100 Jahre IGNM – Eine Verbindung von Schicksalsgefährten

Vor 100 Jahren entstand die «Internationale Gesellschaft für Neue Musik IGNM» mit Ziel, Neue Musik aus der ganzen Welt zu vernetzen und sichtbar zu machen. Die Schweizer Sektion, die SGNM, formierte sich im Oktober desselben Jahres in Winterthur. Sie veranstaltete sechs der jährlich stattfindenden «World Music days» – 2004 fuhr die Neue Musik sogar im Zug durch die Schweiz.
Ein Portrait der SGNM von Thomas Meyer.

 

Zur UA kamen 2016 in Tongyeong, Südkorea, zwei Werke aus der Schweiz: Claude Berset (La Ménagerie de Tristan, eine halbszenische Kammer-Suite für Kinder auf Gedichte des Surrealisten Robert Desnos) und von Iris Szeghy (Gratia gratiam parit für Chor a cappella)

 

Thomas Meyer
Es war in der Kirche Boswil, als damals, vor nun 31 Jahren, das ensemble für neue musik zürich ein aufregendes Programm spielte, u.a. Werke der Japanerin Noriko Hisada und der Australierin Liza Lim. Die beiden Komponistinnen, noch keine dreissig Jahre alt, war hierzulande unbekannt – aber sie sollten es nicht lange bleiben, denn das ensemble blieb dran, war begeistert, gab den beiden Aufträge, mehrere über die Jahrzehnte. CDs entstanden und eine lange Freundschaft. Das Konzert wurde für mich zu einem schönen Beispiel dafür, was sich in der Begegnung bei den sogenannten «Weltmusiktagen» ereignen konnte.

 


Voodoo Child von Liza Lim von 1990, in einer Aufnahme mit dem ensemble für neue musik zürich dirigiert von Jürg Henneberger mit der Sopranistin Sylvia Nopper, im Kunsthaus Zürich 1997, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Bei diesem Festival, das 1991 in Zürich stattfand, kamen nämlich MusikerInnen aus der ganzen Welt zusammen – und an einem Nachmittag eben wurden die Gäste in die Idylle des Freiamts geführt. Diese «World Music Days» erfüllten damit genau den Zweck, Neue Musiken aus allen Ländern über die Meere und Kontinente hinweg miteinander in Verbindung zu bringen. Mit dieser Botschaft war die Veranstalterin des Festivals einst angetreten: die «Internationale Gesellschaft für Neue Musik IGNM» oder englisch: «International Society for Contemporary Musik ISCM». Die Anregung stammte von den Komponisten Rudolf Réti und Egon Wellesz. Am 11. August 1922 traf sich im Café Bazar in Salzburg eine illustre Schar. Anwesend waren etwa Béla Bartók, Paul Hindemith, Arthur Honegger, Zoltán Kodály, Darius Milhaud und Anton Webern, viele andere hatten sich entschuldigt.

Der Zeitpunkt ist hochinteressant, unmittelbar nach dem grossen, alle Ordnung zersetzenden Weltkrieg, da nichts mehr selbstverständlich war. Die Neue Musik fand sich in einer veränderten Kultur wieder. Erschöpft durch den Krieg, aber auch durch die heftigen Skandale des Jahrs 1913 begann sie sich zurückzuziehen und sich insiderhaft zu organisieren. Arnold Schönberg und sein Kreis organisierten sich in Wien 1918-21 im «Verein für musikalische Privataufführungen». Edgard Varèse gründete 1921 in New York die «International Composers’ Guild» , um moderne Musik aufzuführen. Gleichenjahrs wurden in Donaueschingen erstmals die «Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst» durchgeführt. Der Name ist bezeichnend Die Neue Musik musste etwas für sich tun und sich neu formieren.

Bei der Gründung der IGNM wirkte Richard Strauss als Präsident mit, er gab dieses Amt aber schon bald an den englischen Musikwissenschaftler Edward Dent ab. Von den Österreichern stammte zwar der erste Impuls, aber bald übernahmen Briten die Leitung und das Sekretariat. Landessektionen entstanden. Schon im Oktober meldete sich der Winterthurer Mäzen Werner Reinhart aus der Schweiz und kündigte eine helvetische Sektion an. Er hatte Geld und Interesse an Neuer Musik, und so nahm die Sektion ihren Sitz am Rychenberg. 1926 fanden die Weltmusiktage erstmals in Zürich statt, wo etwa Weberns Fünf Orchesterstücke op. 10 uraufgeführt wurden, 1929 folgte Genf. Das IGNM-Schiff nahm Fahrt auf und durchquerte im Lauf des Jahrhunderts für seine Feste die Kontinente.

