«Jetzt dürfen wir das Usinesonore neu erfinden!»

Das kleine ausgesuchte Usinesonore Festival im Berner Jura hätte vom 10. bis zum 13. Juni stattgefunden. Haarscharf zu knapp kam der neue Entscheid des Bundesrats, der gewisse Veranstaltungen in überschaubarer Grösse genau ab dem Startdatum wieder zulässt. Umso schmerzlicher, da das Festival biennnal stattfindet und vielleicht bis 2022 auf die nächste Ausgabe gewartet werden muss. Dafür findet die Konzertserie Les Battements de l’Abbatiale in Bellelay nun doch statt.

Portrait: Julien Annoni©Lucas Dubuis

Der Co-Leiter von Usinesonore und Leiter von Les Battements de l’Abbatiale, Julien Annoni, über Chancen in Zeiten von Covid-19. Und warum Streaming die Stimmung nicht ersetzt.

Interview: Bjørn Schaeffner

Julien Annoni, vom 9. bis 13. Juni sollte das Usinesonore stattfinden. Was verpassen wir?
Wie immer ein buntgemischtes Programm zwischen zeitgenössischer Musik und Volksmusik  und weiteren künstlerischen Disziplinen. Wir zeigen die Dinge so, dass sie fürs Publikum möglichst nahbar sind. Was die grossen Namen angeht: Da wäre unter anderem das Konzert mit Renaud Capuçon gewesen. Und wir haben auch extra für die diesjährige Ausgabe wieder ein schönes Zelt konstruiert.

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie das Festival absagen müssen?
Anfang April. Allerspätestens zwei Monate vor dem offiziellen Festival-Beginn, das war die absolut letzte Deadline, die wir uns gesetzt hatten. Der letztmögliche Zeitpunkt, um uns einigermassen schadlos zu halten.

Jetzt hat sich der Lockdown gelockert.
Das freut mich natürlich. Ein positives Signal für die Schweiz. Und für alle Kulturschaffenden!

Ärgert es sie nicht, dass ihr Festival theoretisch trotzdem hätte stattfinden können? Eben fiel ja der bundesrätliche Entscheid, dass kulturelle Anlässe mit bis zu 300 Menschen ab dem 6.Juni wieder zugelassen sind.
Das wäre nur gegangen, wenn wir das Usinesonore verkleinert hätten. Und für uns war von Anfang an klar, dass das keine Option ist. Unter diesen Umständen hätte sich die Atmosphäre unseres Festivals gar nicht entfalten können.


Usinesonore 2018, Gérard Grisey, Le noir d’étoiles, WeSpoke

Warum nicht?
Weil es auf Kosten der Qualität gegangen wäre. Und da wollten wir keine Kompromisse machen.

Aber nochmals: Stört sie nicht, dass sie jetzt so haarscharf die Durchführung verpassen?
Natürlich ist es schade, dass die Usinesonore dieses Jahr nicht stattfinden kann. Wir hatten ja auch schon sehr viel Herzblut investiert. Aber im Nachhinein ist man immer schlauer.

Was bedeutet die Festivalabsage finanziell für Sie?
Wir stehen relativ gut da. Der Kanton Bern und der Grossteil der Stiftungen, die das Festival massgeblich unterstützen, sind sehr kulant und stehen zu ihren Subventionen und Beiträgen.

Und was heisst das für die Künstler?
Wir können einen grossen Teil ihrer Gagen und Produktionskosten zahlen und damit ihre Erwerbsaufälle zum Teil auffangen.

Sie haben die Festivalräumlichkeiten in Biel, die frei geworden sind, kostenlos anderen Künstlern zu Verfügung gestellt.
Ja, das war für uns selbstverständlich. Damit sie dort proben können, oder an Produktionen arbeiten. Und bis Ende Juli nisten sich da Künstlerinnen und Künstler ein, sei es nur für ein paar Tage oder eine Woche. Unter anderem das  Collective Mycelium, Camille Emaille, Lucie Tuma, Paquita Maria oder Adrien Gygax. Auch wenn da nichts für die Öffentlichkeit entsteht: Ich spüre viel Enthusiasmus!

Usinesonore Festival 2018

Sind Sie als Musiker selbst von der Krise betroffen?
Das habe ich finanziell natürlich auch gespürt. Dafür war ich viel mit meiner Familie zusammen, was ich sehr genossen habe. Normalerweise bin ich ja sehr viel unterwegs.

