem, Elektronik, Pop oder Jazz. Und immer geht es Vuille auch um ganz spezielle Hörerlebnisse.

Für Ersteres stand anfangs Saison beispielsweise ein Konzert zum 65. Geburtstag des Genfer Komponisten Michael Jarrell, ein „traditionelles“, dirigiertes Konzert für große Ensembles in der Victoria Hall. Contrechamps gab dazu sieben neue kurze Stücke an seine Studierenden in Auftrag. „Damit unterstützen und fördern wir die regionale Kreationsszene, das ist uns ein wichtiges Anliegen“, sagt Vuille.

Ende 2022 veranstaltete es bereits eine Hommage an Éric Gaudibert, vor zehn Jahren verstorbener Lausanner Komponist, der die Szene wesentlich prägte. Dabei führte es nebst Gaudibert 22 neue Stücke ehemaliger Studierender auf, Miniaturen von je nur zirka einer Minute Dauer, in ganz unterschiedlicher, frei gewählter Besetzung.

 


Éric Gaudibert, Skript, pour vibraphone et ensemble, Contrechamps, Bâtiment des Forces Motrices de Genève, Concours de Genève, 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

In einem ganz anderen Kontext und Setting, zur Eröffnung der Biennale Musica Venezia, zeigte Contrechamps GLIA für Instrumente und Elektronik, ein Werk der 2009 verstorbenen US- Elektropionieren und Klangkünstlerin Maryanne Amacher aus dem Jahr 2005. An Amachers Schaffen interessiert Vuille auch der Aspekt spezieller gemeinsamer Hörerfahrung: Zur Festivaleröffnung in einer grossen leergeräumten und abgedunkelten Halle der umgenutzten Schiffswerft Arsenale, ging das zahlreiche Publikum (darunter auch die Autorin), umgeben von Lautsprechern, extremen Klangveränderungen umherwandernd nach: die Instrumentalist:innen spielten auf einem Podest, als vibrierende Klangskulptur, oder sie bewegten sich mit den Zuhörenden. „GLIA ist  fast eine Klanginstallation, ein Teil des Stücks spielt sich in den Innenschwingungen im Ohr ab, nicht im Raum und es basiert nicht auf einer Partitur, sondern auf mündlichen Schilderungen damals Beteiligter: das fordert einen hohen kreativen Anteil von jedem Einzelnen der Interpreten“, sagt Vuille.

 

Maryanne Amacher, ‘GLIA’ am Eröffnungskonzert der Biennale Musica Venezia, Contrechamps, Arsenale 16.10.2023 © Gabrielle Weber

 

Zurück zu den Gaudibert-Miniaturen: sie finden sich nun auf einer der eingangs erwähnten neuen Vinyl-Schallplatten und markieren den Beginn der neuen Vinyl-Reihe Contrechamps/Speckled-Toshe, zusammen mit dem Lausanner Label Speckled-Toshe. „Die 22 Kompositionsaufträge von je einer Minute, das war eine immense Arbeit und es entstanden so vielfältige Werke, dass wir die Hommage mit einem bleibenden Objekt dieser neuen Generation beschliessen wollten. Die Schallplatte ist dafür das passendste Format: es gibt kaum etwas Besseres sowohl in Bezug auf die Aufnahme- und Übertragungsqualität, als aufs Objekt“.

 


Daniel Zeas, «Eric – Cara de Tigre» für Ensemble und Tonband, eine der 22 Miniaturen auf der neuen Vinyl-Schallplatte, Contrechamps / Speckled-Toshe 2023: Der Hintergrund: Gaudibert sei Zea im Traum kurz nach dessen Tod als lachender Tiger erschienen: er habe danach lange geweint zwischen Trauer und Freude.

 

Zum Vinyl-launch lud Contrechamps wieder zu einem speziellen Hörerlebnis ein: im les 6 toits , einem angesagten Genfer Kulturzentrum auf einer ehemaligen Industriebrache, konnte man sich ein Wochenende lang in Hörlounges die neuen Vinyl-Releases und eigene Lieblings-Schallplatten zu Ohr führen. Und mit einer Vernissage wurde auch das frisch veröffentlichte Contrechamps-Audioarchiv auf neo.mx3.ch gefeiert. Dazu gab’s live-aufgenommene oder -ausgestrahlte Radiosendungen auf RTS und SRF2Kultur rund ums Hören und qualitatives Aufnehmen zeitgenössischer Musik.

Wie Vinyl stehe die SRG-online-Plattform neo.mx3.ch für eine Art des Hörens und eine Sorgfalt der Produktion: „Beide sind darin verbunden, dass sie der zeitgenössischen Musik Visibilität und Dauer verleihen – durch sorgfältige Neueditionen und die Pflege von historischen Archiven“.

Auf der Plattform für das Schweizer zeitgenössische Musikschaffen finden sich auch zahlreiche selten gespielte Werke in ungewöhnlicher Besetzung, wie Michael Jarrells «Droben schmettert ein greller Stein» von 2001 für Kontrabass, Ensemble und Elektronik.

 


Contrechamps nahm Jarrells Stück 2005 im Radiostudio Ansermet unter der Leitung von George Benjamin auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Contrechamps lädt sukzessive sein gesamtes umfangreiches Radioarchiv hoch, zurückgehend bis 1986, den frühsten Aufnahmen. Es sei wichtig, dass solche Plattformen existierten und  geschätzt  würden. „Viele der Stücke sind sonst nirgends hörbar: das ist einzigartig“, sagt Serge Vuille.

Entdecken lässt sich auch zum Beispiel Feux von Caroline Charrière. Die 1960 in Fribourg geborene Komponistin Charrière verstarb früh, bereits 2018, und Contrechamps setzt sich für ihr Werk ein. Vuille ist es auch ein Anliegen, dem Schaffen von Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und zu einer ausgewogeneren Genderbalance in der zeitgenössischen Musik beizutragen.

 


Feux für Flöte, Klarinette, Marimba, und Streicher von Caroline Charrière, dirigiert von Kaziboni Vimbayi, führte Contrechamps 2019 in der Genfer Victoria Hall auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Am Eröffnungskonzert des diesjährigen Zürcher Festivals Sonic matter präsentiert Contrechamps neue Stücke von drei Komponistinnen aus dem Nahen Osten für kleines elektronisches Ensemble. Da kommen weitere Leidenschaften Vuilles zusammen: „Ich interessiere mich schon lange sehr für die Szene des Nahen Ostens. Sie ist in Bezug auf Kreation, insbesondere in allem, was mit Elektronik zu tun hat, sehr lebendig“, sagt Vuille. Dass Sonic Matter dieses Jahr mit dem Gastfestival Irtijal aus Bejrut kollaboriert, sei eine hervorragende Gelegenheit zur ersten Zusammenarbeit. Und sicherlich auch für einzigartige Hörerfahrungen.
Gabrielle Weber

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Sonic Matter: Becoming / Contrechamps 30.11.2023, 19h (Einführung 18h)
Biennale Musica Venezia, Maryanna Amacher, GLIA / Contrechamps, 16.10.2023
Genève, Les 6 toits: Contrechamps: Partage ton Vinyle!, 20-22.10.2023

Speckled-Toshe; Contrechamps/Speckled-Toshe:
1.Vinyl: 22 Miniatures en hommage à Éric Gaudibert
2.Vinyl: Benoit Moreau, Les mortes

Sonic matter, Nilufar Habibian, Irtijal, les 6 toits

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 18.10/21.10.23: Partage ton Vinyle! Ensemble Contrechamps Genève feiert das Hören, Redaktion Gabrielle Weber
neoblog, 7.12.22: Communiquer au-delà de la musique, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 19.6.2019: Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage, auteur Gabrielle Weber

Sendungen RTS:
L’écho des pavanes, 21.10.23: Aux 6 toits, enregistrer la musique contemporaine,  auteur: Benoît Perrier
Musique d‘avenir, 30.10.23, Partage ton Vinyle, ta cassette ou ta bande Revox!  auteur: Anne Gillot

Neo-Profile:
Contrechamps, Daniel Zea, Festival Sonic Matter, Benoit Moreau

 

 

Neue Energien: Klangkunst im Wallis

Die Biennale Son findet im Herbst 2023 zum ersten Mal statt. Mit Sion, Martigny und Sierre (und ein paar kleineren Spielorten etwas außerhalb) bespielt sie den französischsprachigen Teil des Wallis entlang der Rhône über sechs Wochen mit Klanginstallationen, Konzerten und Performances.

 

Friedemann Dupelius
Eisblau liegt auf 2.364 Metern Höhe der Lac des Dix. Seine Staumauer gilt mit 285 Metern als das höchste Bauwerk der Schweiz. Über Druckleitungen ist der Damm unter anderem mit dem Chandoline-Kraftwerk in Sion verbunden. Seit Juli 2013 fließt darin kein Wasser mehr hinab ins Rhône-Tal, die Rohre sind stillgelegt. Und doch knistert es weiter in dem modernistischen Bau, seiner Aura wegen. So stark, dass er ins Visier dreier Kuratoren geriet. Seit Mitte September ist das Kraftwerk nun die Zentrale der neuen Biennale Son. Hier erzeugen internationale Künstler:innen durch den Dialog ihrer Arbeiten mit der industriellen Architektur neue Energie. Und von hier aus versorgt die Biennale Son verschiedene Orte entlang der Rhône mit künstlerischem Strom.

 

(c) Olivier Lovey
Der Tessiner Architekt Daniele Buzzi entwarf 1934 das Kraftwerk “Chandoline”, das die Hauptausstellung der Biennale Son beherbergt.

 

Die Biennale Son präsentiert Kunstformen, die in der Romandie für gewöhnlich eher in Genf oder Lausanne stattfinden. Und doch gibt es auch hier eine Tradition und eine kleine Szene für experimentelle Musik. Seit den 90er-Jahren ist die Vereinigung Dolmen in der Region aktiv, daneben ist das etwas mehr am Pop orientierte Palp-Festival für Experimente bekannt.