 

Weltmusikfeste stehen für Kommunikation und Austausch zwischen den Ländern

Die Weltmusikfeste sind das Herzstück der Organisation. Sie versuchen etwas Völkerverbindendes – auch wenn es nur Ansätze sein können. „Kein Musikfest, keine Kunstgemeinschaft würde Katastrophen verhindern können, wie deren 1914 eine ausgebrochen ist“, schrieb der österreichische Musikhistoriker Paul Stefan nach dem Genfer Fest. „Aber jedes Band wird seither fester geschlossen, und ganz anders als früher sind die Künstler von heute Schicksalsgefährten geworden.“ Was wenige Jahre später freilich wieder in Konflikt ausartete, als 1934 auf Initiative von Richard Strauss eine Gegenorganisation, der nazinahe «Ständige Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten», den Einfluss der IGNM untergraben sollte. 1939 wurde es zum Beispiel tschechoslowakischen Musikern verboten, zum Weltmusikfest nach Warschau zu fahren.

Für die Westmusikfeste schlagen alle Mitgliedsländer Kompositionen vor, die dann von einer Jury vor Ort ausgewertet und mit Programmideen von lokalen Organisatoren ergänzt werden. Fifty-fifty etwa sollte das Verhältnis zwischen den beiden Teilen sein. Das Programm ist bunt und hat meistens keinen gemeinsamen Nenner. Beachtet man aber die Liste der aufgeführten Werke so findet man etliche Meisterwerke darunter. So wurde 1957 in Zürich Schönbergs Moses und Aron uraufgeführt. Manches geht vergessen, aber dabei entstehen doch Verbindungen, die anhalten. Und das ist das Wesentliche an der IGNM: die Kommunikation und der Austausch zwischen den Ländern.

 


Gemini, Konzert für zwei Violinen und Orchester von Helena Winkelman, Uraufführung mit dem Sinfonieorchester Basel und Ivor Bolton, an den Geigen Patricia Kopatchinskaja und Helena Winkelman: sie vertrat 2015 als erste Frau die Schweiz an den World Music Days in Ljubljana, wo ihr Stück Bandes dessinées zur Uraufführung kam.

 

1970 fanden die Weltmusiktage in Basel statt, 1991 in Zürich, und 2004 fuhr die IGNM-Delegation mit der Bahn durch die ganze Schweiz. Diese ungewöhnliche Idee unter dem Titel Trans-it wurde von einem Team um den Komponisten Mathias Steinauer entwickelt. Es war ein ganz neuartiger Impuls.

 


Steinschlag (1999) von Mathias Steinauer wurde an den «World Music days» 2004 im Infocentro der NEAT gespielt. Hier in der Version von Christian Dierstein 2013.

 

Das waren Höhepunkte, aber eigentlich war die helvetische Sektion, die SGNM, sonst ein eher stiller Verein. Er ist im Lokalen verankert. Die nationale Gesellschaft besteht aus derzeit acht Ortsgruppen. Angeschlossen sind ihr als Mitglieder auch einige Festivals und Ensemble für Neue Musik. Sie alle führen Konzertreihen durch und machen oft noch unbekannte Musik hierzulande bekannt.

Neben diesem Courant normal jedoch ist die nationale Sektion in den letzten Jahren wieder bedeutend aktiver geworden. Der Walliser Sänger, Performer und Komponist Javier Hagen hat als Präsident seit 2014 einige Akzente gesetzt.

 

Der Walliser Sänger, Performer und Komponist Javier Hagen ist seit 2014 Präsident der SGNM

 

Das betrifft zunächst mal die Aufarbeitung der Geschichte. Manches war falsch überliefert und musste richtiggestellt werden – was gerade in Hinblick aufs Hundertjahrjubiläum wichtig war.  In Winterthur fand man wertvolle Korrespondenzen zur Gründungszeit. Dokumentation ist notwendig, weil vieles verloren gegangen ist und sich nur mühsam wiederfinden lässt. Zum Glück hat der ehemalige SGNM-Präsident, der Zürcher Kritiker und Organist Fritz Muggler, ein so reichhaltiges Archiv.

 

66 IGNM-Sektionen aus 44 Ländern

Dokumentiert werden auch die Weltmusikfeste. Nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart wird dabei lebendig. Selbst wenn man jedes Jahr zu den Festen fahren und dort jeweils runde 120 Werke hören sollte, würde das doch nicht ausreichen, einen Überblick darüber zu erhalten, was in den 66 Sektion aus 44 Ländern läuft. Deshalb macht die SGNM im Internet  Collaborative Series regelmässig Musik von überall auf der Welt hörbar.

