Cathy van Eck: Die transzendierte Rolle eines Konzertstücks

Cathy van Eck, Komponistin und Medienkünstlerin, prägt die Schweizer und internationale zeitgenössische Musikszene mit ihren subtilen und hochästhetischen Klangperformances. Ihr Stück In the Woods of Golden Resonances für Schlagzeugsolo nahm innerhalb eines Konzertabends für Schlagzeugsolo eine spezielle Rolle ein. Ein Portrait von Alexandre Babel.

Alexandre Babel
Das Motto klingt wie eine Einladung: mit dem Titel Aufbau/Abbbau kuratierte der spanische Perkussionist Miguel Angel Garcia Martin in der Reihe Friendly Takeover der Gare du Nord in Basel einen Konzertabend der ganz dem Schlagzeugsolo gewidmet war. Sechs Uraufführungen sollten die logistische Realität des professionellen Schlagzeugers durchleuchten. Denn Auf- und Abbaus des Instrumentariums für ein Konzert nehmen in der Regel oft fast ebenso viel Raum und Bedeutung ein, wie der musikalische Moment selbst. Auch wenn das Thema des Abends auf den ersten Blick anekdotisch wirkt, war es in diesem Fall die Grundlage für eine verzweigte Fragestellung, die sich alle eingeladenen Mitwirkenden mit der Schaffung eines neuen Werkes zu eigen machten. Cathy van Ecks In the Woods of Golden Resonances ist dafür ein verbindendes Beispiel.

 

Portrait Cathy van Eck zVg. Cathy van Eck.

 

In the Woods of Golden Resonances zeigt den Schlagzeuger Miguel Angel Garcia Martin im Zentrum der Bühne, in relativer Dunkelheit mit einer roten Stirnlampe, so dass das Publikum nur seine verdunkelte Silhouette erkennt. Mit langsamen und kontrollierten Bewegungen geht er zu einem Becken, das in einer Ecke der Bühne auf dem Boden liegt, hebt es an und hält es dann auf Mundhöhe in horizontaler Position. Ein deutlicher, verstärkter Atemton zeigt, dass der Performer ein Mikrofon trägt und auf das Instrument bläst, als würde er versuchen, den Staub von ihm zu entfernen. Dieser Ton wird offensichtlich elektronisch verarbeitet, und die Wiedergabe über die Lautsprecher macht den Großteil der Klangumgebung aus. “Durch das Pusten wird das ‚Volume‘ der beiden Lautsprecher im Raum höher, und es entsteht ein akustischer Feedback -Klang. Das ganze Stück besteht aus solchen Feedback-Klängen, als würde Miguel den Raum ‚beatmen‘ meint dazu Cathy van Eck.

Anschließend geht er zu einem Metallständer, auf den er sein Instrument legt. Diese einfache, aber sorgfältig choreografierte Handlung wird mit weiteren im Raum versteckten Becken mehrmals wiederholt. Es ermöglicht dem Publikum den schrittweisen und ritualisierten Aufbau einer Perkussionsinstallation auf der Bühne zu beobachten.

In Cathy van Ecks Werken steht der Musikerkörper oft im Zentrum. Die Holländerin Van Eck doktorierte an der Universität Leiden. Sie publiziert und forscht unter anderen über mögliche Verbindungen zwischen Gesten, Sensoren und Klängen und unterrichtet am Sound Arts Department der Hochschule der Künste in Bern. „Auch in In the Woods of Golden Resonances gibt es eine ziemlich starke Beziehung zwischen den Bewegungen des Performers und seinem Material. Seine Bewegungen sind nicht als eine Geste des ‚Nach aussen Zeigens‘ gemeint, mit der Bedeutung ‚ich kontrolliere den Klang‘, sondern eher als ein vorsichtiges Suchen und Wahrnehmen. Deswegen hat Miguel in dem Stück auch eine andere Haltung auf der Bühne als in den andern Stücken des Abends”, so van Eck.

 

Cathy van Eck, In the Woods of Golden Resonances, Miguel Angel Garcia Martin, UA gare du Nord Basel, 9.4.2024.