 


Christian Marclay, Screenplay part 2, gespielt vom Ensemble Babel

 

Auch der klangaffine Bildende Künstler Christian Marclay kommt aus dem Wallis – genauso wie Luc Meier, Co-Kurator der Biennale Son, der sich darüber freut, dass er Marclay für die Erstausgabe des Festivals in der gemeinsamen Heimat gewinnen konnte. Der Exil-Schweizer ist mit zwei Arbeiten Teil der Hauptausstellung im Kraftwerk. Künstler:innen wie Christian Marclay sind Gründe dafür, warum die Biennale Son ins Leben gerufen wurde: „Seit langem befruchten sich Klang und Bildende Kunst gegenseitig“, sagt Luc Meier, „doch gerade in den letzten Jahren hat das nochmal deutlich zugenommen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durchlässiger. Das zeigt sich auch in Begriffen, die neuerdings in den Kunstdiskurs geschwappt sind: Man spricht etwa davon, sich auf andere, nicht-menschliche Lebensformen einzuschwingen oder mit der Umwelt zu resonieren.“

 

Die Basilique Valère auf dem südlichen Burghügel von Sion

 

Himmelblaue Rhône, spätgotische Orgel

Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und ihres Wandels ist bei einem Kunstfestival in solch einer Umgebung unvermeidbar. In Sion ist die Rhône noch himmelblau, wirkt frisch und gesund, malerisch eingebettet in die kantigen Gebirgszüge am Horizont. Doch machen sich klimatische Veränderungen auch hier bemerkbar. Der Rhône-Gletscher ist seit vielen Jahren im Rückgang begriffen. So mikrofonierte die kanadische Klangkünstlerin Crys Cole den Grande Dixence-Staudamm und brachte den tönenden Geist des Wassers wieder in das ansonsten spukend leere Kraftwerk zurück. Und auf organisatorischer Ebene versucht die Biennale Son, ihren eigenen ökologischen Fußabdruck in den Alpen möglichst gering zu halten. Sie hält Flugzeugreisen minimal und achtet auf möglichst geringen Stromverbrauch und Materialverschleiß.

Neben Stauseen und Bergen mit Gipfelkreuzen prägen Kirchen das Landschaftsbild im Wallis. „Es ist ein traditionell katholischer Kanton und religiöser als andere Orte in der Romandie“, weiß Luc Meier. In einigen der Kapellen und Basiliken fand die Biennale Son ihre Spielorte. Meier vergleicht sie mit dem Kraftwerk in Sion: „Ohne esoterisch klingen zu wollen, aber auch in diesen Kirchen gibt es eine Art von Energie, die sich transformieren lässt. So wie wir das Kraftwerk in Schwingung versetzen können, können wir auch diese Kirchen neu resonieren lassen.“ In der Sioner Basilique de Valère findet sich eine der ältesten Orgeln der Welt, fast 600 Jahre alt. Wenn das queere Duo Judith Hamann und James Rushford dieses Instrument spielen darf, wird die Floskel von der Transformation dringlich und greifbar. „Wer durfte hier bislang eintreten? Wer durfte hier Musik machen?“, fragt Luc Meier. „Welches Echo werden solche Performances haben? In den Bergen um uns, aber auch in den sozialen Räumen, die wir dabei schaffen?“

 

Die Schwalbennestorgel der Basilique de Valère wurde 1435 gebaut

 

Begegnungen im Rhône-Tal

Diese Orte der Begegnung sind tatsächlich erst im Entstehen begriffen. Das Team der Biennale Son verlässt sich auf ein allgemein kunst- und musikinteressiertes Schweizer Publikum, das den Weg in die Alpen nicht scheut. Zugleich sieht Luc Meier aber auch das Potenzial, ein lokales Publikum neugierig zu machen. Außerdem habe das kuratorische Team darauf geachtet, dass die Live-Performances an Freitagen und Samstagen stattfinden. In Locations wie Jazzclubs und Theatern treten nahmafte Künstler:innen wie Saâdane Afif, Félicia Atkinson, Alvin Curran, David Toop oder Kassel Jaeger auf. Und wer sich eingehender mit der Geschichte klangbasierter Kunst beschäftigen möchte, kann die Ausstellung der Sammlung FRAC Franche-Comté aus dem französischen Besançon in der Médiathèque Martigny besuchen.

 


Das Eklekto Geneva Percussion Center spielt Choeur Mixte für 15 snare drums (2018) von Alexandre Babel. Beide sind zu Gast bei der Biennale Son.

 

Und dann ist da noch die Hochschule Édhéa (École de design et haute école d’art du Valais). Im beschaulichen Sierre kann man mittlerweile einen künstlerischen Bachelor explizit im Bereich Klang studieren. Studierende und Alumni der Édhéa sind aktiv an der Biennale Son beteiligt, hinter den Kulissen und als Ausführende: Claire Frachebourg hat quer durch den Keller des Kraftwerks eine Skulptur gezogen, die an ein Boot oder eine Mumie erinnert. Den Soundtrack zum Objekt hat Frachebourg während einer Künstlerinnen-Residenz auf einem Boot aufgenommen, das von Island nach Grönland fuhr. Noch mehr klingendes Wasser, noch mehr Power fürs Kraftwerk, das endlich wieder tun darf, wofür es einst gebaut wurde: Energie erzeugen und verteilen.
Friedemann Dupelius

Biennale Son, 16.9.-29.10., Wallis
Der Podcast der Biennale Son führt ins Programm ein
Podcast bei Spotify

École de design et haute école d’art du Valais (Édhéa)Klangkunst-Sammlung; FRAC Franche ComtéWalliser Musik-Initiative DolmenFestival PalpClaire Frachebourg

neo-Profile:
Alexandre BabelEklektoFrançois BonnetEnsemble Babel

Klangwandern im Tessin auf den Spuren von Utopisten

Das Basellandschaftliche Neue Musik-Festival Rümlingen, das Tessiner Pendant la Via Lattea und die Associazione Olocene im Onsernonetal laden gemeinsam ins Tessin zu einem speziellen Klangwanderungs-Festival ein. Unter dem Motto Finisterre  kann man sich vom 28.7. bis zum 1.8., gemeinsam entlang symbolträchtiger Orte auf die Suche nach dem Ende der alten und einer besseren neuen Welt begeben: auf dem Monte Verità, der alten via delle Vose im Onsernonetal und auf den Brissago-Inseln.

Gabrielle Weber
Sich auf den Spuren vergangener Weltverbesserer mit Musik und Kunst in die Natur begeben: Dazu lädt das gemeinsame Festival an vier Tagen ein: Ausreichend Zeit also, um ausgehend von den gesellschaftlichen Utopien der natur- und körpernahen Kommune des Monte Verità alternative Lebensentwürfe zu entdecken. Sie werden durch zahlreiche internationale Kunstschaffende wie Isabel Mundry, Carola Baukholt, Jürg Kienberger, Mario Pagliarani oder der New Yorker Komponistin Du Yun und dem Norweger Trond Reinholdtsen in neuen, auf konkrete Orte, Visionen und Visionäre bezogenen Werken zum Leben erweckt.

 

“Het Geluid”  bei Proben auf dem Walkürefelsen / Monte Verità ©Johannes Rühl

 

Ausgangspunkt bildet der Monte Verità, ein Hügel oberhalb Asconas, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem magischen Ort für Zivilisationsfliehende und Sinnsuchende wurde. Zum Festivalauftakt wird er am ersten Tag bereits ab Sonnenaufgang mit neuen Werken und Installationen von Manos Tsangaris, Trond Reinholdtsen oder Lukas Berchtold bespielt.

Den “Berg der Wahrheit” erwarben 1900 der Sohn eines belgischen Industriellen mit seiner Geliebten, der Münchener Pianistin und Musiklehrerin Ida Hofmann. Auf dem anfangs 1,5 Hektar großen Stück Land realisierten sie ihren Traum eines naturnahen Lebens in klassenloser Freiheit, abseits von Industrialisierung, Kapitalismus und Materialismus. Zahlreiche namhafte Schriftsteller, Künstler:innen, Intellektuelle und Anarchisten aus ganz Europa und Übersee schlossen sich an, später Emigrant:innen der Weltkriege. 1913 folgte bspw. Rudolf Laban, Münchner Choreograf, und eröffnete seine wegweisende Tanzschule für Ausdruckstanz. Licht, Luft, Wasser und Sonne bildeten Elixier für eine Seele-Geist-Körper-Einheit, gelebt in Eurythmie, Feminismus, Gartenarbeit und Sonnenbad in luftigem Gewand oder freiem Körper.

Auch der 2005 verstorbene Schweizer Kurator Harald Szeemann, Leiter der Kasseler documenta5 1972,  fing Feuer und machte das Tessin ab den siebziger Jahren zu seiner Wahlheimat. Den Hügel bezeichnete er als «Ort an dem unsere Stirn den Himmel berührt..». Er sammelte alles was er dazu fand, und vereinte es 1978 in der Ausstellung «Monte verità – le mammelle della verità / die Brüste der Wahrheit». Sie tourte international, in Zürich, Berlin, München und Wien, und machte den Berg berühmt. Die 2017 wieder eröffnete Originalausstellung ist während des Festivals zugänglich. Die neuen Werke auf dem Berg lehnen sich an Ausdruckstanz, Naturverbundenheit und Wagnerverehrung der Kommune an.

 

“Het Geluid” bei Proben auf dem Walkürefelsen / Monte Verità ©Johannes Rühl

 

An den Folgetagen geht es auf Spuren weiterer historischer Tessiner Sinnsuchender.

La Via Lattea («Milchstrasse»), das Tessiner Kooperationsfestival, macht sich auf die Fährte des heiligen Brendan.  Der irische Mönch suchte gemäss mittelalterlichen Legende auf einer abenteuerlichen Schifffahrt mit weiteren fratres das irdische Paradies auf einer sagenumwobenen Insel. Das Festival mit dem klingenden Namen verbindet Theater mit Mitteln der Musik und Musik mit Mitteln des Theaters. Es ist im Mendrisiotto im Sottoceneri, südlich des Ceneri, beheimatet und bringt in der Regel historisch-kulturelle Orte um und auf dem Lago di Lugano, dem Ceresio, zum Klingen.

 

La Via Lattea 10, Argonauti 2013, Trailer

 

Dieses Jahr ist es erstmals in Locarno zu Gast und bespielt den Lagio Maggiore: ausgehend von einem Konzertspektakel in der romanischen Chiesa di San Vittore in Locarno Muralto und einem theatralen Spaziergang durch die Gassen von Muralto, unternimmt es Brendans Schiffsroute, begleitet von Musik. Ziel sind nächtlich-meditative Konzerte unter freiem Himmel auf denBrissago Inseln.

