Musik ist Kommunikation: Komponistin Katharina Rosenberger

Zum zehnten Mal werden 2023 die Schweizer Musikpreise verliehen: nebst dem Grand Prix an den Genfer Jazz-Trompeter Erik Truffaz werden am Musikfestival Bern am 8. September weitere 10 Preise und Spezialpreise vergeben. In einer Sommerserie portraitiert der neoblog einige der Preisträger:innen. Katharina Rosenberger, Komponistin, Kompositions-Professorin in Lübeck und Co-Intendantin des Zürcher Festival für zeitgenössische Musik Sonic Matter bildet den Auftakt. Katharina Rosenberger arbeitet mit intermedialen Verflechtungen zwischen Musik, Text und Bild und bindet das Publikum meist in Performanceprozesse ein. Dabei geht es ihr um Kommunikation, um Dialog und ums Partizipieren an der zeitgenössischen Musik.

Katharina Rosenberger im Interview mit Florian Hauser.

 

Portrait Katharina Rosenberger © Hans Gut

 

Florian Hauser
Einen der begehrten Schweizer Musikpreise zu bekommen, ist schon etwas Besonderes und zeugt von hoher Wertschätzung Ihrer Arbeit. Wie sieht es demgegenüber mit der Wertschätzung Ihrer künstlerischen Arbeit im Alltag aus? Sie müssen ja tun, was Sie tun müssen und wollen. Und das ist ja nicht unbedingt massenkompatibel. Sie machen keine Blockbusterfilme… Wie reagiert Ihr Publikum auf ihre Kunst?

Ich bin immer sehr berührt, wenn Menschen auf mich zukommen und auf meine Musik reagieren. Es sind Personen, die ich nicht kenne oder auch Personen, die keine Insider sind, also nicht selber Musiker*innen. Oft reagieren sie sehr positiv – und oft geht es ihnen dabei darum, etwas Neues entdeckt zu haben. Wenn sie sich auf dieses Neue, Ungekannte eingelassen haben und dann positiv überrascht sind, macht mich das sehr glücklich. Eigentlich sind das ja dann die idealen Fans, die mit Offenheit kommen und einfach mal reinhören wollen… Es gibt natürlich auch Momente in denen das Publikum sehr zweischneidig reagiert. Von: ‘um Gottes Willen, was war denn das für ein Stück!’ bis zu: ‘Wow, das ist das Tollste, was ich seit langem gehört habe’.

 

Die Kommunikation mit dem Publikum ist Ihnen ja per se sehr wichtig. Sie interagieren mit den Leuten, Sie binden sie auch in Performanceprozesse ein. Warum?

Lassen Sie mich mit einem Beispiel antworten: Ein Duett (innerhalb einer Videooper, die am Theaterspektakel Zürich uraufgeführt wurde) habe ich La Chasse genannt. Zwei Sängerinnen stehen sich in einer gewissen Distanz gegenüber. Das Publikum sieht sie nur im Profil. Und dann beginnen die Stimmen sich zu jagen. Anfangs nur mit Klängen wie wah, wah, wah wah! Sehr abstrakt, sehr reduziert. Es gibt keine Melodie. Und es ist nicht so einfach, sich das anzuhören. Aber als Leute aus dem Publikum auf mich zukamen und von der Erfahrung erzählt haben, wie gewaltig diese Klänge im Raum waren, wie sehr sich die Körper in die Struktur der Musik eingliederten, ging mir ein Licht auf: Die Verbindungen zwischen Klang und Raum, den Performerinnen und dem Publikum sind unheimlich wichtig. Es geht primär nicht nur um die Musik selbst, also dass die Musik auch nur sich selbst genügt, sondern es geht wirklich um Dialog und Austausch mit dem Publikum, mit der Umgebung.


La Chasse von Katharina Rosenberger in einer Instrumentalinterpretation durch das Landmann-/Stadler-Saxofonduo, aufgenommen in NYC 2018.