Zum Jubiläum organisierten die Schweizer gemeinsam mit den Basken, Letten und Esten einen Chorwettbewerb in vier Kategorien – Zeichen dafür, dass sie sich auch für andere Kreise öffnen möchte. 108 Kompositionen aus 78 Ländern trafen bei der SGNM ein. Der Luxemburger Luc Goedert und der Schweizer Cyrill Schürch erhielten es aequo den ersten Preis.

 


Cyrill Schürch, Nihil est toto – Metamorphosen für Chor a capella, UA mit der Zürcher Sing-Akademie und Florian Helgath, Zürich 2018, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Und auch innerhalb des Muttervereins, der ISCM, ist eine Öffnung erfolgt. Auf Anregung Javier Hagens wurde die Zahl der offiziellen ISCM-Kommunikationssprachen – bislang Deutsch, Englisch, Französisch – um Arabisch, Chinesisch, Russisch und Spanisch erweitert. Die Welt öffnet sich – und mit ihr die Weltmusik. Zeichen dafür ist auch, dass die IGNM sich nächstes Jahr erstmals in Südafrika, in Johannesburg/Soweto trifft.
Thomas Meyer

Für gründlichere Informationen über die ersten sechs Dekaden sei der dicke Band IGNM – Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik des Schweizer Musikwissenschaftlers Anton Haefeli empfohlen.

Auf der SGNM-Homepage sind zahlreiche Ton- und Bildzeugnisse zugänglich.

Die SGNM setzt sich für die Schweizer Musikedition SME (Vertrieb von Partituren) und die Datenbank musinfo ein, zwei wichtigen Werkzeugen der Verbreitung einheimischer Musik.

 

Neo-Profile:
ISCM SwitzerlandJavier HagenMathias Steinauer, Helena Winkelman, Liza Lim, ensemble für neue musik zürichCyrill Schürch, Patricia Kopatchinskaja

Übermacht der Natur

Eiger, die neue Oper von Fabian Müller, wird vom Theater Orchester Biel Solothurn am 17. Dezember uraufgeführt. Christian Fluri unterhielt sich mit dem Komponisten vor der Premiere über seinen Bezug zum Berg, der ihn bereits seit langem fasziniert.

Christian Fluri
„Die Geschichte des zweiten Versuchs, die Eigernordwand zu erklimmen, ist an Dramatik kaum zu überbieten“, sagt der von seinem Opernstoff begeisterte Komponist Fabian Müller. 1936 versuchten die beiden deutschen Bergsteiger Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser mit zwei österreichischen Kollegen als erste die mächtige Nordwand des Eiger zu bezwingen. Sie scheiterten und alle Vier starben am Berg. Dieser Geschichte widmete sich bereits der Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl in seinem Film Nordwand von 2008. Und nun tun es der Schriftsteller und Librettist Tim Krohn und Fabian Müller erneut. Die Frage, ob sie sich vom Film beeinflussen liessen, verneint Fabian Müller. „Wir erzählen das Drama ganz anders. Der historische Rahmen ist derselbe, daneben aber lässt die Geschichte viel erzählerische Freiheit zu.”

 

Portrait Fabian Müller bei den Proben zur Oper Eiger zVg SOBS 2021

 

Die Geschichte der Oper Eiger schildert den anfänglichen Enthusiasmus, mit dem die vier Bergsteiger ihre Klettertour beginnen, dann das sich abzeichnende Scheitern bis hin zum Kampf gegen den Tod, den als letzter sogar der herausragende Bergsteiger Toni Kurz verliert. „Die Oper erzählt von der Ohnmacht des Menschen gegenüber der Übermacht der Natur.“ Müller gibt dem Berg eine Stimme – eine Frauenstimme. „Es ist quasi der Gesang des Bergs, der sich gegen Ende der Oper in der Vogelschau über den Sturm, die ganze Dramatik der Situation und Wildheit des Wetters legt. Der Sterbende ist hin und hergerissen, zwischen den letzten verzweifelten Versuchen in der Realität sein Leben zu retten, wird aber gleichzeitig vom verführerischen Gesang des Berges umgarnt, der ihn immer mehr in eine surreale, jenseitige Welt hinüber gleiten lässt.“

 

 

Am Fuss des Eigers

Bereits 16 Jahre vor der Uraufführung der Oper hat sich Fabian Müller mit dem Eiger und seiner Nordwand auseinandergesetzt. 2004 schrieb er im Auftrag der Interlaken Musikfestwochen die Symphonische Skizze Eiger – und er tat dies gleichsam am Fuss des Eigers, in seinem Komponierhäuschen, einem Chalet in Grindelwald. Dort verbrachte er jeweils mit seinen Eltern als Kind und Jugendlicher seine Ferien.