Dort ist u.a. die Uraufführung von Composizione per l’Isola di San Pancrazio ,, für verschiedene Gegenstände und 16 Spielende von Mario Pagliarani, Komponist und künstlerischer Leiter von La Via Lattea zu hören.

 


Mario Pagliarani, Debussy – Le jet d’eau, UA Lugano 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Die Täler rund um Locarno waren ab den sechziger Jahren bei Hyppie-Aussteigerkommunen beliebt. Im Onsernone-Tal, auf der alten Via delle Vose, begegnen den Besucher:innen historische Figuren in neuer Gestalt und werden historische Orte neu belebt. Isabel Mundry bspw. wählte für ihr neues Stück Niva-Engramme die kulturhistorisch aufgeladene Kapelle des Oratorio Giovanni Nepumoceno von Niva. Die Niva-Engramme basieren auf einer Motette von Claudio Monteverdi, die sie für Solo-Viola übersetzt und im Dialog mit dem Ort fragmentiert. Mundrys Wahl fiel auf die Kapelle und deren Einschreibung als faszinierendem Ort, an dem ein Visionär verschiedene Kulturen und Religionen im abgelegenen Tessiner Tal zusammenführte. Eine Vision, die ihr zeitgemässer scheint als die für sie – wenn auch –reizvolle Zivilisationsflucht des Monte Verità, wie Isabel Mundry im Gespräch für den neoblog erläutert.
Gabrielle Weber

 


«Komponieren als Form des Zuhörens», Audiointerview mit Isabel Mundry, exklusiv für den neoblog, 17.7.2023, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Sendungen SFR 2 Kultur:
MusikMagazin, 29.7.2023, Redaktion Lea Hagmann: Cafégespräch Mario Pagliarani mit Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, 20.9.2023: Festival Rümlingen im Tessin, Redaktion Gabrielle Weber

Neo-Profile:
Neue Musik RümlingenIsabel Mundry, Mario Pagliarani

 

Empathisches Spekulieren: Magda Drozd

Die Zürcher Klangkünstlerin und Musikerin Magda Drozd setzt sich in Beziehung zu den Klängen und Wesen ihrer Umwelt. Dabei arbeitet sie genauso erkenntnisgeleitet und reflektiert wie spekulativ und fantastisch. Im Frühjahr 2023 erschien ihr drittes Album „Viscera“. Derweil komponiert sie Musik für Theater und Hörspiel und tritt auch als Solo-Performin in experimentellen Soundkontexten zwischen den Szenen in Erscheinung.

Friedemann Dupelius
Welche Musik würde eine Aloe Vera hören? Wozu möchte der Gummibaum im Wohnzimmer tanzen? Wäre die Playlist des Kaktus auf dem Fenstersims gespickt mit Piek Time Hits? Darüber können wir nur spekulieren. Die Zürcherin Magda Drozd hat ein ganzes Album darüber geschrieben: „Songs for Plants“ erschien Ende 2019 auf dem Luzerner Label „Präsens Editionen“ und passte nur zu gut in die Zeit, in der gefühlt alle zu Heimgärtner:innen mutierten.

 

Für die Sound-Installation “Intra-Action / Traces” (2017) zapfte Magda Drozd 200 selbst gezüchtete Kakteen an und machte ihre Klänge hörbar.

 

Ausgangspunkt war ein Kunstprojekt, das für Magda Drozd zunächst darin bestand, 200 Kakteen zu züchten. Zwei Jahre später war eine Klanginstallation daraus gewachsen: „Intra-Action / Traces“. An der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) besuchte die Künstlerin das von Marcus Maeder initiierte „treelab“. Dort fand sie die technischen Behelfsmittel, um die Klänge unterschiedlichster Pflanzen hörbar zu machen. Eine feine Nadel nimmt die Bewegungen von Flüssigkeiten in den Kapillaren (quasi den Adern) der Pflanzen ab. Mehrere Verstärker und eine Software transponieren das Innere der Pflanze dann in den menschlichen Hörbereich. Je durstiger eine Pflanze ist, desto mehr Luftblasen bewegen sich in ihren Kapillaren und desto lauter sind ihre nun klickartigen Laute.

Klänge zwischen Kapillaren und Spiel

Magda Drozd interessierte sich nicht nur für die Bioakustik der Kakteen, sondern auch für ihre eigene Position als Mensch in Bezug auf diese so andersartigen Lebewesen. Dabei ist ihr klar, dass bereits der Schritt der Transponierung ein künstlicher Kniff ist. „Ich repräsentiere die Pflanzen nicht und versuche auch nicht, so gut wie möglich ihren Klang darzustellen. Es ist letztendlich ein Spiel mit dem Material.“

Magda Drozd · Weaving into shoresDie Klanginstallation „Weaving into shores“ kombiniert Aufnahmen vom Zürichsee mit Drones aus Synthesizern und von der Violine. Wie hören wir dem See zu? Was bedeutet er für uns?

Mit den fertigen Kaktus-Instrumenten trat Magda Drozd nun ins Spiel. Sie goss die Gewächse, hörte auf deren Reaktion und bezog auch die Klänge der Erde und Keramik, wenn sie diese berührte, mit ein. „Daraus entsteht erst mal ein Klangteppich. Ich arbeite dann viel mit Frequenzverschiebungen. Unterschiedliche Aufnahmen verändere ich so, dass man nur noch eine Frequenz hört. Dann lege ich Effekte darüber und langsam entsteht aus dem Material, das nur vermeintlich die Pflanze ist, Musik.“ Diese speist sich auch aus Rhythmen oder Melodien, die sich aus den Kapillar-Klängen erkennen lassen, und die Drozd mit Synthesizern oder ihrem Herzensinstrument – der Geige – weiterspinnt. Nicht ohne Grund heißt das resultierende Album dann auch „Songs for Plants“ und nicht „Songs by Plants“.


„Painkiller“ vom Album „Songs for Plants“

 

Magda Drozd wurde 1987 in Polen geboren, wuchs in München auf und zog 2011 nach Zürich, um Theater-Dramaturgie und später Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste zu studieren. Von Theater und Performance fand sie den Weg zur Klangkunst und der experimentellen Musik. Die verschiedenen Kunstformen und ihre Formate durchdringen und vermischen sich in ihren Arbeiten. Von 2019 bis 2021 war sie „Research Fellow“ an der ZhdK und beschäftigte sich mit Klang und Hören als Mittel der Wissensproduktion. In diese Zeit fiel auch die Arbeit an ihrem zweiten Album „18 Floors“. Der Titel bezieht sich auf das Lochergut-Hochhaus in Zürich, in dem die Künstlerin damals wohnte. Sie horchte das Gebäude und seine 18 Stockwerke in allen (ihr zugänglichen) Nischen und Winkeln ab und hielt viele Hörmomente in Fieldrecordings fest. Daraus ergaben sich Fragen wie: Was heißt urbanes Zusammenleben auf engstem Raum? Inwiefern kann man ein Wohngebäude als lebendigen Organismus verstehen? Welches Wissen kann aus genauem Hinhören an einem Ort generiert werden?“


„Dreamy Monster“ vom Album „18 Floors“

 

Hören zwischen Erkenntnis und Spekulation

„Wissen, das sich über Sound vermittelt, ist ein anderes Wissen als das, was wir für gewöhnlich gelten lassen. Es ist fragil, fluide und ephemer. Und es führte mich bald zur Spekulation. Ich habe ja nicht die Gespräche in diesem Haus aufgenommen, sondern seine harten Materialien.“ So ist „18 Floors“ zugleich die Dokumentation eines minutiösen, erkenntnisgeleiteten Hörprozesses – und die in Musik gefasste Spekulation über all die Geschichten, Wesen und geheimen Abläufe, die ein Betongebäude in sich birgt. „Mir ging es nicht darum, jeden Sound einer bestimmten Ecke oder Etage in dem Haus zuzuordnen. Ich habe vieles vermischt. Das ist für mich diese Spekulation: Es entsteht etwas Neues, das unsere Fantasie anregt: Okay, auch das kann ein Haus sein, auch so kann es klingen. Dabei geht es auch darum, durch das Hören empathisch zu werden, durch die Musik auch einen emotionalen Zugang zu einem möglichen Wissen zu bekommen.“ Zunächst sollte „18 Floors“ die Gestalt einer konzeptuellen Performance annehmen. Dass daraus ein Musikalbum wurde hat Magda Drozd der Klangkünstlerin und -forscherin Salomé Voegelin zu verdanken, mit der sie in engem Austausch stand.

 

2022 beschäftigten sich Magda Drozd und Salomé Voegelin in einer Performance mit dem Zürcher Kräutergarten von Conrad Gessner aus dem 16. Jahrhundert und unserer heutigen vieldeutigen Beziehung zu Heilpflanzen.