 

Erzählen Sie noch von einem anderen Beispiel!

Das Projekt Urban morphology. Das ist eine begehbare Konzertinstallation, die musiktheatralische Elemente hat und auch partizipativ ist. Das Publikum ist eingeladen, aktiv mitzumachen. Es geht um den Städtewandel: Was passiert, wenn zum Beispiel durch luxuriöse Neubauten Nachbarschaften, in denen wir aufgewachsen sind, verschwinden? Wenn das, dem ich mich zugehörig fühle, plötzlich nicht mehr existiert? Also Orte, in denen ganz viele Erinnerungen Platz haben: Wenn das wie weggewischt ist, was passiert dann mit uns? Was passiert, wenn diese Strukturen weg sind, die architektonischen, die sozialen, die klanglichen Komponenten, an denen wir uns orientieren?

Das Publikum konnte sich entscheiden, wie es sich bewegt. Ob es zuerst zu einer Performance-Insel geht oder sich ein Video ansieht, ob es eine ganz normale Konzertsituationen mit einem sehr fokussierten Zuhören will oder in einer Installation Velo fährt, um Elektrizität zu erzeugen und Licht zu spenden.

Das Publikum konnte also mitentscheiden, wie es die verschiedenen Informationen zusammenbaut. Bei solchen Projekten merke ich immer wieder, wie wichtig die intermedialen Verbindungen zwischen Text und Musik sind, zwischen Bild und Musik, den Räumen, den Körpern. Wie sich Räume öffnen fürs Publikum, wo es an Situationen anknüpfen kann, die mit ihren eigenem Alltag zu tun haben. Daraus ergeben sich immer wieder neue Fragen: wie höre ich Musik, wie wird Musik aufgeführt? Und es ergeben sich neue Erkenntnisse. Das ist faszinierend.

 

Sie sind sehr kommunikativ…

Ja klar. Ich mag es auch sehr, mit Musikerinnen, mit denen ich zusammenarbeite, über längere Zeiten in Kontakt zu sein.

 

Es gibt Komponisten, Komponistinnen, Kollegen, Kolleginnen von Ihnen, für die ist es vollkommen ausreichend, am Kompositionsschreibtisch zu sitzen und Strukturen zu entwerfen. Das war für Sie nie eine Option?

Doch schon. Das eine schliesst das andere nicht aus, oder? Es gibt natürlich Phasen, da bin ich enorm zurückgezogen. Aber wenn ich mich jetzt mit Städten auseinandersetze, dann will ich durch diese Strassen laufen, die Menschen kennenlernen. Um den Kern, den Inhalt eines Projekts zu erforschen. Zum Beispiel auch bei der Installation quartet – bodies in performance, wo ich nur die Rückenmuskulatur von vier Musiker*innen gefilmt habe. Man kann sich ja vorstellen, dass je nach Musikinstrument die vielen, vielen Jahre, die man übt, die Rückenmuskulatur jeweils ganz anders formen. Jede Performance hatte ihr eigenes Bild im Endlosschwarz, es kam nur der Rücken vor, der gespielt hat. Und das war wieder eine ganz neue Art für das Publikum, Performance zu erleben. Also Klang durch die Muskulatur zu sehen.

 


Auch in Katharina Rosenbergers Klang- und Videoinstallation The journey wurden die Sänger:innen aus ungewohnt-nahen Perspektiven gefilmt, Neue Vokalsolisten Stuttgart, Regie Lutger Engels 2020

 

Es sind jeweils lange Wege zum Ergebnis, gemeinsame Wege. Aber wie kommen Sie auf solche Ideen? Sie laufen mit weit ausgefahrenen ästhetischen Antennen durch die Welt und zack, springt sie ein Thema, eine Thematik an?