 

Die Stärke von In the Woods of Golden Resonances liegt in der repetitiven, schlichten formalen Anlage. Das Stück dient dazu, von einem Zustand A zu einem Zustand B zu gelangen und endet, sobald die Installation fertiggestellt ist. Die Partitur von Cathy van Eck sieht nicht vor, dass auf den Becken gespielt wird, wenn sie einmal aufgebaut sind. Stattdessen dienen sie als Aufbau für ein weiteres Stück des Programms, Cymbals von Barblina Meierhans. Van Ecks Stück übersetzt damit nicht nur das Thema des Konzerts genau, sondern knüpft in sich auch eine konkrete Verbindung zum nächsten Element des Abends.

Der Moment der Installation, der Bühnenumbau, bildet das eigentliche Stück. Und während man normalerweise versucht, Dauer und Bedeutung des Umbaus zu reduzieren, um den musikalischen Fluss zu gewährleisten, macht In the Woods of Golden Resonances genau das Gegenteil: es nutzt diesen Zwischenraum zwischen zwei Zuständen für einen Moment der Introspektion in die Intimsphäre des Musikers. Van Ecks ästhetische Entscheidungen, wie die verträumte Atmosphäre, die durch das Halbdunkel erzeugt wird, oder der sinnliche Eindruck, den die Verstärkung der Atemgeräusche des Musikers hinterlässt, unterstreichen diese Introspektion.

Die Wirkung des Werks liegt darin, die technische Realität des Schlagzeugers mit seinem Instrumentarium auf poetische Weise heraufzubeschwören und sie gleichzeitig mit seiner Umweltrealität zu verbinden. Dabei wird auch die räumliche Dimension des Konzertraums betont. Dazu Cathy van Eck: “Die Klängen entstehen aus einem Zusammenspiel zwischen der genauen Position im Raum von Miguel, von den Becken und von den Lautsprechern, und dann natürlich auch mit der Raumakustik.”

Van Eck geht jedoch noch einen Schritt weiter: sie lädt das Publikum ein, sich als Teil des Prozesses zu fühlen: Klangeffekte wie die elektronische Bearbeitung mit hoher Lautstärke schaffen einen immersiven Eindruck, und das eigentliche ‚Ballett‘ des Schlagzeugers vermittelt dem Publikum die Illusion, es sei Teil des Prozesses. Und schließlich ‚neutralisiert‘ sie die Figur des Schlagzeugers durch den Lichteffekt auf eine einfache Silhouette, mit der sich jede:r im Publikum identifizieren kann. Van Eck erklärt dazu: “In diesem Fall war das Licht eine Entscheidung des Schlagzeugers Miguel, der mit mir und der Regie zusammengearbeitet hat. Ich kann mir dieses Stück auch gut in einer helleren Umgebung vorstellen. Für mich hängt es sehr vom Raum ab, wie das Licht gestaltet wird.

In the Woods of Golden Resonances ist Teil einer Reihe von aufeinanderfolgenden und differenzierten Werken Es unterwandert innerhalb der Reihe die üblichen Erwartungen an ein Konzertstück, während es gleichzeitig seinen primären Code respektiert. Die Klangbehandlung ist so interessant, dass es sich auch gut einfach nur ‚hören‘ lässt.

In Frage gestellt wird aber die Rolle des einzelnen Werks resp. seiner Schöpferin oder seines Schöpfers zugunsten einer Einheit, die eine Verbindung zwischen den Elementen schafft. Mir stellt sich die Frage, ob die Notwendigkeit der Kreation nicht darin liegt, dass sie von einem Zustand in einen anderen überführt?
Alexandre Babel

 

Alexandre Babel stammt aus Genf und lebt in Berlin. Komponist, Perkussionist, Kurator und Publizist, schliesst er sich mit diesem Text dem Team der neoblogger:innen an.

Neo-profiles :
Cathy van Eck, Gare du Nord, Alexandre Babel, Barblina Meierhans

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 29.01.2014: Grünes Rauschen – Klangkunst mit Cathy van Eck, Redaktion Cécile Olshausen.
Onlinetext, 28.01.2014Bei Cathy van Eck klingt Gewöhnliches ungewöhnlich, Autorin Cécile Olshausen.
Musik unserer Zeit, 16.6.2021: Alexandre Babel: Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber.
neoblog, 10.09.2021un projet est avant tout une rencontre.., Autorin Gabrielle Weber.