 

Mit ihren Arbeiten bewegt sich Magda Drozd in verschiedenen Disziplinen und Formaten: Soundinstallation, Theaterperformance, Hörspielmusik, Komposition, Forschung. „Ich bewege mich zwischen den Szenen und fühle mich da auch wohl. Das ist auch manchmal anstrengend, aber je länger ich aktiv bin, desto mehr wissen die Leute, was ich mache.“

Die Leute, die sie schon sehr lange kennen – namentlich ihre deutschen Freund:innen – sagen, Magda spräche mittlerweile in Schweizer Sprachmelodie. Das will sie so nicht stehen lassen – und auch im Gespräch mit ihr erkennt das am Süddeutschen geschulte Autorenohr nichts dergleichen. Aber vielleicht ist auch etwas dran: Zwischen und über all die herausfordernden, forschenden, schwebenden und schürfenden Soundpassagen schieben sich immer wieder Melodien – das ist selten genug in experimenteller, an Klangkunst orientierter Musik. „Ich habe keine Angst vor ein bisschen Kitsch oder emotionalen Momenten. Für mich spiegelt sich darin das Leben wieder: Es gibt Ecken und Kanten, und es gibt die runden Momente, in denen man sich von einer Melodie treiben lassen kann. Wenn ich dabei die Geige benutze ist es immer eine feine Gratwanderung, nicht zu pathetisch zu werden. Generell glaube ich, dass Melodien auch in experimenteller Musik wieder mehr im Trend liegen.“


Magda Drozd: Clipped Wings vom Album Viscera

Am Unverblümtesten hört man sie in Magda Drozds neuestem Album „Viscera“. Auch hier eröffnet der Titel wieder spekulative Räume. Musik für Eingeweide? Der Klang des Körpers? Oder vielleicht diesmal: „Songs for Humans“? Es darf weiter spekuliert werden.
Friedemann Dupelius

Konzerte & Performances
20.+23.06.23 – Musik für Charlotte Mathiessen: Der Boden ist verhältnismässig hart – ein performativer Spaziergang oder ein Protestmarsch (ZHdK Zürich)

08.07.23 – Musik für die Performance „Warp“ von Nicola Genovese (Fondazione Teatro, Lugano)

Mit Katja Brunner als Paula Rot (Spoken Word trifft auf Sound Scape):
24.06.23 – Sofalesungen, Basel
09.07.23 – 
Hinterhalt-Festival, Uster 

Solo-Konzerte
19.08.23 – Les Digitales, Luzern
25.08.23 – Natures of Pop Festival, ZHdK Zürich
09.09.23 – Les Digitales, Biel

Magda Drozd
Songs for Plants (Präsens Editionen, 2019)
18 Floors (Präsens Editionen, 2021)
Viscera (Präsens Editionen, 2023)

neo-Profile:
Magda Drozd

Freundlicher Komponist düsterer Geschichten

Der britische Komponist und Dirigent George Benjamin wurde 2023 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt. Seine schwärzeste Oper Lessons in Love and Violence dreht sich um das historische Männerpaar Edward II. und Piers Gaveston. Ab diesem Wochenende ist sie in einer Neuproduktion am Opernhaus Zürich zu sehen. Moritz Weber interviewte Benjamin vor der Premiere.

Moritz Weber
Der 63-jährige George Benjamin ist sehr gut gelaunt, scherzt und ist sehr freundlich, als ich ihn per Videokonferenz bei sich zuhause erreiche. Im Hintergrund zwitschern die Vögel, die Sonne scheint ihm ins Gesicht.

 

Portrait George Benjamin © Maurice Foxall / zVg Contrechamps

 

Die Opern, die er komponiert und für die er unter anderem berühmt ist, sind jedoch alles andere als freundlich. Im Gegenteil: In seinem ersten Welterfolg Written on skin (2012) serviert der betrogene Ehemann seiner Frau zum Schluss das Herz ihres Geliebten zum Essen. Und seine nächste abendfüllende und ebenso umjubelte Oper Lessons in Love and Violence (2018) ist ein fesselndes Mittelalter-Drama rund um den einstigen englischen König Edward II. und seinen Geliebten Gaveston, die beide Opfer eines Komplotts wurden.

Schon als Kind träumte Benjamin davon, Opern zu komponieren, und er erdachte sie für sich in seinem Kopf. Waren die Themen für diese Fantasieopern auch schon so brutal? «Ja, ich fürchte sie waren sehr brutal. Ich mochte dramatische und gefährliche Geschichten, und ich hatte als kleines Kind keine Angst vor Dunkelheit in der Kreativität». Seine ersten Lieblingsopern des Repertoires waren denn auch Wozzeck, Elektra, Salome und La damnation de Faust – mit Mozarts Zauberflöte konnte er nicht viel anfangen, und mit Rossini hat er bis heute Probleme. «Das war mir zu nett und zu wenig beängstigend».

Seine Inspiration damals war ein bebildertes Buch mit alten Mythen und Legenden, von Herkules und Pegasus bis zum Rattenfänger von Hameln (letztere Geschichte wurde schliesslich zum Stoff seines ersten Bühnenwerks, der kurzen Zwei-Personen-Kammeroper Into the little hill (2006). «Ich bin sehr für Fröhlichkeit und für Harmoni zwischen den Menschen, aber im Theater braucht es Spannung, Drama, Mysteriöses und möglicherweise auch Dunkles».

König Edward II. vernachlässigte sein Volk und seine politischen Geschäfte, er gab lieber Geld aus für Kunst und Musik und war Piers Gaveston vollkommen verfallen. Es war George Benjamin wichtig, einmal eine Oper mit einem homosexuellen Paar im Zentrum zu schreiben, «und die grösste Herausforderung war eine technische: Wie schreibt man in einer modernen Klangsprache für ein Paar von zwei Baritonen?»

Überhaupt gibt es in der Operngeschichte bislang kaum Vorbilder für Männer-Liebespaare, abgesehen etwa von den Opern Brokeback Mountain (Charles Wuorinen, 2014) oder Edward II (Andrea Lorenzo Scartazzini, 2017).

In diesen beiden Werken singen die Geliebten allerdings in den Stimmlagen Bariton und Tenor. Auf die Frage, ob er in die Komposition dieser Männerliebe auch Autobiographisches eingebracht habe antwortet Benjamin: «Das müssten sie meinen Partner Michael Waldman fragen, aber soweit ich weiss nicht. Das Leben heute in West-London ist aber auch viel friedvoller als damals in jenem Palast, wo die Oper spielt», sagt er und lacht.

Benjamin sind einige eindringliche Szenen zwischen Edward und Gaveston gelungen, in welchen sich Liebe und Gewalt teils auch vermischen. Zwei Handlese-Szenen etwa (Szenen 3 und 6), die eine Achse durch das ganze Stück bilden. Sie sind mit fast rituellen Klängen von Perkussionsinstrumenten aus aller Welt untermalt: Von zwei persischen Tombaks, einer afrikanischen Sprechtrommel und zwei karibischen Tumbas. Dazu kommt das mitteleuropäische Cymbalon, «denn meine Idee war es, dass Musik aus der ganzen Welt erklingt, während Gaveston aus der Hand des Königs liest. Es sollte wie ein Fenster zum Übernatürlichen sein.»

 

 

Eine weitere Schlüsselszene spielt sich kurz darauf im Theater ab. Dort lädt die betrogene Königin Isabel Edward und Gaveston zu einem «Entertainment» ein, zu einer Unterhaltung. Damit will sie den Putsch in die Wege leiten. Die Musik ist vielschichtig, denn das, was auf der Bühne gezeigt wird, soll sich von dem, was sich zwischen den Protagonist:innen abspielt, abheben und gleichzeitig damit harmonieren. Das Bühnenstück dreht sich um die alttestamentliche Liebesgeschichte zwischen David und Jonathan, ebenfalls ein Männerpaar, und Gaveston soll mit dieser Aufführung becirct werden. «Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um diese Szene zu schreiben: Im Theater auf dem Theater singen hohe Stimmen in einer eigenen Textur und Klangfarbe, hinzu kommt der versteckte Hass und das Unbehagen». Sie kulminieren schliesslich und Gaveston wird gegen den Willen des Königs verhaftet. Am Ende der Oper lädt schliesslich der Thronfolger seine Mutter Isabel zu einem Entertainment ein, in welchem er das Komplott gegen seinen Vater auf die Bühne bringt und ihren Komplizen und Geliebten ermorden lässt. Edwards Sohn hat also seine Lektionen in Liebe und Gewalt gelernt.

Auch für diese seine bisher finsterste Oper hat George Benjamin intensiv mit den Sänger:innen der Uraufführungsproduktion am Royal Opera House zusammen gearbeitet. «Sie alle kamen zu mir nach Hause, ich habe sie am Klavier in Liedern und Opernarien begleitet, ihnen viele Fragen zu ihren Stärken und Schwächen und zu ihren musikalischen Vorlieben gestellt». Die Rollen sind Stéphane Degout, Gyula Orendt und Barbara Hannigan auf den Leib geschrieben, aber selbstverständlich nicht ausschliesslich für sie. «Ich liebe es und bin gespannt, welche eigenen Timbres und Charakteristika andere Sänger:innen in diese Rollen einbringen. Es ist mir aber wichtig, dass sie alle Töne klar und am richtigen Platz singen, mit wenig Vibrato. Denn ich habe sie sehr sorgfältig auf die Orchesterklänge abgestimmt.»

 

George Benjamin, Martin Crimp und Barbara Hannigan im Gespräch zur Uraufführung von Lessons in love and violence im Royal Opera House 2018

 

Das Libretto stammt wie auch bei seinen anderen Bühnenwerken vom Dramatiker Martin Crimp. Wenn er ihn nicht getroffen hätte, hätte er wahrscheinlich nie eine Oper komponiert, sagt Benjamin, «ich wartete 25 Jahre um ihn zu finden. Alle Versuche mit anderen Librettisten scheiterten». Nun sind sie ein eingespieltes, kongeniales Team, vielleicht ähnlich wie einst Da Ponte und Mozart, Hofmannsthal und Strauss. Denn auch Crimp und Benjamin verbinden gemeinsame ästhetische Prämissen: Eine sehr klare und konzise (Ton-)Sprache sowie Kraft – oder Gewalt – im Ausdruck. «Er setzt die Worte sehr genau und intendiert; er ist ein Perfektionist, so wie ich es beim Komponieren auch zu sein versuche», sagt der Siemens-Musikpreisträger bescheiden.

 

Märchenhaftere neue Oper

George Benjamins viertes Bühnenwerk wird diesen Sommer am Opernfestival in Aix-en-Provence uraufgeführt, er selbst wird dirigieren. Picture a day like this wird weniger dunkel sein als Lessons, verrät er: «Martin Crimp und ich wollten etwas anderes machen, auch um uns selbst zu erfrischen. Diese Oper ist kürzer und auch kleiner besetzt, fünf Protagonist:innen anstatt acht, im Orchester 22 anstatt 70 Musizierende».