Mein roter Faden ist: Im Mittelpunkt steht der Mensch, sei es jetzt der Performer mit seinem, ihrem Körper, sei es das Publikum mit seinen Ohren, Augen, Körpern. Und um was geht es? Was berührt uns eigentlich? Das ist die Frage. Was für eine Bedeutung hat die Musik auch in Zeiten der Krisen, der Zeiten, der Umorientierung? Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich als Künstlerin das wegweisend in meinen Stücken präsentiere. Aber es geht um das Hinterfragen, das Hinter-Sinnen durch neue klangliche, bildliche Situationen. Darum, sich mit dem Moment auseinanderzusetzen. Also das ist nicht ein Muss. Ein Publikum muss nie müssen. Aber ich möchte die Türen öffnen, dass es möglich ist.
Florian Hauser

 

Portrait Katharina Rosenberger © Kaspar Ruoff


Schweizer Musikpreise 2023:
Grand Prix Musik: Erik Truffaz
Musikpreise:
Katharina Rosenberger, Ensemble Nikel, Carlo Balmelli, Mario Batkovic, Lucia Cadotsch, Sonja Moonear, Saadet Türköz
Spezialpreise:
Helvetiarockt, Kunstraum Walcheturm, Pronto 

Sendungen SRF Kultur:
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Café mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess:

Musik unserer Zeit, 11.1.2023: Komponieren! Mit Katharina Rosenberger, Redaktion Florian Hauser

Musik unserer Zeit, 8.12.2021: «Sonic Matter» – ein aussergewöhnliches Musikfestival in Zürich, Redaktion Moritz Weber

Musik unserer Zeit, 8.8.2018: Shift – eine Begegnung mit der Komponistin Katharina Rosenberger, Redaktion Cécile Olshausen

neoprofiles:
Katharina Rosenberger, Swiss Music PrizesFestival Sonic Matter, Ensemble Nikel, Kunstraum Walcheturm

 

 

«In maletg da mia veta»

Gion Antoni Derungs (1935–2012) ist nicht nur der prominenteste Komponist Graubündens. Er gilt auch als eine der herausragenden Musikerpersönlichkeiten der Schweiz. Zehn Jahre nach seinem Tod erfährt er nun eine umfassende Würdigung mit einer Biografie und es fand ein Derungs-Festival in Chur statt.
Ein Porträt von Laura Decurtins.

 

Laura Decurtins
Von künstlerischer Fantasie, einer starken musikalischen Identität und unbändigem Schaffensdrang zeugt das umfangreiche Œuvre von Gion Antoni Derungs; er bezeichnete es selbst als «Bild seines Lebens». In produktiver Auseinandersetzung mit den einheimischen Musiktraditionen ebenso wie mit den internationalen musikalischen Strömungen des 20. und 21. Jahrhunderts gelangte Derungs zu seinem unverkennbaren Personalstil. Heute steht sein Name für hochstehende musikalische Kunstwerke, die einfache Lieder ebenso wie komplexe Instrumentalwerke umfassen und Laien wie professionelle Musiker ansprechen.

 


Portrait Gion Antoni Derungs zVg. Fundaziun Gion Antoni Derungs

 

Volkslieder als «Wurzel» und «Quelle»

Gion Antoni Derungs wurde am 6. September 1935 im kleinen Dorf Vella in der Val Lumnezia geboren. Nach dem verfrühten Tod des Vaters musste die Familie mit Wenig über die Runden kommen, doch auf die musikalische Erziehung der Kinder legte die selbst hochbegabte Mutter – sie war eine Schwester des berühmten Musikers Duri Sialm – nichtsdestotrotz grossen Wert. Romantische Klaviermusik, Opern und die Volkslieder der Surselva umgaben Derungs von klein auf. Als Hilfsmessmer durfte er bisweilen auch Gottesdienste auf dem Harmonium begleiten, sodass sich ihm die alten katholischen Kirchenlieder der Surselva tief einprägten. Die «canzun romontscha» wurde für Derungs gleichsam zu einer musikalisch-identitätsstiftenden Wurzel und zu einer Quelle, aus der er gerne kompositorisch schöpfte.