Contrechamps Genève feiert das Hören

Ensemble Contrechamps Genève startete eine dichte Saison mit zahlreichen Highlights. Das Programm ist exemplarisch für die neue Ausrichtung des wichtigsten Genfer Ensemble für zeitgenössische Musik unter der künstlerischen Leitung des Perkussionisten Serge Vuille. Er übernahm Contrechamps vor fünf Jahren und hat die Ensemble-DNA seither radikal neu geprägt. Serge Vuille im Gespräch:

 

Portrait Serge Vuille © Serge Vuille

 

Gabrielle Weber
Contrechamps bespielt den grossen Konzertsaal der Victoria Hall in Genf, es eröffnet die Festivals Biennale Musica Venezia oder Sonic Matter Zürich oder es lädt ganz einfach – ohne Konzert – zu einem Vinyl- und neo.mx3.ch-Release-Hörwochenende in Genf ein. Die unterschiedlichen Veranstaltungen sind charakteristisch für die neue Ausrichtung des traditionsreichen Ensembles unter Serge Vuille.

„Contrechamps sucht ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Musik-Praktiken“, sagt Vuille. Da sind einerseits Konzerte mit Instrumentalmusik für grosses Ensemble, oft verbunden mit Komponistenpersönlichkeiten und der jungen Szene der Romandie, andererseits Projekte in Verbindung mit anderen Sparten und Musikgenres, in Kombination mit Visuellem und Performativem, Elektronik, Pop oder Jazz. Und immer geht es Vuille auch um ganz spezielle Hörerlebnisse.

Für Ersteres stand anfangs Saison beispielsweise ein Konzert zum 65. Geburtstag des Genfer Komponisten Michael Jarrell, ein „traditionelles“, dirigiertes Konzert für große Ensembles in der Victoria Hall. Contrechamps gab dazu sieben neue kurze Stücke an seine Studierenden in Auftrag. „Damit unterstützen und fördern wir die regionale Kreationsszene, das ist uns ein wichtiges Anliegen“, sagt Vuille.

Ende 2022 veranstaltete es bereits eine Hommage an Éric Gaudibert, vor zehn Jahren verstorbener Lausanner Komponist, der die Szene wesentlich prägte. Dabei führte es nebst Gaudibert 22 neue Stücke ehemaliger Studierender auf, Miniaturen von je nur zirka einer Minute Dauer, in ganz unterschiedlicher, frei gewählter Besetzung.

 


Éric Gaudibert, Skript, pour vibraphone et ensemble, Contrechamps, Bâtiment des Forces Motrices de Genève, Concours de Genève, 2009, Eigenproduktion SRG/SSR

 

In einem ganz anderen Kontext und Setting, zur Eröffnung der Biennale Musica Venezia, zeigte Contrechamps GLIA für Instrumente und Elektronik, ein Werk der 2009 verstorbenen US- Elektropionieren und Klangkünstlerin Maryanne Amacher aus dem Jahr 2005. An Amachers Schaffen interessiert Vuille auch der Aspekt spezieller gemeinsamer Hörerfahrung: Zur Festivaleröffnung in einer grossen leergeräumten und abgedunkelten Halle der umgenutzten Schiffswerft Arsenale, ging das zahlreiche Publikum (darunter auch die Autorin), umgeben von Lautsprechern, extremen Klangveränderungen umherwandernd nach: die Instrumentalist:innen spielten auf einem Podest, als vibrierende Klangskulptur, oder sie bewegten sich mit den Zuhörenden. „GLIA ist  fast eine Klanginstallation, ein Teil des Stücks spielt sich in den Innenschwingungen im Ohr ab, nicht im Raum und es basiert nicht auf einer Partitur, sondern auf mündlichen Schilderungen damals Beteiligter: das fordert einen hohen kreativen Anteil von jedem Einzelnen der Interpreten“, sagt Vuille.

 

Maryanne Amacher, ‘GLIA’ am Eröffnungskonzert der Biennale Musica Venezia, Contrechamps, Arsenale 16.10.2023 © Gabrielle Weber

 

Zurück zu den Gaudibert-Miniaturen: sie finden sich nun auf einer der eingangs erwähnten neuen Vinyl-Schallplatten und markieren den Beginn der neuen Vinyl-Reihe Contrechamps/Speckled-Toshe, zusammen mit dem Lausanner Label Speckled-Toshe. „Die 22 Kompositionsaufträge von je einer Minute, das war eine immense Arbeit und es entstanden so vielfältige Werke, dass wir die Hommage mit einem bleibenden Objekt dieser neuen Generation beschliessen wollten. Die Schallplatte ist dafür das passendste Format: es gibt kaum etwas Besseres sowohl in Bezug auf die Aufnahme- und Übertragungsqualität, als aufs Objekt“.