 

Fabian Müller, Eiger – Eine symphonische Skizze, UA 2004, Latvian Symphony Orchestra, Dirigent Andris NelsonsMüller denkt in seinen Kompositionen Musikgeschichte mit. In seiner Symphonischen Skizze Eiger aus dem Jahr 2004 hat er teils auch Reihentechniken angewandt.

 
„Seit meiner Kindheit bin ich mit der Bergwelt um Grindelwald verbunden“ sagt Müller zu diesem Ort der Inspiration. Nach seiner Ausbildung ist das Chalet zu einem Rückzugsort geworden, wo sich seine Kreativität entfalten konnte. Als er 2004 seine symphonische Skizze schrieb, „schaute der Eiger auf mich herab, sah, wie ich meine Noten aufs Papier kritzelte“, meint er verschmitzt.
Damals schon dachte er, das Drama von 1936 wäre ein ausgezeichneter Opernstoff. „Ich habe nun ausgehend von der Skizze die Musik zur Oper weiterentwickelt und alles, was in der Skizze ist, irgendwie – wenn auch selten identisch – verwendet“, erklärt Müller.
„Vielen meiner Stücke begegne ich lange nach ihrer Entstehung wie ein Fremder. Es fällt mir oft schwer, in eine ältere Komposition von mir wieder einzutauchen. Die Symphonische Skizze Eiger hingegen ist in mir stets präsent geblieben. Vielleicht, weil die Oper eben noch geschrieben werden musste.“ Die Musik zur Oper habe er aber kaum mehr am Fuss des Eigers komponiert, sondern mehrheitlich zu Hause in Zürich.

 

Musikalität des Textes


Müller begann mit seiner Komponierarbeit, als er das Libretto von Tim Krohn auf dem Tisch hatte. Gross ist sein Vertrauen in die Musikalität seines Librettisten, mit dem er bereits zum dritten Mal zusammenarbeitet: „Tim Krohn hat eine Affinität zur Musik und ein grosses Verständnis für die Musikalität, die ein Libretto haben muss. In seinem Text war nichts, für das nicht eine musikalische Lösung zu finden gewesen wäre.“  Auch knifflige Passagen wurden zur reizvollen Herausforderung. Natürlich habe er mit Tim Krohn einen intensiven Austausch gepflegt; aber „wir haben im Libretto schliesslich keinerlei Veränderungen vorgenommen.“

Sowohl die deutschen wie die österreichischen Alpinisten jener Zeit zeigten in ihrem Denken – oft nicht nur darin – eine Nähe zum Nationalsozialismus. Auch dies ist Gegenstand des Librettos von Tim Krohn. Es zeichne die Figuren in ihrer Ambivalenz, merkt Müller an. „Ihre politische Haltung schwingt in der Zeichnung ihrer Charaktere mit. Und sie wird auch zum Problem, wenn es um das Vertrauen zueinander geht, ein Vertrauen, das in der Kletterei essenziell ist. Auch in meiner Musik findet diese Ambivalenz der Figuren ihren Ausdruck.“

 

Portrait Tim Krohn zVg SOBS

 

Noch während Müller im Komponierprozess – für die Oper mit grossem Orchester – steckte, erhielt er vom Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) einen Auftrag für Eiger. Deshalb schrieb er nach Fertigstellung der Partitur noch zusätzlich eine Fassung mit Kammerorchester. Diese gelangt nun in der Inszenierung von Barbara-David Brüesch und unter der musikalischen Leitung von Kaspar Zehnder in Biel zur Uraufführung.

 

 

Musik entstehen lassen

 

Und wie klingt Müllers Musik? Er gehört gewiss nicht zu den experimentellen Komponisten, will dies auch nicht. Er ist überzeugt, die klanglichen Möglichkeiten eines Symphonie-Orchesters seien heute ausgelotet. Neues könne aber in der Kombination, der Verbindung von Klängen und Klangfiguren entstehen.

In seinen Kompositionen denkt Müller Musikgeschichte immer mit: er scheut sich nicht, auch mal traditionelle Harmonien oder Klanggebilde zu verwenden. Orientierungspunkte für ihn sind Gustav Mahler, der junge Arnold Schönberg, Alban Berg, ebenso die französische Musik des frühen 20. Jahrhunderts, um nur einige zu nennen. Verwandt fühlt er sich den heutigen skandinavischen, osteuropäischen sowie anglo-amerikanischen Komponist:innen.

