Mit experimenteller Musik in die Zukunft

Wie klingt die Stadt unter der Erde? Hört sich Musik anders, an wenn sie für eine einzelne Person gespielt wird? Und kann sie dabei helfen, in einem beschädigten Ökosystem zu überleben? Vom 2. bis 5. Dezember 2021 suchen Künstler:innen und Festivalmacher:innen des SONIC MATTER Festivals in Zürich Antworten auf diese und andere Fragen unserer Zeit.

 

George Lewis Soundlines Skirball © Digitice Media Team

 

Friederike Kenneweg
Das Motto des Festivals in diesem Jahr lautet TURN, also in etwa Umbruch, Umwälzung, Richtungsänderung, Kehre oder Wende. Unterschiedliche Formate, vom Konzert über die Ausstellung bis hin zur Diskussionsveranstaltung, thematisieren solche Veränderungsmomente in der Musik, aber auch in der Umwelt und der Gesellschaft.

Der Kunstraum Walcheturm beispielsweise verwandelt sich während des Festivals unter dem Titel „weichekissenheisseohren“ in eine 48 Stunden lang geöffnete Hör- und Video-Lounge.

 

Tanzbare Musik in Erwartung der Katastrophe

 

Am gleichen Ort erkundet Andreas Eduardo Frank in der „border line club culture“ das Verhältnis von „Musik&Katastrophen“. Unter Strom stehend, in Erwartung des Unausweichlichen, angespannt und kurz vor der Entladung – dieses Lebensgefühl der Pandemiezeit setzt Frank mit seinem Synthesizer in elektronische Musik um. Auch das angespannte Publikum kann hier tanzend ein Ventil finden. Zum Festivalabschluss ist es das Duo GLENN, das es im Kunstraum Walcheturm  laut werden lässt und zum Tanzen einlädt.

 

Prozessorientiert und nachhaltig

Prozessorientiert und nachhaltig solle das Festival sein, so formulierte es die die künstlerische Leiterin Katharina Rosenberger im Mai 2021 in einem Interview mit SRF 2 Kultur. Die Komponistin hat für die Leitung des Festivals mit der Künstlerin und Regisseurin Julie Beauvais und der Kulturmanagerin und Musikjournalistin Lisa Nolte ein Kollektiv gegründet. Die drei Frauen legen Wert auf längerfristige Zusammenarbeit mit Künstler:innen und einen kontinuierlichen Aufbau des Kontakts zum Publikum. Deshalb gibt es unter dem Namen SONIC MATTER auch eine Webseite, die als Plattform für künstlerischen Austausch, für Forschung und Begegnungen dient. Im Rahmen des Festivals werden einige Ergebnisse dieser Zusammenarbeit präsentiert.

Zum Beispiel beim SONIC MATTER_OPENLAB, das Arbeiten von Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen aus Bolivien, Kanada, Ecuador, den USA, Brasilien und der Schweiz in einer gemeinsamen Performance vorstellt. Von ganz unterschiedlichen Orten der Welt aus machen all diese Akteur:innen mit ihren jeweiligen Mitteln auf die Bedrohungen aufmerksam, der unsere Welt ausgesetzt ist. In einem Deep-Listening-Experiment werden diese verschiedenen Stimmen, Ansätze und Perspektiven dem Publikum zugänglich gemacht.

Das SONIC MATTER_village erforscht gemeinsam mit den Bewohner:innen den Klang von Zürcher Stadtquartieren. Im Rahmen von Workshops mit Bewohner:innen sind Hörstücke entstanden, die ebenfalls im Festivalprogramm präsentiert werden.

 

Beim Eröffnungskonzert im Schauspielhaus Zürich ist unter dem Titel CONNECTIVITY das International Contemporary Ensemble aus New York zu Gast. Auf dem Programm stehen hier Kompositionen von George Lewis, Nicole Mitchell, Helga Arias und Murat Çolak. Auch ein Werk des Schweizer Komponisten Jessie Cox aus Biel, der momentan in New York studiert und gerade eben mit einer Uraufführung beim Lucerne Festival Forward zu erleben war, kommt hier zur Aufführung.

 


Jessie Cox’ Black as a Hack for Cyborgification, UA 2020 online (hier in der Konzertaufnahme vom 7.10.21 mit dem International Contemporary Ensemble, im Target Margin Theatre in Brooklyn) wird am Konzert CONNECTIVITY aufgeführt.

 

 

Sinnlichkeit des Orchesters

Ganz dem Festivalmotto verpflichtet wird beim Orchesterkonzert in der Tonhalle Zürich das Stück TURN von Dieter Ammann aus dem Jahr 2010 gespielt, das das Umschlagen von einem Zustand in den anderen mit den Mitteln des Orchesters nachvollzieht. „Genau dort, wo die Musik für den Hörer ganz eindeutig, leicht fasslich wird, passiert der Turn, ein Wendepunkt, an dem die vorherige Klanglichkeit völlig implodiert und abrupt in ein anderes Klangbild umschlägt“, sagt Dieter Ammann über sein Werk. „Das ist vergleichbar mit einer Szenerie auf einer Bühne, wo Beleuchtung und Technik schlagartig eine neue Atmosphäre schaffen.“

 

Dieter Ammann, Glut für Orchester, UA 1.9.2019 Lucerne Festival Academy, Dirigent George Benjamin, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Das Stück für großes Orchester dropped.drowned von Sarah Nemtsov aus dem Jahr 2017 spielt auf feinsinnige Art mit den Klangfarben des Orchesters und macht im Gegensatz dazu Wandlungsprozesse erfahrbar, die sich eher allmählich vollziehen.