 


Daniel Zeas, «Eric – Cara de Tigre» für Ensemble und Tonband, eine der 22 Miniaturen auf der neuen Vinyl-Schallplatte, Contrechamps / Speckled-Toshe 2023: Der Hintergrund: Gaudibert sei Zea im Traum kurz nach dessen Tod als lachender Tiger erschienen: er habe danach lange geweint zwischen Trauer und Freude.

 

Zum Vinyl-launch lud Contrechamps wieder zu einem speziellen Hörerlebnis ein: im les 6 toits , einem angesagten Genfer Kulturzentrum auf einer ehemaligen Industriebrache, konnte man sich ein Wochenende lang in Hörlounges die neuen Vinyl-Releases und eigene Lieblings-Schallplatten zu Ohr führen. Und mit einer Vernissage wurde auch das frisch veröffentlichte Contrechamps-Audioarchiv auf neo.mx3.ch gefeiert. Dazu gab’s live-aufgenommene oder -ausgestrahlte Radiosendungen auf RTS und SRF2Kultur rund ums Hören und qualitatives Aufnehmen zeitgenössischer Musik.

Wie Vinyl stehe die SRG-online-Plattform neo.mx3.ch für eine Art des Hörens und eine Sorgfalt der Produktion: „Beide sind darin verbunden, dass sie der zeitgenössischen Musik Visibilität und Dauer verleihen – durch sorgfältige Neueditionen und die Pflege von historischen Archiven“.

Auf der Plattform für das Schweizer zeitgenössische Musikschaffen finden sich auch zahlreiche selten gespielte Werke in ungewöhnlicher Besetzung, wie Michael Jarrells «Droben schmettert ein greller Stein» von 2001 für Kontrabass, Ensemble und Elektronik.

 


Contrechamps nahm Jarrells Stück 2005 im Radiostudio Ansermet unter der Leitung von George Benjamin auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Contrechamps lädt sukzessive sein gesamtes umfangreiches Radioarchiv hoch, zurückgehend bis 1986, den frühsten Aufnahmen. Es sei wichtig, dass solche Plattformen existierten und  geschätzt  würden. „Viele der Stücke sind sonst nirgends hörbar: das ist einzigartig“, sagt Serge Vuille.

Entdecken lässt sich auch zum Beispiel Feux von Caroline Charrière. Die 1960 in Fribourg geborene Komponistin Charrière verstarb früh, bereits 2018, und Contrechamps setzt sich für ihr Werk ein. Vuille ist es auch ein Anliegen, dem Schaffen von Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und zu einer ausgewogeneren Genderbalance in der zeitgenössischen Musik beizutragen.

 


Feux für Flöte, Klarinette, Marimba, und Streicher von Caroline Charrière, dirigiert von Kaziboni Vimbayi, führte Contrechamps 2019 in der Genfer Victoria Hall auf, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Am Eröffnungskonzert des diesjährigen Zürcher Festivals Sonic matter präsentiert Contrechamps neue Stücke von drei Komponistinnen aus dem Nahen Osten für kleines elektronisches Ensemble. Da kommen weitere Leidenschaften Vuilles zusammen: „Ich interessiere mich schon lange sehr für die Szene des Nahen Ostens. Sie ist in Bezug auf Kreation, insbesondere in allem, was mit Elektronik zu tun hat, sehr lebendig“, sagt Vuille. Dass Sonic Matter dieses Jahr mit dem Gastfestival Irtijal aus Bejrut kollaboriert, sei eine hervorragende Gelegenheit zur ersten Zusammenarbeit. Und sicherlich auch für einzigartige Hörerfahrungen.
Gabrielle Weber

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Sonic Matter: Becoming / Contrechamps 30.11.2023, 19h (Einführung 18h)
Biennale Musica Venezia, Maryanna Amacher, GLIA / Contrechamps, 16.10.2023
Genève, Les 6 toits: Contrechamps: Partage ton Vinyle!, 20-22.10.2023