 


Fabian Müller, Munch’s Traum(a) für Violine Solo, UA 2010: Müller geht es in seiner Musik um den emotionalen Ausdruck. Als kompositorische Orientierungspunkte für seine Musik bezeichnet er Gustav Mahler, den jungen Arnold Schönberg oder Alban Berg, aber auch György Ligeti und Olivier Messiaen.

 

Natürlich hat er sich intensiv mit der deutschen und französischen Avantgarde der Nachkriegszeit und deren Geschichte auseinandergesetzt – so mit der seriellen Technik, die für ihn aber klar der Vergangenheit angehört. „Schon György Ligeti hat sie 1961 mit seinem grandiosen Werk Atmosphères überwunden, das gilt auch für andere seiner Zeitgenossen.” Ligeti und Olivier Messiaen sind für ihn ebenfalls wichtige Orientierungspunkte. Aber er schätzt auch sehr die Komponist:innen, „die in den 1970er Jahren neue Wege eingeschlagen haben“ – abseits experimenteller Pfade, wie zum Beispiel der Finne Einojuhani Rautavaara (1928-2016), mit dem ihn eine lange Brieffreundschaft verbunden hat.

Müller selbst bezeichnet sich als intuitiven Komponisten, dem es stets um den emotionalen Ausdruck geht. „Ich lasse mich dann, wenn der Kompositionsvorgang ins Rollen gekommen ist, von der Musik selbst führen. Warum meine Musik so klingt wie sie klingt, dazu kann ich eigentlich nur sagen, es ist die Musik, die ich innerlich wahrnehme, wenn ich das tue, was mich am meisten interessiert, nämlich komponieren.“
Christian Fluri

 


Im Video des SOBS führt der Komponist Fabian Müller selbst in seine Oper Eiger ein.

 

Theater Orchester Biel Solothurn, Uraufführung Oper Eiger ab 17.12.21 Biel / weitere Vorstellungen Saison 21/22, Biel und Solothurn

 

Toni Kurz, Andreas Hinterstoisser, Philipp Stölzl, Tim Krohn, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alban Berg, György Ligeti, Olivier Messiaen, Einojuhani Rautavaara

 

neo-Profile:
Fabian Müller, Sinfonie Orchester Biel Solothurn

“Interpretation zeitgenössischer Werke – Investition in die Zukunft”

Laufend macht neo.mx3 rare SRG-Aufnahmen der Schweizer musikalischen Avantgarde zugänglich. Christian Fluri entdeckte für den neoblog im bereits beträchtlichen Fundus das Winterthurer Streichquartett.
Im Ausnahmejahr 2020 erlebte es ein ausserordentliches Jubiläum.

Winterthurer Streichquartett ©zVg Musikkollegium Winterthur

Christian Fluri
Es ist ein Unikum, im besten Sinne des Wortes, das Winterthurer Streichquartett. Welches andere hat je schon sein 100-Jahr-jubiläum feiern können. Normalerweise entwickeln und entfalten Streichquartette ihre Kunst in gleicher Besetzung, leben so zusammen, so dass sie sich untereinander blind verständigen. Gehen die vier Musikerinnen oder Musiker – aus welchem Grund auch immer – auseinander, löst sich das Quartett auf. Das war grundsätzlich so beim – gerade für die Musik des 20. Jahrhunderts so prägenden – LaSalle String Quartet. Ein wenig anders verhält es sich bei dem für die Gegenwart ebenso stilbildenden Arditti Quartett, es ist an seinen Primgeiger, Gründer und Namensgeber Irvine Arditti gebunden, von ihm geprägt – auch bei Wechseln auf den anderen Positionen.

Stete Erneuerung hält lebendig

Ganz anders das Winterthurer Streichquartett, das aus den jeweiligen Stimmführern des Musikkollegium Winterthur besteht. Kommt bei den Streichern ein neuer Stimmführer, eine neue Stimmführerin, wechselt auch die Quartett-Besetzung. So erneuert sich das vierköpfige Ensemble immer wieder einmal, und das verlangt von den Mitgliedern des Quartetts grosse Flexibilität. Genau diese Flexibilität gibt dem Quartett jedoch Lebendigkeit.

Winterthurer Streichquartett 1930er Jahre ©zVg Musikkollegium Winterthur, Handzeichnung Gustav Weiss

Auch im Jubiläumsjahr 2020 ist eine Stelle vakant geworden, die des zweiten Violinisten Pär Näsbom, der seit 1987 Stimmführer der zweiten Violine war und altershalber das  Musikkollegium verlassen hat. Zudem wird der Primgeiger und Konzertmeister Roberto González Monjas ab der Saison 2021/22 Chefdirigent des Orchesters. Das heisst, auch die Konzertmeisterstelle wird bald neu besetzt. So stehen im Quartett nach sieben Jahren gleicher Besetzung nächste Wechsel an. Damit kommt es wieder einmal zu einer Erneuerung.