 

Vom Klavierstudenten zum Musikdirektor 

1949 trat Derungs in das Klostergymnasium in Disentis ein und wurde dort von Dorfmusiklehrer Giusep Huonder und zusätzlich vom Onkel Duri Sialm in Klavier und Orgel unterrichtet. Gleich nach der Matura erhielt er einen Studienplatz am Konservatorium in Zürich, wo er neben Klavier auch Komposition, Musiktheorie, Orgelspiel, Dirigieren und Partiturspiel studierte; an der Musikakademie belegte er Schulgesang. Als Nachfolger seines Onkels wurde er 1960, noch während des Studiums, zum Musikdirektor von Lichtensteig (im Toggenburg) gewählt und 1962 schliesslich zum Klavier- und Orgellehrer am Bündner Lehrerseminar in Chur, zum Organisten der dortigen Kathedrale und zum Leiter der romanischen Stadtchöre Alpina und Rezia.

 

Versuchskaninchen und «Hausinterpreten»

1968 gründete Derungs zusammen mit Pfarrer Gieri Cadruvi zur Förderung der romanischen Liedgutes die Schallplattenreihe «Canzuns popularas» (CPLP). Bis 1987 erschienen hier 13 Tonträger mit den unterschiedlichsten Programmen und Interpreten. Hauptinterpret war das von Derungs gegründete EnsembleQuartet grischun, ein Elite-Kammerchor, mit dem Derungs seine neusten, avantgardistischen Vokalkreationen ausprobieren konnte, etwa die Missa pro defunctis op. 57, für die er am internationalen Kompositionswettbewerb in Ibagué (Kolumbien) die Goldmedaille erhielt.

 

Gion Antoni Derungs, Quintett op 25 für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Zu eigentlichen «Hausinterpreten» seiner neusten instrumentalen Kammermusik wurden Derungs’ Kolleg:innen am Lehrerseminar, darunter seine Cousine, die Organistin Esther Sialm. Zwischen 1969 und 1971 bot das Radio Rumantsch Derungs’ sogenannter «musica moderna» eine Plattform – was ihm prompt den zweifelhaften Ruf eines «Modernen» einbrachte. Präsentiert wurden unter anderem das Quintett op. 25 für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, eine «symbiotische» Verbindung von linear-polyphonen Momenten mit Clusterklängen und Geräuschexplosionen, sowie die Silhouetten op. 17b für Klarinette und Klavier, wo aus einem anfänglichen «Durcheinander von Linien und Punkten» zunehmend silhouettenhafte Konturen entstehen.

 

Gion Antoni Derungs, Silhouetten op. 17b für Klarinette und Klavier, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Von der Avantgarde zurück zur Tonalität

Solche «musica moderna» komponierte Derungs von 1968 bis gegen Mitte der 1970er Jahre. Schon als Student war er fasziniert von den Experimenten der musikalischen Nachkriegs-Avantgarde, vom Serialismus, der Aleatorik und der Minimal Music, aber auch von der Polnischen Schule der 1960er Jahre mit ihrer Klangflächen- und Klangfarbenmusik. Zu den damals tonangebenden Darmstädter-Kreisen und ihren Ferienkursen für Neue Musik blieb er hingegen auf Distanz.

 

Mitte der 1970er Jahre wandte sich Derungs der «einfacheren», neotonalen Musik der Postmoderne zu, ohne jedoch den einschlägigen Kreisen angehören zu wollen. Er benutzte die musikalischen Sprachen seines Jahrhunderts immer sehr frei und undogmatisch, wobei alles seine Berechtigung haben musste. In der wiedergewonnenen Tonalität sah Derungs «hoffnungsvolle Perspektiven» für die Weiterentwicklung seines Personalstils. Da er aber nie den augenblicklichen Erfolg suchte, warteten viele Werke Jahrzehnte «in der Schublade» auf ihre Uraufführung.