 

Dem Stadtklang auf der Spur

Wer seine Ohren anhand vom Stadtklang auf diese Art der Sinnlichkeit einstimmen will, kann das am Freitagnachmittag bei einem Hörspaziergang mit dem Klangkünstler Andres Bosshard tun, der sich vom Viadukt an der Markthalle aus auf die Suche nach besonderen Klang- oder Ruheorten macht und unter anderem dem Wasserrauschen der Limmat nachhorcht.

Beim Klangparcours Unter der Klopstockwiese des Klangkünstlers Kaspar König wird der Sound von Zürich aus einer ganz anderen Perspektive vorgestellt: von unten. Die „begehbare Hörlandschaft unter der Erde“ macht eine verzerrte Hörwelt zugänglich, die gewohnte Geräusche zu etwas Fremdem macht: entrückt und geisterhaft.
Friederike Kenneweg

 

Kaspar König macht den Sound der Stadt Zürich unter der Erde hörbar..

 

Julie Beauvais / Lisa Nolte / Katharina Rosenberger, Andres Bosshard, George Lewis, Nicole Mitchell, Helga Arias, Sarah NemtsovInternational Contemporary EnsembleKaspar König

FESTIVAL SONIC MATTER, 2.-5.12.21:
SONIC MATTER_OPENLAB
SONIC MATTER_village

Erwähnte Konzerte:
2.12.21, 20h, Schauspielhaus Zürich Schiffbau-Box: CONNECTIVITY,
3.12.21, 19:30h, Tonhalle Zürich: TURN
5.12.21, 19h, Alte Kaserne: DIĜITA

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 8.12.21, 20h: Sonic matter – ein neues Festival in Zürich, Redaktion Moritz Weber
neoblog, 11.11.21: neue Hörsituationen für neue Musik – Lucerne Festival Forward / u.a. zur UA von Jessie Cox, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 17.11.20: musique de création – Geheimtipp aus Genf im GdN Basel: Gabrielle Weber: Interview mit Jeanne Larrouturou zum Projekt Diĝita

neo-Profile:
Festival Sonic Matter, Katharina Rosenberger, Jessie Cox, Dieter AmmannAndreas Eduardo Frank, Ensemble Batida, Kaspar König

 

Wien Modern spielt ohne Publikum

17 Neuproduktionen als Stream im Lockdown: 6.-29.11.20

Gabrielle Weber
Die Stadt Wien traf es hart. Zuerst frühzeitig zur Quarantäneregion erklärt, dann der kurzfristig ausgerufene Lockdown für den Monat November. Kurz darauf die unfassbare Terrorattacke. Das einzigartige Musikfestival Wien Modern ist zeitlich und geographisch mittendrin. Es bespielt die Wiener Innenstadt normalerweise jeweils während des ganzen Monats an diversen Orten.

Saal Konzerthaus ohne Publikum ©Markus Sepperer 

Unter dem Motto “Stimmung” spürt das Festival vielschichtig und vieldeutig der aktuellen Stimmungslage im Jahr 2020 nach. 44 neue Produktionen und 85 neue Stücke hätten zur Aufführung kommen sollen, verteilt auf 32 Tage. Nur das Eröffnungswochenende fand mit Publikum statt. Gezeigt wurden sechs Produktionen und damit gerade mal 14% des Gesamtprogramms.

Am dritten und zugleich zweitletzten Abend konnte noch die Uraufführung von Edu Haubensaks Grosser Stimmung gespielt werden. Wien Modern scheut keinen Aufwand – fast vorausahnend wurde der Zuschauerraum des Wiener Konzerthauses für die elf verschieden gestimmte Konzertflügel leergeräumt. Das Publikum war freilich noch präsent – auf den Rängen.

So konnte Haubensaks Grosse Stimmung erstmals als Ganzes live erlebt werden. Denn nach Teilaufführungen wurde die geplante integrale Uraufführung im Sommer an der Ruhrtriennale bereits Pandemiebedingt abgesagt. Angereist waren trotz Quarantäne die drei Schweizer Pianistinnen Simone Keller, Tomas Bächli und Stefan Wirth.

Edu Haubensak, Grosse Stimmung © Markus Sepperer

Dann kam der Lockdown mit Veranstaltungsverbot und Ausgangsbeschränkung. Rasch fiel der Entscheid: Insgesamt 24 Veranstaltungen und damit über die Hälfte der Konzerte werden nun ohne Publikum aufgeführt und per Stream kostenlos öffentlich zugänglich gemacht.