Speckled-Toshe; Contrechamps/Speckled-Toshe:
1.Vinyl: 22 Miniatures en hommage à Éric Gaudibert
2.Vinyl: Benoit Moreau, Les mortes

Sonic matter, Nilufar Habibian, Irtijal, les 6 toits

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 18.10/21.10.23: Partage ton Vinyle! Ensemble Contrechamps Genève feiert das Hören, Redaktion Gabrielle Weber
neoblog, 7.12.22: Communiquer au-delà de la musique, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 19.6.2019: Ensemble Contrechamps Genève – Expérimentation et héritage, auteur Gabrielle Weber

Sendungen RTS:
L’écho des pavanes, 21.10.23: Aux 6 toits, enregistrer la musique contemporaine,  auteur: Benoît Perrier
Musique d‘avenir, 30.10.23, Partage ton Vinyle, ta cassette ou ta bande Revox!  auteur: Anne Gillot

Neo-Profile:
Contrechamps, Daniel Zea, Festival Sonic Matter, Benoit Moreau

 

 

Von Wechselklängen und Fokussierungen

Marcus Weiss, Basler Saxofonvirtuose, verschreibt sich wie kein anderer der zeitgenössischen Musik. Eben ist eine CD mit vier ihm auf den Leib geschriebenen Werken für Orchester und Solosaxofon erschienen.

Peter Révai
Marcus Weiss, der herausragende Saxofonvirtuose der europäischen Neuen Musikszene, hat beim Label Wergo mit «SAX – contemporary concertos for saphone» eine CD mit exemplarischen zeitgenössischen konzertanten Solowerken mustergültig eingespielt und dieser Tage veröffentlicht. Darunter finden sich so unterschiedliche Werke wie Focus, Konzert für Saxofon und Orchester, des ungarischen Altmeisters Peter Eötvös aus dem Jahre 2021, und Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas von 2008. Alle eingespielten Werke wurden von Weiss uraufgeführt und durften bereits mehrere Aufführungen mit unterschiedlichen Orchestern erleben. Mitverantwortlicher dieser Werksammlung ist Harry Vogt, der frühere Künstlerische Leiter des Festivals für zeitgenössische Kammermusik Witten und Redaktor des WDR, der alle Stücke dieser CD produziert hat.

 

Portrait Marcus Weiss zVg. Marcus Weiss

 

Wie kein Zweiter ist der Basler Instrumentalist Marcus Weiss daran, sein von Adolphe Sax erfundenes und 1846 patentiertes Instrument bei den zeitgenössischen Schöpferinnen und Schöpfern von Musik an den Mann respektive an die Frau zu bringen. Anders als beim Jazz in den Big Bands hat dieses Holzblasinstrument in der klassischen Sparte keinen fixen Platz in den Orchestern gefunden. Umso mehr taucht es in der zeitgenössischen Kammermusik auf, was auch die regelmässigen internationalen Auftritte von Weiss im «Trio Accanto»  und im Pariser Saxofonquartett XASAX belegen.

Seit seiner ersten selbst produzierten Solo-CD «Neue Musik für Saxophon» 1991 mit Werken von Giancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio Sotelo und Roman Haubenstock-Ramati ist Weiss in Sachen Neuer Musik weltweit unterwegs. Dabei hat er mehr als nur im Jahrestakt Einspielungen auf den Markt gebracht und unzählige Neukompositionen angeregt. Dass dabei der volle Einsatz des Musikers gefragt ist, belegt auch die Entstehung von Focus von Peter Eötvös.

 


Peter Eötvös, Focus, Sinfonieorchester Basel, Leitung: Peter Eötvös, Saxofon: Marcus Weiss, 2022, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Für Focus hat Weiss den Komponisten nach einem gemeinsamen Konzert in Wien angefragt, ob er ein Saxofonkonzert für ihn schreiben könne. Während fünf Jahren standen sie dafür im ständigen Kontakt. Während der Corona-Pandemie tauschten sie sich via Videoconferencing aus. Kurz vor der Uraufführung mit dem WDR Sinfonieorchester trafen sie sich persönlich am Wohnort von Eötvös in Budapest, wo sie jede Phrasierung und alle Tempi gemeinsam durchgingen sowie Korrekturen anbrachten, so Weiss.