 

«Vorwärts schauen»: Durchbruch und Erfolg

Seinen Durchbruch in Graubünden erzielte Derungs mit einem Vokalwerk, das in dieser Zeit entstand: mit dem Opernballett Sontga Margriata op. 78. Zurückkommen zur Tonalität hiess für ihn nämlich auch, sich wieder mit seinen musikalischen Wurzeln zu beschäftigen: «Tradition bewahren heisst vorwärts schauen». Und gerade das Volkslied erlaubte es ihm, gleichzeitig aktuelle Musik mit einem einheimischen Ton zu erschaffen. Aus dem wohl ältesten romanischen Lied La canzun da Sontga Margriata entstand so ein zeitgenössisches Werk, das 1981 in einer Bündner-Genfer-Zusammenarbeit eine erfolgreiche Uraufführung feierte. Dieser schweizweite Erfolg motivierte ihn, die romanische Sprache auch für Gattungen zu verwenden, die in Graubünden keine Tradition besassen: für das Kunstlied einerseits, aber vor allem: für die grosse Oper. Diese «erfand» Derungs gewissermassen im Jahr 1984 mit seiner ersten Oper Il cerchel magic op. 101. Auch hierfür erhielt er über die Grenzen hinaus positive Resonanz – in Romanischbünden selbst gilt diese erste «opera rumantscha» seither als musikalischer Meilenstein.

 


Gion Antoni Derungs, Il cerchel magic (der magische Kreis), 1984, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im Laufe der Jahre komponierte Derungs ebenso eine Vielzahl instrumentaler Werke: von kleinbesetzter Kammermusik über Solokonzerte bis hin zu zehn grossen Sinfonien – diese allerdings alle aus persönlichem Antrieb. Kompositionsaufträge bekam er dagegen über all die Jahre von den verschiedensten Formationen im In- und Ausland, für die er dann jeweils in kürzester Zeit passende, auf die Interpreten zugeschnittene Werke schuf. Auch blieb es nicht nur bei einer einzigen Oper: Derungs vertonte ebenso eine Kriminalgeschichte, ein Märchen und das dramatische Leben des Rotkreuzgründers Henry Dunant; zuletzt entstanden für das Festival Origen im Surses noch drei geistliche Vokalopern nach mehrsprachigen Libretti des Indendanten Giovanni Netzer. Hier arbeitete Derungs vorwiegend mit einer Mischung aus freitonaler Harmonik, impressionistischen Farben, motettischen Techniken und einer starken Wort-Ton-Beziehung.

 

«Jeder Mensch tritt einmal ab»

 Ausgereift zeigte sich diese Tonsprache in seinem letzten a-cappella-Chorwerk, dem Nachtgebet Complet op. 189, das Derungs 2011 vollendete. Es war das Jahr, in dem er die Diagnose Krebs erhielt und sich plötzlich an den Gedanken eines baldigen Todes gewöhnen musste. Tatsächlich begleitete ihn der Tod schon seit Kindesbeinen und fand im Laufe der Jahre auch Eingang in diverse Kompositionen, er verband sie gewissermassen motivisch-thematisch, etwa das Requiem op. 74 mit der 2. Sinfonie op. 110, der Trauersinfonie, oder die Sontga Margriata mit der 8. Sinfonie «Sein-Vergehen». «Jeder Mensch tritt einmal ab», notierte Derungs zur 8. Sinfonie. «Und wir alle sind uns dessen bewusst.»

 


Gion Antoni Derungs, Sinfonie Nr.8, op. 158 (2002/2003), Eigenproduktion SRG/SSR

 

Gion Antoni Derungs starb am 4. September 2012, zwei Tage vor seinem 77. Geburtstag. Er hinterlässt ein riesiges Œuvre mit 191 Opuswerken und hunderten Kompositionen ohne Opuszahl. Schon 1996 verlieh man ihm dafür den Ehrentitel eines «Orpheus der Rätoromanen», eines Künstlers also, der Grenzen überwindet und die heimische Musiktradition in die Kunst überführt. Die höchste Auszeichnung, die man als Bündnerroman:in erhalten kann, sollte allerdings erst posthum folgen: 2015 wurde Derungs von den romanischen Medien zu «in dils nos» (einem der Unseren) erkoren – hatte er doch seine romanischen Wurzeln nie verleugnet und die «kleinen Wünsche» seiner Heimat stets berücksichtigt.
Laura Decurtins

 

Laura Decurtins ist Autorin der neuen, im Herbst 2022 im Chronos-Verlag erschienenen Biografie zu Gion Antoni Derungs.