Winterthurer Streichquartett 2016: Besetzung Chmel, González-Monjas, Näsbom, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

Weiterhin mit dabei sind der Bratschist Jürg Dähler (seit 1993), der sich auch im Leitungsteam der Swiss Chamber Soloists engagiert und dort in unterschiedlichen Kammerformationen auftritt, und die Cellistin Cecilia Chmel (seit 1989). Auch sie ist wie ihre Kollegen eine herausragende Kammermusikerin.

Dass das Winterthurer Streichquartett sein stolzes Jubiläum im November mit einem grossen Festkonzert gebührend feiern konnte, das haben leider die Corona-Massnahmen verhindert. Das sei schon etwas betrüblich gewesen, merkt Cecilia Chmel in unserem ­elektronisch geführten Gespräch an: <Immerhin konnten wir unser Jubiläumskonzert für wenigstens 50 Zuhörer*innen spielen und live streamen.>

Stets präsent in der Gegenwart

Seit den Anfängen des Quartetts hat die Musik der Gegenwart neben klassisch-romantischen Werken ihren festen Platz im Repertoire. Bereits 1921 spielte es in seiner ersten Besetzung mit dem Konzertmeister Ernst Wolters Arnold Schönbergs Streichquartett fis-Moll op.10, wie die Musikhistorikerin Verena Naegele in ihrer Laudatio zum 100. Geburtstag erwähnt.

Winterthurer Streichquartett 1952: Besetzung Dahinden, Rybar, Wigand, Tusa, mit Unterschriften ©zVg Musikkollegium Winterthur

Die gegenwärtige Cellistin Cecilia Chmel unterstreicht die Bedeutung, die die Neue Musik für das Winterthurer Quartett hat: <Wenn man vor allem das klassisch-romantische Repertoire spielt, ist es besonders wichtig, auch die Gegenwart wahrzunehmen und in die Zukunft zu schauen. Die Interpretation zeitgenössischer Werke ist ein Investition in die Zukunft.>

Das Winterthurer Streichquartett arbeitet seit Beginn immer wieder mit Komponistinnen und Komponisten zusammen und vergibt auch Kompositionsaufträge. So erwähnt Celilia Chmel die Zusammenarbeit mit dem grossartigen Basler Altmeister Rudolf Kelterborn sowie den Zürchern Alfred Felder und Ursina Braun, die zugleich beide exzellente Cellist*innen sind.

Auch eine Geschichte Neuer Musik

Wie fruchtbar die langjährige Auseinandersetzung des Quartetts mit Musik des 20. Jahrhunderts von Schweizer Komponisten ist, spiegelt sich in den nun neu zugänglichen Aufnahmen aus dem Archiv der SRG. Auf neo.mx3 finden sich zahlreiche Aufnahmen des Quartetts mit zeitgenössischen Werken aus den Jahren 1948 bis 1975.

Rudolf Kelterborn, Streichquartett Nr.2, 1958, Eigenproduktion SRG/SSR

Ein besonderes Juwel ist das frühe, dreisätzige 2. Streichquartett Kelterborns. Die Aufnahme von 1958 in der Besetzung mit Peter Rybarm (1. Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Heinz Wigand (Viola), und Antonio Tusa (Violoncello), ist von erstaunlicher Präsenz und Klarheit. Diese zeichnen auch die Interpretation selbst aus, die analytischen Geist und Passion für das Werk in sich vereinigt. Der junge Kelterborn befindet sich hier auf dem Weg zu seiner eigenen kompositorischen Sprache und zeigt bereits seine hohen Qualitäten in der Verbindung von Emotionalität, musikalischer Tiefe, Dichte und Genauigkeit. Dies in einer Komposition, die sich auf der Höhe ihrer Zeit jenseits reihentechnischer Dogmatik bewegt.

Packende interpretatorische Kunst zeigt auch die 1963 eingespielte Aufnahme von Ernest Blochs fantastischem Quintett für Klavier und Streicher Nr.1 (1923). Zur gleichen Besetzung kommt hier der Pianist Rudolf am Bach. Er lehrte am Winterthurer Konservatorium und setzte sich gleichfalls stark für Schweizer Musik seiner Zeit ein. Der ersten Agitato-Satz wie das abschliessende Allegro energico ist von mitreissender rhythmischer Prägnanz. Die Interpretation dringt mit grosser klanglicher Transparenz auch im langsameren Mittelsatz tief in Gehalt und Struktur des Werks ein und schärft die Dissonanzen.