 

Hier geht es um eine Suche: Eine Frau verliert ihr Kind und soll an einem einzigen Tag eine Person finden, die vollkommen glücklich ist. Als ihr das nicht gelingt, wendet sie sich an eine Zauberin. «Ich liebe Instrumente, die eigentlich nicht zum klassischen Orchester gehören, und verwende auch in Picture a day like this ein paar davon, zum Beispiel Tenor- und Bassblockflöten.» In dieser neuen und auch kürzeren Oper ist die Protagonistin die ganze Zeit auf der Bühne, was ebenfalls ein Novum ist für Benjamin und Crimp. Die Personen, welchen sie begegnet, sind hingegen ganz unterschiedlich charakterisiert. Mehr verrät er noch nicht: «Mir wäre es lieber, wenn das Publikum das ohne meine Worte entdecken würde».
Moritz Weber

 

Portrait George Benjamin © Rui Camilo zVg. EvS. Musikstiftung

 

Opern George Benjamins:
Into the little hill (2006), Written on skin (2012)

George Benjamin, Charles Wuorinen, Stéphane Degout, Barbara Hannigan, Martin Crimp

Partituransicht Lessons in Love and Violence bei Faber Music

Neuproduktion Opernhaus Zürich: 21.Mai -11.Juni 2023 (musikalische Leitung Ilan Volkov, mit: Ivan Ludlow/Lauri Vasar als König, Björn Bürger als Gaveston und Jeanine De Bique als Isabel.

Festival Aix-en-Provence, George Benjamin, Picture a day like this, UA 5.-.23.Juli 2023

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 17.5.23, 20h/ 20.5.23., 21h: Drama um den schwulen Edward II. George Benjamins düsterste Oper, Redaktion Moritz Weber.
Musikmagazin, 20./21.5.2023: Kurzportrait George Benjamin, Redaktion Moritz Weber.

Neo-Profile:
Contrechamps, Opernaus Zürich, George Benjamin, Andrea Lorenzo Scartazzini

 

 

Verzerrte Erinnerungen, konkrete Missionen

Soyuz21, fünfköpfiges Ensemble aus Zürich, experimentiert seit seiner Gründung 2011 an der Schnittstelle von Instrumentalklang mit Elektronik und spartenübergreifenden Konzertformaten. Das neue Projekt mit Stücken von Martin Jaggi und Bernhard Lang richtet sich gleichermassen an Musikfans und Cinéasten. Mit Mats Scheidegger, E-Gitarrist und Ensembleleiter, und Martin Jaggi sprach Friedemann Dupelius.

Friedemann Dupelius
Am 6. Juli 1976 starte die sowjetische Mission Sojus 21 ihre Reise zur Raumstation Saljut 5. Mit der Crew stiegen gleich mehrere Forschungsvorhaben an Bord: Guppys (wie würden sie sich im All verhalten?), diverse Pflanzen (können sie dort draußen keimen?) und Kristalle (warum auch nicht?). Außerdem sollte Sojus 21 die Erde mit Infrarot-Teleskop, Handspektrograf, Farb- sowie Schwarzweiß-Film aus der Distanz aufzeichnen – und zugleich die Sonne beobachten. Die Nachrichtenverbindung über Satelliten wurde genauso untersucht wie die selbstständige Navigation der Station. Und vielleicht könnte sie ja sogar von militärischem Nutzen sein? Nach nur 49 Tagen ging es zurück Richtung Erde, man munkelte von Heimweh seitens der Crew.

Die Hauptbesatzung von Sojus 21 auf einer sowjetischen Briefmarke (1976) – Public domain via Wikimedia Commons, Uploader: Aklyuch at wikipedia.ru

Auch wenn das Zürcher Ensemble Soyuz 21 weder mit Guppys, Pflanzen oder Kristallen operiert, noch Interesse an kriegerischen Kontexten hat, finden sich doch Parallelen zur Namenscousine: Beiden geht es um Autonomie und Kommunikation, um Beobachtung und Experimente. Den Stolz jedoch, die Ideen hinter der Namensgebung entschlüsselt zu haben, trübt Mats Scheidegger schnell: Sein 2011 gegründetes Ensemble habe mit dieser speziellen Mission nichts zu tun. Es gehe zunächst mal um den russischen Begriff „Sojus“, der Gefährte bedeutet. Der Raumfahrt-Bezug fungiere ganz allgemein als Symbol für die Neugier darauf, künstlerische Entdeckungen zu machen. Und die 21? „Die steht für das 21. Jahrhundert! Wie originell!“, lacht Mats Scheidegger selbstironisch.

 


Yulan Yu: In den Dünen (2022), uraufgeführt von Soyuz 21 am 26.11.2022 im Ackermannshof Basel


Die Raumsonde dokumentiert Vielfalt

Aber Recht hat er. Mit seinem künstlerischen Ansatz verortet sich Soyuz 21 fest in diesem Jahrhundert. Das fünfköpfige Ensemble – gefunden hat es sich „aus musikalischen Gründen, aus dem Spielen heraus“ – bringt regelmäßig neue Kompositionen zur Uraufführung. Enge Verbindungen pflegt es u.a. zu den österreichischen Komponisten Klaus Lang und Bernhard Lang, aber auch zur jungen Generation Schweizer Komponistinnen und Komponisten. Drei Jahre lang bestand eine Kooperation mit dem Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) an der Zürcher Hochschule der Künste, dessen Studierende Stücke für Soyuz entwickelten. Ästhetisch herrscht bei Soyuz 21 die Vielfalt, die auch eine fotografisch ausgestattete Raumsonde dokumentieren würde. Für Improvisation ist genauso Platz wie für Elektronik, den Plattenspieler als Instrument oder die Kinoleinwand als künstlerisches Element. „Bei den Tasteninstrumenten haben wir uns weg vom Klavier, hin zu elektronischen Klängen bewegt“, erzählt Mats Scheidegger. „Da hast du einfach viel mehr Möglichkeiten. Ein Klavier ist halt immer ein Klavier, auch wenn es immer noch tolle Stücke dafür gibt.“ Auch sein eigenes Instrument erweitert der Gitarrist mit allen Regeln und Reglern der Technologie.

 

Soyuz 21 beim Projekt “Spielhölle” im Flipperclub Regio Basel © Guillaume Musset

 

Neben Scheidegger gehören derzeit Philipp Meier (Tasten), Sascha Armbruster (Saxofon), Isaï Angst (Sound Design & Elektronik) und João Pacheco (Percussion) zu Soyuz 21, immer wieder stoßen auch Gastmusiker*innen hinzu, zum Beispiel Sound-Designer Nicolas Buzzi. Viele seiner Projekte setzt das Ensemble in seiner eigenen Konzertreihe um, die zumeist Halt in Basel und Zürich macht. „Wir machen uns viele Gedanken über neue Konzertformate“, sagt Mats Scheidegger. „Es gibt einen gewissen Publikumsverlust seit der Wiederöffnung der Kulturstätten. Manchmal hilft schon ein Konzerttitel oder ein Plakat, das die Leute anspringt – wie beim Konzert Schwimmkörper.“

 

Konzertplakat “Schwimmkörper” (Foto: Mats Scheidegger)

 

Das Reisen kompensiert Zeitvergeudung

Und manchmal lockt das Format selbst. Am 13. Mai soll das Publikum ins Kino strömen, egal ob Musikfan oder Cineastin. Im Zürcher Filmpodium bringt das Projekt „Constructed Memories“ zeitgenössische Musik und Film gleichberechtigt zusammen. Und da sind wir wieder zurück bei Sojus 21, der Sonde von 1976. Auch für „Constructed Memories“ haben sich zwei Gefährten zusammengetan. Auch sie haben die Welt beobachtet und mit der Kamera festgehalten, in Farbe und in Schwarzweiß. Und auch hier müssen die alten Aufnahmen aus der Distanz interpretiert werden – aus räumlicher, aber auch zeitlicher. 1999 reisten der Komponist Martin Jaggi und der Videokünstler Adrian Kelterborn durch Malawi. Damit wollten sie die Zeitvergeudung durch den Pflichtdienst beim Schweizer Militär kompensieren. 2004 folgte eine Reise durch Westafrika, genauer: Ghana, Togo und Benin. Während Kelterborn den zweiten Trip mit seiner Digitalkamera festhielt, speicherte Jaggi viele musikalische Erinnerungen: „Auf beiden Reisen sind wir an viele Konzerte gegangen. In Accra haben wir mit einem Orchester Musik gemacht, da wurde Händel gespielt.“ Auch das in Ghana entstandene Genre Highlife, ein Vorgänger des Afrobeat, spielt eine Rolle in Martin Jaggis Reisegedächtnis.

 

Martin Jaggi und Adrian Kelterborn produzierten „Constructed Memories“ bereits als Video, online erschienen auf der Webseite von Soyuz 21.

 

Aus diesem Mix aus technisch und neurologisch festgehaltenem Erinnerungen erarbeiteten Jaggi und Kelterborn die zwei Teile des audiovisuellen Stücks „Constructed Memories“. Rund 20 Jahre nach den beiden Reisen stellten die Schulfreunde fest, wie unterschiedlich und wie verzerrt ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit waren. „Das war eine richtig archäologische Ausgrabung“, erinnert sich Jaggi. „Es ging uns aber weniger darum, spezifische Erinnerungen zu vertonen. Vielmehr rekonstruieren wir gewisse Daseinszustände, die wir mit den unterschiedlichen Orten verbinden.“

Dass ein Lockdown in die Produktionsphase fiel, verstärkte das Moment der Verfremdung und Re-Konstruktion der Gedächtnisschnipsel noch mehr. „Wir konnten nicht direkt zusammen arbeiten. Ich saß in Singapur fest, Adrian war in der Schweiz. Also habe ich zuerst die Musik komponiert und Adrian die Stimmungsmomente genau beschrieben. Er hat die Musik dann bebildert, ohne dass sie zuvor von Instrumenten gespielt werden konnte.“ Das Ergebnis ist ein dynamisches Mit- und In- und manchmal auch Gegeneinander von Musik und Film. Die Bilder sind körnig und pixelig, sie wabern und fließen. Die Töne zerren und schleifen, verschmelzen und überblenden mit der visuellen Ebene, um sich dann wieder von ihr zu lösen. Dabei floss sicher auch der Bewusstseinszustand der pandemischen Zeit mit ein. „Eine Reise nimmt in der Erinnerung ja einen viel größeren Platz ein als dieselbe Zeitspanne, wenn man sie zu Hause verbringt. Noch extremer ist das mit der Covid-Zeit. Wenn zwei Jahre lang jeder Tag dem andern gleicht, werden auch keine Erinnerungen gespeichert – oder nur eine“, lacht Martin Jaggi.

 


Teil 2 von „Constructed Memories“. Das Video-Material entstammt der Speicherkarte von Adrian Kelterborns Digitalkamera anno 2004.