Herausgekommen ist ein viersätziges, äusserst virtuoses und klanglich anregendes Solokonzert, bei dem das Saxophon, mal das Tenor- und dann das vor allem im Schlusssatz eingesetzte Sopransaxophon, voll chromatisch und mit ausgeprägtem sprachlichem Parlando im Fokus steht. Die Musik ist bis zum Schluss rhythmisch ziemlich aufgeladen. Sie  bewegt sich ausgehend von einem immer wiederkehrenden «Hummelflug»-Thema mit allen Extremen der Artikulation und der Dynamik durch verschiedenste klangfarbliche Situationen oder Tableaus fort. Der letzte Satz endet völlig gegensätzlich mit lyrischen introvertierten, immer mehr ausfransenden Sopranmomenten.

Wie Eötvös im Programmbuch zur Uraufführung mitteilt, stamme die Idee zu Focus aus der Welt der Films. So wie dort die Kamera sich häufig auf jemanden fokussiere oder auf etwas konzentriere, so bilde in seinem Stück das Orchester den «Hintergrund», und überlasse den «Premier Plan» dem Solisten, wobei sich seine «Tonkamera» in Zeitlupe langsam auf das eine oder andere fokussiere.

Der Plan von Eötvös geht auf. Man merkt, dass er das Saxofon erfasst und zur vollen Entfaltung bringt. Man glaubt, ohne zu zögern, wenn der Komponist schreibt, dass ihm seit seiner Kindheit das Saxophon sehr nahe stünde, weil es so klänge, als würde er selber singen. Er habe viele Jazzsaxofonisten wie Paul Desmond, Gerry Mulligan, Stan Getz und Sonny Rollins im staatssozialistischen, Jazz-feindlichen Ungarn gehört. Später, nach seiner Auswanderung nach Köln, habe er das Saxophon mit Jazzklängen angereichert, ohne sich aber je dem Jazz zuzuneigen. Denn als Komponist, so Eötvös, schreibe er stets klassisch jeden einzelnen Ton nieder. So kämen zwar in seinen Konzerten Saxofone häufig zum Einsatz, doch behandelt er das Instrument hier zum ersten Mal solistisch. Dabei kommt es mit einer Ausnahme im Schlusssatz ohne den Einsatz neuer Spieltechniken (extended techniques) aus, verlangt aber eine gewisse Fingervirtuosität. Auf der CD spielt neben Weiss, wie an der Uraufführung, das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Elena Schwarz.

Dasselbe Orchester ist auch für die Einspielung des einsätzigen Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas zuständig, diesmal unter der Leitung von Emilio Pomàrico.

 


Georg Friedrich Haas, Konzert für Baritonsaxofon und Orchester, WDR Sinfonieorchester, Leitung: Emilio Pomàrico, Saxofon: Marcus Weiss, 2019, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Das Konzert entstand, als der österreichische Komponist wie Weiss an der Musikakademie Basel als Dozent tätig war. Zeitgleich verfasste Weiss zusammen mit dem italienischen Komponisten Giorgio Netti ein Lehrbuch über das Saxofonspielen, in dem als Spezialität die neuartigen Mehrklänge (Multiphonics) systematisch dargestellt sind.

Nachdem Weiss dem Kollegen Haas  auch sein riesengrosses Baritonsaxophon demonstrierte, setzte der für mikrotonales Komponieren bekannte Österreicher es wirkmächtig in Musik um: die neuen Spieltechniken fügte er gemäss seinem Spektralkonzept kongenial in das Spiel des solistischen Rieseninstruments ein.

Diese Zusatztöne sind auch Grundlage des Orchestertuttis , wobei Haas der Musik genügend Raum und Zeit bietet, um dessen ganze Magie zu entfalten. Mehrere Generalpausen verstärken seine mächtige Wirkung. Entstanden ist das Stück im wesentlichen anlässlich eines Japanaufenthaltes. Es gehe ihm um die Verarbeitung der Erfahrungen mit einer anderen Kultur, berichtet der Komponist. Im Zentrum steht eine aus einem Shinto-Ritual übernommene Episode. So spielt das Soloinstrument eingebettet zwischen scharfen Akzenten nach innen gerichtete Melodien, deren Nachhall weiterlebt.