Ernest Bloch, Quintett für Klavier und Streicher 1963, Eigenproduktion SRG/SSR

Am eidgenössischen Tonkünstlerfest 1975 in Basel spielte das Quartett Hermann Hallers 2. Streichquartett von 1971, In der Besetzung mit Abraham Comfort (1.Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Marcel Gross (Viola), und Markus Stocker (Violoncello), zeigt sich ein faszinierendes Werk von dunklem, melancholischen Grundton in ganz eigener kompositorischer Sprache. Sie verbindet Spätromantik mit dem Vokabular der Moderne.

Herman Haller, Streichquartett Nr.2, 1971, Eigenproduktion SRG/SSR

Das Winterthurer Streichquartett zeichnet sich durch Genauigkeit der interpretatorischen Auseinandersetzung, durch klangliche Klarheit, und enge Dialogführung zwischen den vier Musikern aus. Und diese neuste Aufnahme in einer anderen Quartett-Besetzung unterscheiden sich in nichts vom durchgängig hohen Niveau der früheren Einspielungen. Das ist erstaunlich.

Die Winterthurer sind wohl eines der wenigen Quartette, die bei immer wieder wechselnder Besetzung den hohen künstlerischen Anspruch, die musikalische Vitalität und Passion – hier für zeitgenössische Musik bekannterer und unbekannterer Komponisten – mit erneuern kann.
Christian Fluri

Winterthurer Streichquartett 2006: Besetzung Chmel, Näsbom, Zimmermann, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

2021 stehen drei weitere zeitgenössische Quartette auf dem Spielplan. Farewell (1995) des US-Amerikaners John Corigliano, Tenebrae (2002) des Argentiniers Osvaldo Golijov und Arcadiana, das opus 12 (1994) des Engländers Thomas Adès.

Samstag, 6.3.2021, 19h: Hauskonzert Winterthurer Streichquartett: Der Tod und das Mädchen, John Corigliano, Streichquartett Nr.1 Farewell , Franz Schubert Streichquartett d-Moll D 810 Der Tod und das Mädchen

Die Konzerte des Winterthurer Streichquartetts finden wie die meisten Konzerte des Musikkollegium während der Pandemie live im Saal statt und sind per Live-Stream zu erleben. Im Konzertkalender finden Sie alle Angaben.

John Corigliano, Oswaldo Golijov, Thomas Adès, Verena Naegele, LaSalle String Quartet, Arditti Quartett, Arnold Schönberg, Ernest Bloch

Neo-Profiles: Winterthurer Streichquartett, Musikkollegium WinterthurSwiss Chamber SoloistsSwiss Chamber ConcertsRudolf Kelterborn, Hermann Haller

Offenheit und Kontinuität

35 Jahre ensemble für neue musik zürich
Bereits drei Jahrzehnte setzt es wesentliche Akzente: 1985, im Gründungsjahr, befand sich die zeitgenössische Musik erst im Aufbruch – heute steht sie vor besonderen Herausforderungen. Eine Rückschau mit Ausblick von Thomas Meyer.

ensemble für neue musik zürich

Man muss sich die Situation im musikalischen Zürich um 1980 vergegenwärtigen. Das Konservatorium machte seinem Namen noch Ehre: Es bewahrte und war noch keine Hochburg der Kreation wie heute. Uraufführungen wurden in Tonhalle-Abokonzerten von Herzen ausgebuht. Es gab zwar kleine Konzertreihen für Neue Musik, aber kein Spezialistenensemble dafür. Es war viel zu tun.

Als 1986 erstmals die Tage für Neue Musik durchgeführt wurden, trat ein junges Ensemble hervor, das sich erst ein Jahr zuvor erstmals präsentiert hatte, benannt schlicht als „ensemble für neue musik zürich“. Hier kam eine Handvoll Musiker zusammen, die eben das Neue suchten, die sich für die jungen KomponistInnen ihrer Generation und ihre Umgebung einsetzten und die auch sonst keinen engen Musikbegriff hatten. Auslöser dazu war ein Konzert des Gruppo Musica Insieme di Cremona bei den Zürcher Junifestwochen mit der Mezzosopranistin Cathy Berberian. „Mir ist es wie Schuppen von den Augen gefallen: So etwas möchte ich auch machen.“ sagt der Flötist Hanspeter Frehner, der das Ensemble mit anderen jungen Studenten gründete und bis heute künstlerisch leitet. Zusammen mit dem Pianisten Viktor Müller ist er als einziger noch von der ursprünglichen Crew mit dabei.