 

Die beiden Videomusiken (oder Musikvideos) ergänzt ein Stück aus Bernhard Langs „DW“-Reihe (die Nummer 16), in der er seine popmusikalische Sozialisation musikalisch verarbeitet. Auch dabei geht es um Erinnerung und ihre verschobene Wahrnehmung im Heute. Musikalisch lassen sich diese Einflüsse wiederum in der Zeit verorten, in der Sojus 21 ins Weltall schwirrte – wir erinnern uns.
Friedemann Dupelius

Konzerte:
Martin Jaggi & Adrian Kelterborn (“Constructed Memories”) + Bernhard Lang (“DW 16”)
Sa, 13.5., 20:45: Konzertpodium im Filmpodium Zürich
So, 14.5., 20:00: Kulturmühle Horw (Luzern)


Soyuz 21Martin Jaggi, Adrian Kelterborn, Bernhard Lang, Klaus Lang, Isaï Angst, João Pacheco, Nicolas Buzzi

neo-Profile:
Soyuz 21, Martin Jaggi, Sarah Maria Sun, Mats Scheidegger, Philipp Meier, Julien Mégroz, Nicolas BuzziMusikpodium der Stadt Zürich, Forum Neue Musik Luzern

20 Jahre Konus Quartett

Dem Saxophon jeden möglichen Ton entlocken – das ist das Metier des Konus Quartetts. Die vier Musiker sind spezialisiert auf zeitgenössische und experimentelle Musik und zeigen im Ensemble einen grossen Reichtum an neuen Saxophon-Klangwelten. Dieses Jahr feiert das Konus Quartett sein 20. Jubiläum mit einer Festivalwoche voller Kollaborationen – zum Beispiel mit dem Gori Frauenchor aus Georgien.

Florence Baeriswyl
Viele Saxophonquartetts wollen möglichst virtuos und voll klingen, am ehesten wie eine Orgel. Nicht das Konus Quartett: es spielt präzis und minimalistisch und erforscht dabei die Grenzen der Saxophonmusik. Christian Kobi, Fabio Oehrli, Stefan Rolli und Jonas Tschanz: das sind die Namen hinter dem Konus Quartett, welches dieses Jahr sein 20. Jubiläum feiert. Die vier Musiker sind breit gefächert und haben Hintergründe, die von freier Improvisation, über Tonmischung und Label-Führung bis zur Big Band- und Festivalleitung reichen. Alle vier teilen die Leidenschaft für das Saxophon und eine musikalische Experimentierfreudigkeit.

 

Konus Quartett: Von links nach rechts: Christian Kobi, Fabio Oehrli, Stefan Rolli, Jonas Tschanz © Livio Baumgartner

 

Minimalismus und Präzision

Christian Kobi beispielsweise hat auch schon mit der Stille des Saxophons Musik erzeugt. Dafür montierte er Mikrophone ganz dicht am Blasrohr und nahm die Resonanz im Inneren des Instruments auf, ohne hineinzublasen. Die so aufgenommene Stille verstärkte er, bis es zu einer Rückkopplung kam. Das Ergebnis ist ein anhaltender, unscheinbarer Ton, der sich einfach überhören lässt, wenn man sich nicht darauf achtet.

 


Christian Kobi lässt in rawlines 1 durch Rückkopplung von Resonanzen im Saxophoninneren Stille zu Klang werden.

 

Modular und zukunftsgewandt

Während ein traditionelles Saxophonquartett aus den vier Hauptinstrumenten der Saxophonfamilie besteht – Bariton, Tenor, Alt und Sopran – setzt sich das Konus Quartett modular zusammen und bleibt in der Besetzung flexibel. Je nach Stück spielen sie in der traditionellen Besetzung, aber manchmal auch mit zwei Altsaxophonen, einem Tenor- und einem Baritonsaxophon, oder sogar mit zwei Tenor- und zwei Baritonsaxophonen.

Diese Flexibilität suchen die vier Saxophonisten auch, wenn sie Kompositionen in Auftrag geben. Sie arbeiten vor allem mit Komponist:innen zusammen, die sich vertieft mit Klang auseinandersetzten und sich nicht von traditionellen Erwartungen an Saxophonquartette einschränken lassen. Unter den Stücken, die sie aufführen, finden sich Kompositionen von wichtigen Namen der internationalen Szene der zeitgenössischen Musik wie Chiyoko Szlavnics, Jürg Frey, Barry Guy, Makiko Nishikaze, Phill Niblock, Urs Peter Schneider, Martin Brandlmayr oder Klaus Lang.

 

FORWARD & REWIND: Ein Fest für neue Musik

Zur Feier seines 20. Jubiläums veranstaltet das Konus Quartett mit Titel Foward & Rewind in Bern ein Festivalwochenende. Forward & Rewind ist wörtlich gemeint: die vier Saxophonisten nehmen vergangene Kollaborationen erneut auf und streben neue an, sie zeigen sich zugleich reflektiert und zukunftsgewandt.

Eine dieser bereits vorhandenen Kollaborationen ist beispielsweise die mit dem Streichquartett Quatuor Bozzini. Im Jahr 2021 brachte das Konus Quartett mit ihnen das Stück Continuité, fragilité, resonance vom Schweizer Komponisten Jürg Frey zur Uraufführung. Am Eröffnungskonzert greifen die Musiker:innen des Konus Quartetts und des Quatuor Bozzini dieses Stück nochmal auf, zusammen mit einem Stück der Komponistin Chiyoko Szlavnics. Dabei lassen sich die Musiker:innen viel Zeit und Raum – und entfalten geduldig und präzise die verschiedenen Klangflächen, die in den Kompositionen verborgen sind.


During a Lifetime (Ausschnitt): Das Konus Quartett interpretiert ein Stück der kanadischen Komponistin Chiyoko Szlavnics.

 

Kraftvolle Stimmen aus Georgien

Eine neue Kollaboration erfolgt mit dem renommierten georgischen Gori Frauenchor, welcher seit 1970 den traditionellen georgischen Chorgesang auf Bühnen bringt. Diese polyphone Gesangstechnik ist hunderte von Jahren alt und entfernt verwandt mit dem uns bekannten Jodeln. Sie zeichnet sich besonders durch die fast physisch spürbare Kraft in der Stimme aus. Die Frauen singen teilweise einstimmig, teilweise mikrotonal aufgefächert, und vermischen dabei Harmonie und Dissonanz.

Seit 2013 wird der Chor von Teona Tsiramuna geleitet und hat sich gewissermassen neu erfunden. Der Leiterin ist es sehr wichtig, stets Neues zu entdecken und die gesangliche Tradition mit modernen und internationalen Musiken zu kombinieren. «1970 sang der Chor für eine bestimmte, ziemlich homogene Hörerschaft. Es wurde vor allem schwermütige und getragene georgische Musik aufgeführt. Jetzt hat sich das ausgeweitet. Wir singen auch mexikanische, türkische oder afrikanische Volksmusik», so Tsiramuna im Interview für SRF 2 Kultur.

Besonders nach einer Kollaboration mit der georgisch-britischen Pop- und Blues-Sängerin Katie Melua gewann der Gori Frauenchor über die Grenzen Georgiens hinaus an Bekanntheit und tritt nun auf europäischen Bühnen in verschiedenen Konstellationen an. Die Experimentierfreudigkeit zieht die Dirigentin auch zu Kollaborationen mit zeitgenössischen Musiker:innen, bspw. an den Stanser Musiktagen.

 

An den Stanser Musiktagen 2022 traten die Frauen zusammen mit vier jungen elektronischen Künstler:innen auf und verschmolzen Stimme mit Synthesizer-Klängen.

 

«Air Vibrations»

Air vibrations, die Kollaboration des Konus Quartetts mit dem Gori Frauenchor lässt sich einerseits als «Luftschwingungen» übersetzen, andererseits auch als «Liedschwingungen», vom italienischen «aria». Zum Schwingen bringt der Gori Frauenchor seine Stimmen zusammen mit zwei weiteren grossen Namen der zeitgenössischen Musik: die georgisch-schweizerische Pianistin Tamriko Kordzaia und der österreichische Komponist und Konzertorganist Klaus Lang.

 

Die neue Kollaboration knüpft an die erste Zusammenarbeit zwischen Klaus Lang und dem Konus Quartett, dem Stück Drei Allmenden, an.

 

Lang hat das Konzert konzipiert und komponiert und spielt auch an der Orgel mit. Seine Werke zeichnen sich durch die Weise aus, wie der den Klang erforscht. Musik ist «hörbar gemachte Zeit», so Lang. Auf seinem Instrument, der Konzertorgel, lässt sich diese Seite des Klangs besonders gut erkunden, da man die Töne beliebig lange halten kann.

Im Konzert Air Vibrations verwebt Lang dieses Orgelspiel mit den Saxophonen des Konus Quartetts und den Klaviertönen von Tamriko Kordzaia. Zusammen legen sie den Boden für den traditionelle Gesang des Gori Frauenchors. Dadurch entsteht Musik, die Altes und Neues vermischt, und somit voll und ganz im Sinne des Festivals steht: Forward & Rewind.
Florence Baeriswyl

 

Konus Quartett © Livio Baumgartner

 

FORWARD & REWIND Bern
3.5.23, 18:30: Konzert «Continuité, fragilité, resonance» von Jürg Frey, mit Quator Bozzini, les Concerts de musique Contemporaine (CMC) La Chaux-de-Fonds
5.5.-7.5.23: Fest für neue Musik , Bern
5.5. 19:30: Interlaced Resonances, Aula PROGR Bern
6.5. 19:30: Voltage Cracklings, Aula PROGR Bern
7.5. 19:30: Air Vibrations, Kirche St Peter & Paul Bern

Weiteres Konzert: Moods Zürich
8.5.23, 20:30:  «Air Vibrations»

Fabio Oehrli, Jonas TschanzChiyoko Szlavnics, Barry Guy, Makiko Nishikaze, Phill Niblock, Martin Brandlmayr, Klaus Lang, Quatuor Bozzini

Sendung SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 19.7.2023: Konzert Konus Quartett und Gori Women’s Choir, Bern: Air vibrations
Neue Musik im Konzert, 12.1.22: Jürg Frey: Stehende Schwärme
Musik unserer Zeit
, 13.11.13: «zoom in» – der Saxophonist und Veranstalter Christian Kobi
Online-Artikel, 13.11.13: Das Rauschen des Nichts: Der Saxophonist Christian Kobi
Musik unserer Zeit, 17.07.2019: Saxophonzauber mit dem Konus Quartett
Musikmagazin, 21.5.22: Chorleiterin Teona Tsiramua: «Wir singen nicht nur Wiegenlieder»


Neo-profile:
Konus Quartett, Tamriko Kordzaia, Christian Kobi, Jürg FreyUrs Peter Schneider, Jonas Tschanz

Durch Musik eins werden mit der Natur

Toshio Hosokawa ist der bekannteste japanische Komponist und diese Saison Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Hosokawa verbindet in seiner Tonsprache die westliche neue Musik mit traditioneller japanischer Musik. Moritz Weber unterhielt sich mit dem Komponisten.