Ein Streaming von Usinesonore kam für sie nie in Frage?
Wir haben uns das natürlich überlegt. Aber uns dann bewusst dagegen entschieden. Das Usinesonore lebt vom Austausch mit dem Publikum, der ganzen Ambiance. Das kann ein Streaming nie ersetzen.


Trailer, Usinesonore Festival 2014

Können Sie sich vorstellen, dass das Usinesonore in Zukunft trotzdem digitale Formate realisiert?
Das ist gut denkbar. Wie das aussehen könnte, ist aber noch komplett offen. Wir reflektieren, recherchieren, machen Grundlagenarbeit für was Neues.

Findet das nächste Usinesonore jetzt in einem Jahr statt?
Das ist denkbar. Es kann auch sein, dass es erst 2022 wieder stattfindet. Das wissen wir noch nicht. Wir machen uns grad intensiv Gedanken, wie das Festival in Zukunft aussehen wird. Jetzt haben wir auch die Zeit dazu.

Sie begreifen die Krise also als Chance?
Genau. Das ist doch super, wenn man die Chance hat, ein Festival komplett neu zu erfinden.

Usinesonore Festival 2018

Auf was freuen sie sich sonst noch?
Auf die Konzerte in der historischen Abtei von Bellelay. Mit dem Usinesonore hat das aber nichts zu tun. Darin stecken drei Jahre Arbeit von mir, eine Saison von Ensemble-Konzerten – ich hatte dazu Carine Zuber (Moods), Claire Brawand (Label Suisse) und Arnaud Di Clemente (Cully Jazz) als Programmatoren eingeladen. Die ordentliche Saison mussten wir zwar absagen, aber immerhin kann jetzt trotzdem einiges stattfinden: von Ende August bis Mitte September.
Bjørn Schaeffner

Das Usinesonore Festival findet jeweils biennal im Juni in La Neuveville statt. Nächste geplante Edition voraussichtlich 2022.

Die Konzertserie Les Battements de l’Abbatiale findet – als eine der ersten Veranstaltungen im Jura – ab dem 29. August (Ensemble Contrechamps Genève) statt.

Usinesonore Festival, Les Battements de l‘Abbatiale, Julien Annoni/WeSpokeKollektiv Mycelium

Neo-Profiles: Usinesonore Festival, Les Battements d’Abatiale, WeSpoke, Kollektiv Mycelium

«Hiob leidet grundlos»

Am Gare Du Nord in Basel bringt Michèle Rusconi ihre Komposition «Les Souffrances de Job» zur Uraufführung. Im Interview erzählt die Komponistin, wie sie die Tragödie von Hanoch Levin adaptiert hat.

Die Komponistin: Michèle Rusconi

Björn Schaeffner
Michèle Rusconi, was begeistert Sie an Hanoch Levins Text «Les Souffrances de Job»?
Ich halte Hanoch Levin für einen der weltweit wichtigsten Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mich begeistert seine grandiose Sprache, sein Witz, die Satire und der bittere schwarze Humor, die ihm erlauben, das Unsagbare zu sagen.

Wie meinen Sie das?
Ich bewundere Levins scharfen kompromisslosen Blick und fürchte gleichzeitig den Spiegel, den er mir so schonungslos vorhält. Levin versetzt die Bibelgeschichte von Hiob in die Zeit der Römer, etwa tausend Jahre später. Das ergibt eine Art Verfremdungseffekt wie bei Brecht.

Mit der Figur Hiob können Sie sich identifizieren?
Hiob ist eine Parabel, eine universelle Figur. Levin beschreibt in seiner Tragödie den grundlos leidenden und ungerecht bestraften Menschen, dessen Unglück weder eine Ursache hat noch einen Zweck erfüllt. Es ist dies eine atheistische Haltung. Denn Hiobs Frage an seine Freunde ‘hat das Leiden einen anderen Sinn als das Leiden?’ beantwortet Levin mit Nein. Levins Hiob, ein Bruder «in spirit» von Kleists Michael Kohlhaas, betrifft mich. Er wird, im Gegensatz zum biblischen Hiob durch seine Gottestreue nicht belohnt. Sein Verlust ist endgültig, er stirbt.