Mitunter ist das Saxofon völlig im Orchesterklang eingebettet, bis es wieder daraus solistisch hervortritt, so dass Wechselklänge von Tutti und Solo auf ganz spezielle Weise erfahrbar werden. Das dynamische Spektrum ist äusserst variabel, wobei die Körperlichkeit des Soloinstruments immer wieder durchschlägt. So fängt etwa das Stück für den Solisten mit allergrösster Kraft an, um alsdann schnell in höchster Lage im dort schwierig zu spielenden Piano pianissimo zu landen. Dort im «Weissen Schnee», so Weiss, würden von ihm als Musiker Viertel-, ja sogar Achteltöne verlangt, was extrem sei.
Nebst den beiden Werken komplettieren Saxordionphonics für Sopransaofon, Akkordeon und Kammerorchester (2014) des litauischen Komponisten Vykintas Baltakas und Violent Incidents. Hommage à Bruce Nauman (2005 -2006), für Saxofon und Ensemble des österreichischen Jarell-Schülers Johannes Maria Staud die sehr empfehlenswerte CD.
Peter Révai

 

CD: SAX – Contemporary Concertos for Solosaxophone, Wergo / Schott, release 20.1.2023

Marcus Weiss / Giorgio Netti: Die Spieltechnik des Saxofons, Bärenreiter 2010

Marcus Weiss, CD: Neue Musik für Saxofon, 1991

Trio AccantoAdolphe SaxHarry VogtGiancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio SoteloRoman Haubenstock-Ramati, Emilio PomàricoElena SchwarzPaul Desmond, Gerry Mulligan, Stan GetzSonny RollinsWDR Sinfonieorchester, Vykintas BaltakasJohannes Maria Staud

 

Neo-profiles:
Marcus Weiss, Xasax Saxofonquartett, Georg Friedrich Haas, Peter Eötvös

 

Das Elektronische Studio Basel zu Gast im Radio

Theresa Beyer
Generation Streaming und die experimentelle Elektronik: Studierende des Elektronischen Studios der Hochschule für Musik FHNW Basel haben für Radio SRF 2 Kultur radiophone Kompositionen produziert und knüpfen damit an eine alte Tradition der elektronischen Musik an.

 

Probe des Noise Ensemble unter Anleitung von Svetlana Maraš am Elektronischen Studio Basel

 

Radiophone Klangkunst – das sind experimentelle Wer­ke, die Musikerinnen und Musiker spe­zi­ell für das Ra­dio ent­wi­ckeln. Während im Hörspiel Sprechstimmen erzählen, ist es hier allein der Sound. Solche Radio-Stücke haben ihre eigenen Gesetze: Die Hörsituation ist weniger fokussiert als im Konzert. Man weiss nicht, ob das Publikum über Kopfhörer, Stereoanlage oder das uralte Küchenradio zuhört und ob es nicht zwischendurch telefoniert oder die Teller abwäscht.

«Deswegen darf die Komposition in ihren Details nicht zu filigran sein. Ein Spannungsbogen ist wichtig», sagt der Audiodesign-Student Martin Reck, der am Elektronischen Studio der Hochschule für Musik FHNW Basel gerade seinen Master abschliesst und frisch gekürter Preisträger des Zürcher Nico Kaufmann-Preises ist, der dieses Jahr junge Musikerinnen und Musiker aus dem Bereich der elektroakustischen Musik auszeichnet.

 

Aufnahmen auf einer rostigen Stahlbrücke

Für sein Stück «Zwei Brücken», das er für die Ausstrahlung auf Radio SRF 2 Kultur komponiert hat, hat er einen Tag auf einer stillgelegten Eisenbahnbrücke verbracht, die im nördlichen Basel über den Fluss Wiese führt. Dort hat er seine Stimme, Schritte über den Schotter und Perkussionen auf dem rostigen Stahl aufgenommen.

Diese Fieldrecordings hat er am Computer elektronisch weiterverarbeitet, Effekte, Filter und Synthesizer hinzugefügt. Sein Ansatz ist ein erzählerischer, vielleicht sogar ein therapeutischer: In seinem Stück verarbeitet er eine brutale Szene aus Ivo Andrics Roman «Die Brücke über die Drina», die ihn bis heute nicht loslässt.

 


Martin Reck, Zwei Brücken, UA Basel 2022, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hommage an ein nostalgisches Medium

Auch der Kompositionsstudent Isaac Blumfield hat mit Fieldrecordings von Vögeln, Wald oder Wasser gearbeitet. In seinem Stück Worn like a map verdichtet er sie zu einer vielschichtigen Komposition, die zwischen real und abstrakt changiert. Die akustischen Bilder, die er kreiert, sind wuchtig: «Ich hatte beim Komponieren Träume vor Augen. Aber nicht die schönen, sondern die verwirrenden und widersprüchlichen.»