 

Moritz Weber
Vor drei Jahren komponierte Toshio Hosokawa im Auftrag des Pianisten Rudolf Buchbinder eine Variation über den berühmten Walzer von Diabelli in C-Dur, über welchen einst Beethoven seine monumentalen 33 Veränderungen komponiert hatte. «Ich liebe Klavierklänge», sagt Hosokawa im Gespräch, «aber in diesem Walzer hat es sehr viele Töne». Seine Variation klingt denn auch wie in Zeitlupe, er lässt einzelnen Tönen viel Zeit, um sich zu entfalten. Wegen des langsamen Tempos sei das Stück typisch für ihn, sagt der japanische Komponist, und sogar die tonalen Elemente passten zu seiner Musiksprache, denn in den letzten 2 bis 3 Jahren habe er sich wieder mehr für tonale Musik interessiert, «und ich möchte in Zukunft auch tonale Musik komponieren.»

 

Über das Studium in Deutschland zur traditionellen japanischen Musik

Zu seiner eigenen Klangsprache, die fernöstliche und westliche Ästhetik verbindet, fand er über einen Umweg. «Meine Familie war sehr japanisch», sagt er. Mit einem Ikebana-Meister als Grossvater, der auch Nō-Gesang und die Teezermonie liebte, und einer Mutter, die immer Koto spielte, war ihm das dann doch etwas «zu viel». Für ihn waren die traditionellen japanischen Künste damals altmodisch, «langweilig» gar.

Da er sich als Klavierstudent insbesondere für das klassisch-romantische Repertoire begeisterte, wie für die späten Klaviersonaten von Beethoven, ging Hosokawa nach Deutschland, um bei Isang Yun (in Berlin) und Klaus Huber (in Freiburg i. B.) Komposition zu studieren.

 


Klaus Huber, Kompositionsprofessor von Toshio Hosokawa mit seinem fernöstlich inspirierten Stück Plainte – Lieber spaltet mein Herz, Contrechamps 2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Am Meta-Musikfestival im Berlin der 1970er-Jahre wurde neue Musik aus Europa mit traditioneller Musik aus aller Welt kombiniert. György Ligeti mit indonesischer Gamelanmusik, Karlheinz Stockhausens Mantra mit Tempelmusik aus Japan. Dort hörte und erlebte Hosokawa von Europa aus die Musik seiner Heimat ganz anders und entdeckte ihre Schönheit. Gemischt mit Heimweh und dank der Ermunterung seiner Lehrer begann Hosokawa in seinem Stil die fernöstliche Klangsprache und Philosophie mit der europäischen zu verschmelzen.

 

Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik

Ein wichtiger Unterschied zwischen europäischer und japanischer Musik sei, dass letztere keine absolute Musik sei, sondern immer als Atmosphäre oder Hintergrund für bestimmte Ereignisse wie Zeremonien oder Tänze. Sie sei an einen Ort gebunden. Die europäische Musik hingegen sei eine Architektur, die an den unterschiedlichsten Orten gespielt werden könne, so wie man eine Skulptur oder ein Gemälde irgendwo hin transportieren kann, so Hosokawa.

 

Portrait Toshio Hosokawa © KazIshikawa zVg. Tonhalle-Orchester Zürich

 

«In der japanischen Musiktradition ist der Einzelton sehr wichtig. Ich sage immer, unsere Musik sei eine Kaligraphie in Zeit und Raum, und eine musikalische Linie ist wie ein Pinselstrich, mit Anfang und Ende». Die Töne seien vertikale Ereignisse, wie ein kalligraphischer Pinselstrich auf einem weissen Papier. Ganz im Gegensatz zu den zu Motiven verbundenen Tongruppen der westlichen Musik, z.B. das berühmte «ta-ta-ta-taaaaaa» aus Beethovens 5. Sinfonie, singt Hosokawa vor.

 

Nō-Theater und Gagaku-Musik

«In den Stücken des traditionellen japanischen Nō-Theaters aus dem 12. oder 13. Jahrhundert geht es um Seelenheilung, und dieser Gedanke ist auch sehr wichtig für mich», sagt Hosokawa: «Die Verstorbenen kommen zurück, erzählen vom Jenseits, heilen ihre Seelen durch Tanz und Gesang und kehren dann zurück ins Reich der Toten». Musikalisch ist der «Kalligraphie-Gesang» prägend, wie auch das Schlagzeug: Heftige Schläge, welche die Zeit quasi vertikal durchschneiden. Es werden nicht grosse horizontale Räume eröffnet, sondern die Impulse sind für sich selbst Ereignisse. Darauf weise er auch immer hin, wenn er mit Musiker:innen an seinen Stücken arbeite, wie diese Saison als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. «Diese heftigen vertikalen Einschnitte, sie sind stärker als normale Einsätze, auch die plötzlichen Änderungen in der Dynamik. Ich sage immer: Denken sie beim Spielen, sie malen eine Kalligraphie. Denken sie nicht zu formal, sondern dass jeder Moment ein wichtigster Moment ist, jeder Moment eine Ewigkeit.»

 

 


Toshio Hosokawa, Ferne Landschaft III – Seascapes of Fukuyama (1996), Basel Sinfonietta, Dirigent Baldur Brönnimann 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hosokawa gefallen auch die mikrotonalen Färbungen, welche bei der Gestaltung von Tönen im Nō-Theater wichtig sind. «Um die Zentraltöne herum gibt es immer kleine Veränderungen, und diese möchte ich hören, denn sie machen die Töne lebendig». Auch hier singt er im Interview einen langgezogenen Ton vor und zeichnet dazu mit der Hand in der Luft den Tonverlauf nach.

 

Der Mutterakkord der Shô

Die etwa 500 Jahre ältere und ursprünglich aus China und Korea stammende japanischen Gagaku-Musik ist eine zeremonielle Hofmusik. Der Klang der japanischen Mundorgel Shô ist hier omnipräsent. Er symbolisiert im Hintergrund die Ewigkeit, während darüber Melodieinstrumente wie Hichiriki oder die Drachenflöte Ryūteki klangliche Kalligraphien «zeichnen».

Mit der Shô sei es auch möglich, den Atem und kreisende Zeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Hosokawa nennt das den «Mutterakkord», und er hat diverse Stücke für oder mit Shô geschrieben. Auch diese Kreisläufe seien für ihn sehr wichtig, wie auch der Gedanke, dass Gagaku eher eine kosmische Musik ist als eine menschlich-emotionale.

 

Naturkatastrophen als Opernstoff

Toshio Hosokawa ist mit seiner einzigartigen Tonsprache und seinen Kompositionen in allen Gattungen weltberühmt geworden. Viele seiner Werke drehen sich um Naturkatastrophen wie um das verheerende Tohoku-Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima. «Mein Ziel ist es, durch Musik und durchs Komponieren eins zu werden mit der Natur. Eigentlich ist die japanische Natur sehr schön mit ihren Jahreszeiten, aber sie ist nicht immer freundlich zu den Menschen. Diese Tatsache habe ich erfahren als der Tsunami kam, und ich begann, ganz anders über Natur nachzudenken. Mit meiner vierten Oper Stilles Meer wollte ich ein Klagelied für die Opfer dieses einschneidenden Ereignisses oder ein Requiem für die Toten schreiben.» Nicht nur die Urgewalt hat Hosokawa darin auskomponiert, sondern die schrecklichen Bilder des Verlusts, wie Kinderschuhe oder Spielzeug, welche in den Überschwemmungsgebieten treiben.

 


Toshio Hosokawa, die Oper Stilles Meer ist für Toshio Hosokawa ein Klagelied an die Opfer des Tsunami von 2011, UA Staatsoper Hamburg 2016

 

 

Momentan komponiert Hosokawa seine sechste Oper, auch sie wird sich wieder um Naturkatastrophen drehen. Eine junges Paar, ein Japaner und ein Flüchtling aus der Ukraine, besucht darin verwüstete Orte, verschiedene «Höllen» im Sinne von Dantes Inferno, wo sie die Auswirkungen der Naturkatastrophen sehen, so Hosokawa. Die Oper soll in der Spielzeit 2025/26 uraufgeführt werden.

 

Innere und äussere Ruhe

Um seine innere Ruhe zu finden, geht Hosokawa gerne in den Wald oder ans Meer in der Nähe seines Wohnortes in Nagano. Er meditiert auch täglich, still sitzend und nichts tuend für ein paar Minuten. Eine Kraftquelle für seine kontemplative Zustandsmusik, welche durchsetzt ist von eruptiven Ausbrüchen.

Seine Musik soll auch für das Publikum ein Ort der Kontemplation sein, ein Ort des Gebets. «In Japan gibt es sehr viele geschnitzte Holzstatuen von anonymen Künstler:innen, bei welchen die Menschen beten. Ich möchte, dass meine Musik eine ähnliche Bedeutung hat. Sie kann die Menschen vielleicht nicht retten, aber irgendwie schützen.»

Die Spiritualität spielt auch in seinen jüngsten Werken eine Rolle: Ceremony für Flöte und Orchester (UA 2022) und Prayer für Violine und Orchester (UA 2023).

 

Das Soloinstrument sei auch in diesen beiden Stücken wie ein Schamane, ein Vermittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits, so Hosokawa, er empfange und höre die Urkraft Ki (気). «Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Komponieren, nicht als ein Ausdruck eines Menschen oder seines Egos, sondern als Empfangen von dem, was schon da ist; die Urkraft der Klänge, den bald lieblichen, bald dramatischen Fluss der Töne. «Das Orchester repräsentiert dabei die Natur. Diese ist also in und um das Soloinstrument bzw. den Schamanen. Er kommuniziert mit ihr, trägt Konflikte aus, und soll zum Schluss zu einer Harmonie mit ihr findet».