Michèle Rusconi, Ratafià, Streichquartett, 2009

Wie sind Sie den Stoff angegangen?
Eine Freundin und Übersetzerin zahlreicher israelischer Theaterstücke, schickte mir einen Ausschnitt aus «Les Souffrances de Job». Ich wählte einzelne Sätze und Dialoge der verschiedenen Protagonisten aus. Es sind dies Hiob, seine drei Freunde, der Gerichtsvollzieher, die Bettler, der Offizier, der Zirkusdirektor und die Toten. Ich ging nicht narrativ vor, sondern tauschte die Kapitel untereinander aus und begann zunächst, anhand der französischen Textvorlage zu komponieren. Die israelische Sopranistin Tehila Nini Goldstein, die in Berlin lebt, begeisterte sich für das Projekt. Kurz danach konnte ich das Ensemble Meitar aus Tel Aviv gewinnen, dann Desirée Meiser vom Gare du Nord, ein paar Monate später den Schauspieler Zohar Wexler aus Paris.

Meitar Ensemble, Tel Aviv

Das heisst, das Projekt wurde immer komplexer?
Ich entschied irgendwann, dass ich nebst der französischen Übersetzung auch mit dem hebräischen Originaltext arbeiten wollte. Die Stimme ist bei dieser Komposition zentral. Der Stoff Hiob ist ja unglaublich aufregend: er weint, flucht, brüllt, kämpft, lacht, flüstert, wird wahnsinnig, verzweifelt, gibt auf. Die Komposition wird jetzt abwechslungsweise in beiden Sprachen gesungen und gesprochen.

Die Emotionalität der beiden Sprachen ist ja eine völlig andere.
Genau! Mit einer Sängerin, einem Schauspieler und zwei Sprachen hatte ich neue Parameter, mehrere Oktavlagen, andere akustische Farben, die die Sprachen ausstrahlen. Es gab plötzlich viel mehr Möglichkeiten, mit dem Text umzugehen. Erst dann fiel mir überhaupt auf, dass ich den Text des Hiob anfänglich in den Mund einer Frau gelegt hatte. Dazu kommen die Übertitel: in Tel Aviv Hebräisch, in Basel und Zürich Deutsch, und in Genf Französisch.

Die Sängerin: Tehila Nini Goldstein

Und worauf darf man als Zuschauer*in jetzt gespannt sein?
Auf den tollen Text von Hanoch Levin! Und auf das wunderbare Meitar Ensemble, den wendigen Schauspieler Zohar Wexler, die grossartige Sopranistin Tehila Nini Goldstein und meine Wenigkeit. Dass das Zusammenkommen überhaupt möglich ist, ist schon ein kleines Wunder.

Warum?
Weil es logistisch kaum machbar ist! (lacht). Wir arbeiten ja in vier Städten und inszenieren in drei Sprachen, das macht es nicht gerade einfach.
Interview: Björn Schaeffner


Meitar Ensemble, Ondřej Adámek, ‘Ça tourne ça bloque’, Pierre-André Valade

‘Les Soufffrances de Job’ bildet Teil der zwei Schwerpunkte der diesjährigen Saison des Gare du Nord, ‘Musiktheaterformen‘ und ‘Later Born‘: ‘Musiktheaterformen‘ zeigt Facetten des aktuellen Musiktheaters in Präsentation und Gespräch. ‘Later born‘ hingegen befasst sich mit den grossen Traumata des 20, Jahrhunderts -Nationalsozialismus, den beiden Weltkriege und deren Folgen-, gespiegelt durch einen fragenden Blick der Nachgeborenen.

Im Anschluss an die Vorstellung in Basel findet ein Podiumsgespräch mit Michèle Rusconi und Matthias Naumann (Autor einer Monographie über Hanoch Levin, Übersetzer, Verleger) statt.

Der Schauspieler: Zohar Wexler

Daten:
5. 12.19, 20:30h Tel Aviv, Inbal Multi Cultural Ethnic Center
7.12.19, 20h Basel, Gare du Nord
9.12.19, 19:30h Genève, Salle Ansermet
10.12.19, 19:30h Zürich, Kunstraum Walcheturm

Gare du Nord, IGNM Basel, Kunstraum Walcheturm, Meitar Ensemble

neo-profiles: Gare du Nord, Michèle Rusconi

Pling! Plong! Brrr!

Michael Pelzel

Der Ostschweizer Komponist Michael Pelzel feilt fürs Opernhaus Zürich an der Vollendung seiner ersten Oper. Im Interview mit Bjørn Schaeffner spricht er über Gratwanderungen, Nullenergiezustände und die gewisse Lockerheit, die es bei der Arbeit braucht.

Michael Pelzel, wie läuft das Leben?  
Es ist grad alles sehr hektisch. Ich bin gerade am Limit. Und arbeite im Moment von zuhause aus.

Sie stecken im Schlusspurt für ihre Oper «Last Call».
Zum Glück kann ich mich auf eine tolle Equipe verlassen. Es ist ja ein Gemeinschaftswerk. Als Opernkomponist muss man immer auch auf die anderen Künste eingehen.