Hanspeter Frehner Portrait

Zwei wesentliche Charaktereigenschaften prägen das Ensemble: Offenheit und Kontinuität. Die Offenheit zeigt sich etwa daran, dass sie schon früh Komponistinnen-Programme spielten und mehrere Aufträge etwa an Liza Lim oder Noriko Hisada gaben. Oder aber, dass sie Jazzmusiker um Kompositionen baten – woraus etwa die Karriere eines Dieter Ammann entsprang. Oder dass sie sich bildender Kunst widmeten wie in den Hommages an den Zürcher Bildhauer Hans Josephsohn oder in der Zusammenarbeit mit dem Interventionskünstler Peter Regli.


Verwandtschaft, composer: Junghae Lee, UA Winterthur, Villa Sträuli  2019, ensemble für neue musik zürich

Vor allem aber brachten sie das Musiktheater voran: Die Besetzung des „ensembles“ geht nämlich auf Schönbergs cabarethaften „Pierrot lunaire“ zurück: Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, erweitert um das Schlagzeug, ähnlich wie die „Fires of London“ von Peter Maxwell Davies in London. Und mit zwei Kurzopern von Davies bewies das „ensemble“ früh schon, dass man mit wenigen, konsequent eingesetzten Mitteln grandioses Musiktheater machen kann. Ein anderes Experiment war, zusammen mit Regisseur Herbert Wernicke, eine radikale Version der „Lustigen Witwe“ – so frech, dass die Léhar-Erben sie prompt verboten. Kammeropern gehören seither fest zum Programm. Kommenden November steht zum Beispiel eine Operette des Dortmunder Komponisten Johannes Marks auf dem Spielplan: „Neues vom Weltuntergang“.

Die Kontinuität zeigt sich in der langen Zusammenarbeit untereinander, aber auch mit Komponistinnen und Komponisten. Das „ensemble für neue musik“, so sagt etwa die Japanerin Noriko Hisada, „ist eine jener Musikgruppen, der ich zutiefst vertraue.“ Und der Deutsche Sebastian Gottschick begleitet das „ensemble“ seit langem auch als Dirigent. Dieser Tage erscheinen bei Hat Hut (ezz-thetics) denn auch gleich zwei neue CDs mit seinen „Notturni“ sowie mit Bearbeitungen von Charles Ives-Songs. Im Herbst ist ausserdem ein Memorial für den 2010 verstorbenen Komponisten Franz Furrer-Münch geplant. Was auch zeigt: Hier geht es nicht nur um die grossen Namen der Neuen Musik, hier wird Basisarbeit betrieben, wird gefördert…


Trailer ZUHÖAN, Komposition Duo: Christoph Coburger / Sebastian Gottschick, UA 2015, ensemble für neue musik zürich

Auf diese Weise hat das ensemble dreieinhalb Jahrzehnte Akzente gesetzt. Vor einiger Zeit tauchte das Gerücht auf, es wolle sich auflösen, die Musiker seien ja allmählich im Pensionsalter. Tatsächlich läuft die Subvention der Stadt Zürich Ende 2021 aus, aber Ideen für Projekte darüber hinaus habe man noch einige, sagt Frehner. Im übrigen sei es durchaus in Ordnung, wenn die regelmässige städtische Unterstützung in die Zukunft, also in ein junges Ensemble investiert würde.

Man muss sich nämlich die Situation im heutigen Zürich vergegenwärtigen: Einen festen Spielort wie die Gare du Nord in Basel hat die Neue Musik nicht, mit dem Walcheturm im Kasernenareal ist zumindest eine von der freien Szene gewünschte Option vorhanden. Die Tage für Neue Musik stehen vor einer Neukonzeption, die Orchesterkonzerte strotzen nicht gerade von Novitäten. Es gibt zwar eine reiche Kreation an der ZHdK und mit dem Collegium Novum Zürich auch ein fixes Kammerorchester, aber ein neues kleineres Ensemble müsste unterstützt werden. Es ist noch viel zu tun.
Thomas Meyer

Die im Mai und Juni geplanten Konzerte wurden Corona-bedingt abgesagt und werden wie folgt nachgeholt:
Stöckli/Neumann/Ustwolskaja (anstelle 16.5.20): am 5.2.21
CD Taufe Ives/Gottschick (anstelle 14.6.20): am 12.12.20
Grüsse an Regli (anstelle 28.6.20): am 29.6.21

ensemble für neue musik zürich, Hat HutSebastian Gottschick, Liza Lim, Franz Furrer-Münch, Dieter Ammann, Hans Josephsohn, Johannes Marks, Peter Regli

Neo-Profilesensemble für neue musik zürich, Dieter Ammann, Junghae Lee