Hosokawa sieht sich als ein Vertoner dieser Urkraft, und sagt: «auch ich möchte ein Schamane werden» – wenn er es nicht schon ist.

Wenn er mit Orchestern oder Musiker:innen seine Werke einstudiert, wie jetzt während seiner Zeit als Creative Chair des Tonhalle Orchesters Zürich, sei es vor allem das Zeitgefühl, woran man manchmal etwas mehr arbeiten müsse.
Moritz Weber

Tonhalle-Orchester Zürich: Toshio Hosokawa, Creative Chair, Saison 2022/23
Konzerte: Sonntag, 26.3. Kammermusik
Mittwoch, 29.3.23: Meditation to the victims of Tsunami für Orchester.

 

Rudolf Buchbinder, Isang Yun, Klaus Huber, Shô, Hichiriki, Ryūteki, Gamelan, Karlheinz Stockhausen, Gagaku, György Ligeti, Koto, Metamusikfestival Berlin

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 22.3.23, 20h, 25.3.23, 21h: Musikschamane und Vertoner der Urkraft, Autor Moritz Weber

Neo-Profile:
Toshio Hosokawa, Tonhalle-Orchester Zürich, Klaus Huber

 

Grösstmögliche Freiheit – Ligetis Atmosphères neu interpretiert

«Tuns contemporans», Biennale für Neue Musik Graubünden, findet vom 29.3. bis zum 2.4. zum dritten Mal statt. Mit Motto «100 Jahre Ligeti» beleuchtet es den wegweisenden Komponisten auch aus heutiger Sicht. Atmosphères, Ligetis monumentales Orchesterwerk bekannt aus Kubriks «Space Odyssee 2001», kommt im Theater Chur als raumumspannende Klanginstallation zur Neuinterpretation. Ein Gespräch mit Martina Mutzner, Initiatorin und künstlerische Leiterin des Projekts.

 

28. Mai 2023: 100. Geburtstag György Ligeti

Gyoergy Ligeti, Februar 1992 Stadttheater Bern ©Alessandro della Valle

 

Gabrielle Weber
Wenn ein Schlüsselwerk der musikalischen Avantgarde unerwartet grosse Verbreitung fand, dann sicherlich Atmosphères von György Ligeti. Stanley Kubriks Weltraumepos «Space Odyssee 2001» von 1968 trug dazu bei, dass Ligetis eindrückliches Orchesterwerk, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 1961, weltweit berühmt ist: im Film begleitet es eine fast zehnminütige Kamerafahrt durch abstrakt-verfliessende Weltraum-Farbfelder, die zum Fortschrittlichsten gehören, was 1968 an Kamera- und Tricktechnik möglich war. Oder war es umgekehrt: begleitet das Bild die Musik?

 

Klangfarbenflächenkomposition

 

Atmosphères, Ligetis mikropolyphones 87-stimmiges Orchesterwerk verschaffte ihm bereits davor in Fachkreisen den grossen Durchbruch. Sein neuer kompositorischer Ansatz, bei dem Klangfarben und -flächen strukturelle Elemente ablösen, wurde mit Begeisterung aufgenommen: bei der Uraufführung in Donaueschingen wurde es auf Wunsch des Publikums gleich zweimal gespielt. Mit Kubrik hingegen stand Ligeti jahrelang im Rechtsstreit, da dieser Atmosphèreszunächst ohne den Komponisten anzufragen und ohne ihn zu entgelten verwendete.

 


György Ligeti, Atmosphères, Sinfonieorchester Basel, 2015, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Das Churer Vermittlungsprojekt nimmt die Idee des Komponierens mit Klangfarbenflächen wie auch den Bekanntheitsgrad des Werks zum Ausgangspunkt. In einer immersiven partizipativen Konzert-klanginstallation ersteht Ligetis Atmosphères neu, interpretiert durch 81 Stimmgruppen: über ein halbes Jahr entwickelten Schulklassen, semiprofessionelle Musiker:innen und Laien, die Mitglieder zwischen 7 und 77 Jahren alt, ihre eigenen Klangflächen. In Workshops, begleitet von Musiker:innen des Churer ensemble ö! und der Kammerphilharmonie Graubünden, entstanden so die einzelnen Schichten eines grossen Gesamtklangs.

In diesen kann man nun während des ganzen Festivals im Innenbereich des Theaters Chur, übertragen über ein Lautsprechersystem und eingebettet in eine Lichtszenografie à la Kubrik, eintauchen.

 

Apparitions für Orchester (1958/59) ist eines der ersten Werke, in denen György Ligeti mit Klangflächen komponierte, Aufnahme mit der Basel Sinfonietta unter Johannes Kalitzke, 2003, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ligetis Idee der grösstmöglichen kompositorischen Freiheit habe den Ausschlag zur Wahl dieses Vermittlungsprojekts gegeben, so Martina Mutzner, die Projektverantwortliche.

«György Ligeti hat mit Atmosphères ein Stück geschrieben, das sich gegen die damals gängigen Kompositionsdogmen wendete. Atmosphères steht stellvertretend für einen freigeistigen Umgang mit künstlerischem Material und im übertragenen Sinne auch mit dem Menschen“. Es gebe kein richtig oder falsch. Deshalb sei es so geeignet für ein partizipatives Projekt mit Laien-Musiker:innen.

 

Inventarisieren und Botanisieren

Sie seien einen „umgekehrten Weg gegangen“. Zuerst hätten sie, inspiriert von Atmosphères, improvisiert, Klänge entwickelt und aufgezeichnet. «Wir sammelten die Klangflächen. Es war wie ein Inventarisieren oder Botanisieren“, meint Mutzner. David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter der Biennale, erstellte dann aus den Einspielungen Partituren für Instrumentalparts. Flöten-, Harfen- und Streichergruppen ergänzen nun die vokalen und geräuschhaften Klangflächen zu den vorgegebenen 87-Stimmen Ligetis.

Entstanden ist eine kompositorische Assoziation zu Ligetis Klangflächenkomposition im weitesten Sinne, und damit etwas komplett Neues: dies passe zum Konzept der Biennale mit Ligeti im Zentrum, der mit Mentorinnen und Schülerinnen in Beziehung gesetzt werde. An den vier grossen Konzerten im Theater Chur stehen u.a. Werke von Béla Bartók und Sándor Veress, Komponisten die Ligeti prägten, aber auch von Detlef Müller-Siemens, Michael Jarrell oder Alberto Posadas, die er wiederum prägte, sowie Uraufführungen im Dialog mit Ligetis Oeuvre.

 

Michael Jarrell, music for a while pour orchestre 1995, ensemble contrechamps, Dirigent Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ihre Leidenschaft für Neue Musik und deren Vermittlung bringt Mutzner ins Projekt ein: „Atmosphères wählten wir auch, da es durch Stanley Kubricks Space Odyssey Eingang in die Populärkultur gefunden hat. Viele Leute haben es schon gehört, aber wissen nicht, was es ist.“ Von den Mitwirkenden und auch den Ensembleleitenden, hätten einige noch kaum mit zeitgenössischer Musik zu tun gehabt. „Die Aufnahmen klangen schlussendlich so, als würden sie regelmässig in einem Ensemble für zeitgenössische Musik proben. Die Musizierenden waren in diesem vielbeschworenen Flow, und das überträgt sich auf die Zuhörenden“, so Mutzner.

Konsequente Öffnung von Neuer Musik

Die konsequente Öffnung von Neuer Musik für ein breiteres Publikum ist generelles Anliegen der Churer Biennale. Fanden die Konzerte pandemiebedingt 2021 nur online statt, so wird auch diese Ausgabe gesamthaft online live-gestreamt. Zudem setzt sich die «tuns contemporans» auch nachhaltig für eine ausgewogenere Gendermischung im Klassikbetrieb und für eine Erneuerung des Orchesterrepertoires ein: 2021 fand erstmals ein «Call for Scores for ladies only!» statt, aus dem drei Uraufführungen von Komponistinnen hervorgingen. Auch diese Ausgabe kommen drei neue Stücke zur Uraufführung. Gewählt wurden aus 78 eingereichten Werken Los tiempos del alma für kleines Ensemble der kürzlich verstorbenen jungen argentinischen Komponistin Patricia Martinez (*1973-2022), von Areum Lee (*1989) aus Korea leer für grosses Ensemble und la via isoscele della sera für Streichorchester der Italienerin Caterina di Cecca (*1984).

 

Oscar Bianchi, Contingency für Ensemble (2017), aufgezeichnet mit dem Ensemble der Lucerne Festival Alumni, dirigiert von Baldur Brönnimann, 2020, Eigenproduktion SRG SSR.

 

Die Zusammenarbeit mit dem Orchestra della Svizzera Italiana im Konzert am Samstagabend – u.a. kommt von Oscar Bianchi Exordium von 2015 zur Aufführung – und die Verpflichtung von Mario Venzago als Gastdirigent oder das Abschlusskonzert mit dem Ensemble Vocal Origen, im roten Turm zuoberst auf dem Julierpass, garantieren dieser dritten Festivalausgabe Synergien und eine Öffnung der Neuen Musik über das Lokale hinaus.
Gabrielle Weber

 

Roter Turm auf dem Julierpass © Benjamin Hofer

 

Tuns contemporans – Biennale für Neue Musik Graubünden 2023
Atmosphères: partizipatives generationenübergreifendes Konzertprojekt: Teilnehmende –Profimusiker*innen, passionierte semiprofessionelle Musiker*innen, Musikschüler*innen und begeisterte Laien

 

György Ligeti, Detlev Müller-Siemens, Alberto Posadas, Béla Bartók, Sándor Veress, Origen Festival Cultural, Mario Venzago, Caterina di Cecca, Areum Lee, Patricia Martinez, Martina Mutzner: Musiksalon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 24.5.2023: György Ligeti 100: Autor Michael Kunkel
neoblog, 7.4.2021: tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
György Ligeti, tuns contemporans, Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Oscar Bianchi, Michael Jarrell, Ensemble Vocal Origen