Gab es Diskussionen?
Nur in einem Punkt. Ich hatte mir für den «Last Call» einen traumwandlerischen Schlusspunkt ausgemalt. Eine Art Schwerkraft-Song, der etwas an einen Kirchenchoral erinnert, aber auch ein wenig wie man es vom Vokalquartett  Manhattan Transfer kennt. Der sollte am Schluss dramaturgisch einen Nullenergiezustand herstellen. Aber meine Partner Chris Kondek und Jonathan Stockhammer fanden, dass das schon früher eingelöst wird, und es diesen Moment nicht nochmals zum Ende der Oper braucht. Das hat mich letztlich überzeugt.
 
Wie entstand die Idee zu «Last Call»?
Der Luzerner Autor Dominik Riedo kam auf mich zu. So haben wir den Stoff gemeinsam entwickelt. In einem inspirierenden Ping-Pong. Riedos Text hat sich meiner Musik angenähert und verwendet eine lautmalerische Sprache. Sie ist schon fast Comic-artig. Pling! Plong! Brrr!

In «Last Call» geht es darum, dass die Menschheit endgültig die Kontrolle über die Kommunikationsmedien verliert und darum auf einen fernen Planeten übersiedelt.
Sie kennen das sicher auch – ich erlebe es auf jeden Fall tagtäglich. Kaum hast Du 30 Mails abgearbeitet, ist das Postfach schon wieder voll. Auf allen möglichen Kanälen wird man bombardiert. Und dann sind da die Techgiganten wie Amazon oder Google, die immer mehr über unser Leben wissen. Das stimmt einen schon nachdenklich.

Im Programmtext lesen wir, die Oper sei grotesk-überspitzt.
Ja, es soll skurril werden, irgendwo zwischen «Die Physiker» von Dürrenmatt oder «Le Grand Macabre» von György Ligeti. Ich bin da auch ein bisschen von Christoph Marthaler inspiriert, bei dessen Inszenierungen man öfters auch nicht weiss: Ist es jetzt ernst gemeint? Oder ist das ein Witz? Ich mag solche Gratwanderungen.

Michael Pelzel, Last Call, UA 28.6.19, Opernhaus Zürich ©Herwig Prammer

Wie sind sie «Last Call» kompositorisch angegangen?
Viele Komponisten sind schon am Vorhaben verzweifelt, dass sie alle musikalischen Parameter aufeinander abstimmen wollten. Man muss mit einer gewissen Lockerheit ans Werk gehen. Und bei einer Länge von 90 Minuten kannst du nicht alles neu komponieren. Ich habe also alte Motive weiterentwickelt und vertieft.

Und natürlich mehr in Richtung Theater gearbeitet. In der zeitgenössischen Oper stört mich, dass da diese latente Tragik in allen Dingen steckt. Eine schon fast klischeehafte Tiefgründigkeit. Dem wollte ich entgegen wirken. Ich habe mir erlaubt, hie und da etwas frecher zu sein.

Frecher?
Wir haben zum Beispiel die Melodie von der «Sendung mit der Maus» leicht abgewandelt. Das ist natürlich nichts Neues. Das hat schon Mozart gemacht: Dieses Variieren innerhalb der eigenen Musiksprache. Oder Wagner, der plötzlich überraschend Barockes anklingen liess.

Worauf darf man sich als Besucher freuen?
Ich bin selbst gespannt, wie das alles zusammenkommt. Das Kind muss selbst laufen lernen. Aber man darf sicher auf die Videokunst von Chris Kondek gespannt sein. Toll, wie er mit ganz wenigen Mitteln eine trashige Pop-Art in die Oper zaubert. Und das Bühnenbild von Sonja Füsti, das die Videokunst sehr gut zur Geltung bringt. Und auch die Kostüme von Ruth Stofer. Eigentlich alles. Wie ich schon sagte: es ist ein Gemeinschaftswerk.
Interview Bjørn Schaeffner

Michael Pelzel, Last Call, UA 28.6.19, Opernhaus Zürich ©Herwig Prammer

Opernhaus ZürichMichael Pelzel

SRF-Sendungen
29.Juni 2019: “Musikmagazin“, Kaffee mit Michael Pelzel (auch als Podcast)
1. Juli 2019, “Kultur-Aktualität“: Bericht zur Premiere; “Kultur Kompakt 

neo-profiles:Michael Pelzel, Opernhaus Zürich, Jonathan Stockhammer, Philharmonia Zürich