Diese Bilder in eine Radiokomposition zu bringen war herausfordernd, sagt Isaac Blumfield: «Beim Radio weiss ich ja nicht, zu welchem Zeitpunkt das Publikum einschaltet. Mein Stück muss also auch funktionieren, wenn man die ersten fünf Minuten verpasst hat.»

 


Isaac Blumfield, Worn like a map, UA Basel 2022, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Für ihn, der Musik streamt und in seinem Alltag eher Podcasts hört, ist das Radio ein nostalgisches Medium. Es erinnert ihn an seine Kindheit in Minnesota: «Ich habe mit meinen Eltern auf langen Autofahrten Radio gehört und so Musik entdeckt, auf die ich sonst nie gekommen wäre.»

 

Elektronische Klanglabore am Radio

Die Zusammenarbeit zwischen dem Elektronischen Studio der Hochschule für Musik FHNW und Radio SRF 2 Kultur knüpft an eine lange Tradition an. Denn die Geschichte der elektronischen Musik ist eng mit dem Radio verbunden: In den 1950er-Jahren waren es die öffentlichen Radiostationen wie RTF in Paris, WDR in Köln oder Rai in Mailand, in denen elektronische Studios gegründet wurden. In den Nachkriegsjahren war das Radio das Hauptinformationsmedium. Es war mit der neuesten Technologie ausgestattet, von Oszillatoren über Sequenzern bis zu Synthesizern und Tonbandmaschinen.

«Die Pionierwerke elektronischer Musik wurden in diesen Studios produziert und fanden über das Radio ihr erstes Publikum,» sagt Svetlana Maraš, Professorin für Creative Music Technology und Co-Leiterin des Elektronischen Studios. Wie zum Beispiel Ritratto di Città von Luciano Berio und Bruno Maderna. 1954 zeichnen sie, nur mit Klängen, einen fiktiven Tag in der Stadt Mailand nach. Das Genre der radiofonen Komposition, an das die Basler Studierenden heute anknüpfen, war damit geboren.

 

Elektronische Musik geht mit der Zeit

Das elektronische Studio der Musik-Akademie Basel wurde 1975 gegründet, schon damals konnten Studierende Einführungskurse in elektronischer Musik belegen. Zugang zu einem hochspezialisierten Studio zu haben, war zu der Zeit noch ein grosses Privileg. Heute schaffen die Studierenden elektronische Musik am eigenen Laptop und kommen mit grossem Vorwissen aus einer DIY-Kultur.

Das heisst aber nicht, dass digital immer besser ist: Dem Audiodesign-Student Louis Keller haben es die alten Synthesizer und analoge Geräte im Elektronischen Studio Basel angetan.

 


Louis Keller, Bradycardia, UA Basel 2022, Eigenproduktion SRG/SSR

Für seine Performance hat er Klavierakkorde auf Tonband aufgenommen und die Bänder mehrere Meter von einer Maschine zur anderen durch den Raum gespannt. «Der analoge Klang hat eine einzigartige Breite und Tiefe». Seine Perfomance Bradycardia hat er für das Semesterprojekt mit SRF nun für das Radio übersetzt.

An die Aufgabe für das Radio zu komponieren, sind die Studierenden des Elektronischen Studios Basel also ganz unterschiedlich herangegangen. Dies führte wie von selbst dazu, dass die Podcast-Generation eine neue Faszination entwickelt hat für dieses Medium, das 100 Jahre alt ist.
Theresa Beyer

 

Vorbereitungen zum Live-Konzert im SRF-Auditorium Basel

 

Sendung SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 29.6.22: Classical and Jazz Talents – Live aus dem SRF-Auditorium, Redaktion Annina Salis: Livekonzert Neue elektronische Musik mit Studierenden von Svetlana Maraš – Elektronisches Studio Basel.

neo-profile:
Svetlana Maraš, Elektronisches Studio Basel,  Tim Shatnyy, Dakota Wayne, Anton Kiefer, Cyrill Jauslin, Louis Keller, Isaac Blumfield, Janik Pokorny, Minh Phi  Guillod, Martin Reck