Bereits fünf Tage nach dem Lockdown fand das erste Konzert vor leerem Saal für den Stream statt: die Uraufführung von Sofia Gubaidulinas lange erwartetem neuem Orchesterwerk Der Zorn Gottes im Musikverein am Freitag, 6. November. Unter dem Dirigat von Oksana Lyniv spielt das Radiosinfonieorchester Wien (RSO). Die geplante Uraufführung bei den Salzburger Osterfestspielen mit der Staatskapelle Dresden und Christian Thielemann erlebte nach mehrmaligem Verschieben bereits eine coronabedingte Absage.

Dass es nun online doch zur Uraufführung kam, ist gerade jetzt, in der vom Terror versehrten Stadt Wien, wichtig. Die Aufführung versteht Gubaidulina als Zeichen des Friedens in einer Zeit des zunehmenden Hasses und «einer allgemeinen Überanspannung der Zivilisation“.

Klaus Lang: tönendes Licht

Klaus Lang, tönendes Licht, Livestream aus dem Stephansdom, 19.11.20

Wichtige weitere Highlights sind am 18. November im Wiener Konzerthaus ein Konzert mit drei Uraufführungen. Nebst neuen Werken von Friedrich Cerha und Johannes Kalitze wird auch ein Stück von Matthias Kranebitter, dem Preisträger des Erste Bank Kompositionspreises uraufgeführt – eine neue Enzyklopädie der Tonhöhe und Abweichung. Aufgeführt durch das Klangforum Wien und dirigiert von Kalitzke selbst. Oder live aus dem Wiener Stephansdom am 19. November die Uraufführung tönendes licht von Klaus Lang, ein “Riesenorgelkonzert” (Zit. Wien Modern) für die weit auseinandersitzenden Wiener Symphoniker unter Leitung von Peter Rundel.

20 Jahre Ensemble Mondrian – Jubiläumskonzert in Wien: Die Produktion musste am 16.11.2020 aufgrund einer Schweizer Quarantänevorschrift leider auf 2021 verschoben werden.

 

Portrait Mondrian Ensemble & Thomas Wally © Markus Sepperer

Auch aus der Schweiz gibt es etwas zu hören: Am 21. November präsentiert das Mondrian Ensemble zu seinem 20Jahr-Jubiläum in Wien Werke von Martin Jaggi und Thomas Wally, beides langjährige Weggefährten des Basler Ensembles.


Ensemble Mondrian, Thomas Wally, Podcast

Uraufführungen von Andres Bosshard mit Zahra Mani und Mia Zabelka mussten hingegen auf November 2021 verschoben werden. Ebenso das Konzert des Basler Ensembles Nikel mit Werken von Thomas Kessler und Hugues Dufourt.

Bernhard Günther, der künstlerische Leiter von Wien Modern, äusserte sich in einem längeren Statement zum Lockdown und zur kulturellen Stimmung in Österreich folgendermassen: ” Die Stimmungslage in diesem Bereich ist derzeit so, dass es dringend ganz deutliche Signale braucht, damit Kultur nicht als Opfer des Gesundheitswesens, des Wintertourismus in den Bergen und des Weihnachtsgeschäfts empfunden wird. Es ist klar, dass ein Kapitän versuchen muss, einem Eisberg auszuweichen, aber er muss jetzt alles dafür tun, damit das Schiff nicht an der anderen Seite auf Grund läuft.”  (Zit. Günther)

Durch die Streams versucht nun Wien Modern, einen Teil des Wiener kulturellen Lebens aufrecht zu erhalten und zugänglich zu machen. Vielleicht kann damit immerhin -gemäss dem Festivalmotto- die aktuelle Stimmungslage etwas verbessert werden, auch wenn die existenzbedrohende Lage für das Kulturschaffen dadurch nicht geschmälert wird.

Als Zeichen der Solidarität seitens SRF 2 Kultur und neo.mx3 freuen wir uns, an dieser Stelle auf die Streams hinzuweisen.
Gabrielle Weber

Portrait Bernhard Günther © Wien Modern

 

Der Zorn Gottes ist ab 6. November 7 Tage lang per Stream nachzuhören auf: www.wienmodern.at

Alle Streams sind zu finden auf: Wien Modern
sowie teilweise auf den Homepages von Musikverein und ORF RSO 

Sendungen SRF 2 Kultur

Kultur kompakt Podcast9.11.20: Theresa Beyer, “Der Zorn Gottes” entlädt sich im Stream zur UA Wien Modern, Sofia Gubaidulina:

Neoblog, Corinne Holtz: Wenn aus Leidenschaft Subversion wird – Portrait Simone Keller

Kontext, 21.10.20, Corinne Holtz: Zehn neu gestimmte Klaviere

In Musik unserer Zeit21.10.20: Florian Hauser / Gabrielle Weber:  zu neo.mx3: Simone Keller & Edu Haubensak

Neo-profiles
Simone Keller, Stefan Wirth, Wien Modern, Edu Haubensak, Mondrian Ensemble, Martin Jaggi, Thomas Kessler