Das Churer Gion Antoni Derungs-Festival fand vom 1. bis zum 4. September 20220 u.a. im Theater Chur statt, und wurde hauptsächlich vom Ensemble ö! bestritten. Die Konzerte wurden insgesamt von RTR auf Video aufgezeichnet und stehen auf neo.mx3 zur Verfügung.

Gion Antoni Derungs / Fundaziun

Duri Sialm, Giusep Huonder, Gieri Cadruvi, Quartet grischun, Esther Sialm, Giovanni NetzerHenry Dunant

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 14.12.22: Gion Antoni Derungs-Festival in Chur, Redaktion / Moderation Cécile Olshausen

neo-profile:
Gion Antoni Derungs, Ensemble ö!

 

 

 

 

Superinstrumente und schöne Monster – Xenakis wird 100

Zum 100. Geburtstag von Iannis Xenakis finden am 28. und 29. Mai 2022 die Xenakis-Tage Zürich statt. Initiiert hat das Festival der Musikwissenschaftler Peter Révai. Ihm gelang es 1986, Iannis Xenakis nach Zürich zu holen, an die von Révai gegründete «konzertreihe mit computer-musik». An den drei Konzerten der Xenakis-Tage wird die breite Palette von Xenakis Schaffen präsentiert.

 

Portrait Iannis Xenakis 1973 © les amis de Xenakis

 

Cécile Olshausen
Der Komponist Iannis Xenakis (1922-2001) wird meist mit drei Etiketten versehen: griechischer Widerstandskämpfer mit schwerer Gesichtsverletzung, Le Corbusiers Assistent (später auch Konkurrent), und musikalischer Mathematiker. Seine Tochter Mâkhi bringt einen weiteren und überraschenden Aspekt mit ins Spiel: sie berichtet, dass ihr Vater eigentlich ein Romantiker gewesen sei. Johannes Brahms war sein Lieblingskomponist. Das Buch, das Mâkhi Xenakis 2015 über ihren Vater geschrieben hat, erscheint dieser Tage in deutscher Übersetzung. Der Mitherausgeber Thomas Meyer wird an den Xenakis-Tagen in Zürich darüber berichten. Vater und Tochter verband eine liebevolle, aber auch ambivalente Beziehung. Xenakis wollte unbedingt, dass seine Tochter den mathematisch-naturwissenschaftlichen Weg einschlägt, erst dann sollte die Kunst kommen; so wie er es vorgelebt hatte. Als Kompromiss studierte Mâkhi Xenakis dann Architektur, aber sie wurde nicht Architektin, sondern Bildhauerin und Malerin.

Xenakis also liebte Brahms und entwickelte gleichzeitig visionäre Klangwelten. Er beschäftigte sich mit elektronischer Musik und Schlagzeug, da er hier ein grosses Potential nie zuvor gehörter Klänge sah.

 


Iannis Xenakis beschäftigte sich oft mit Schlagwerk, ein Instrument, in dem er ein grosses Potenzial an neuen Klängen sah, Rebonds B für Schlagwerk (1987-1989), Marianna Bednarska, Lucerne Festival 22.8.2019, Eigenproduktion SRG/SSR
Aber auch eine der traditionellsten Gattungen, das Streichquartett, verwandelte er in etwas Neues. Seine Streichquartette werden in Zürich gesamthaft aufgeführt, und zwar vom Arditti Quartet, für das Xenakis zwei der vier Quartette komponiert hat. Eine tour de force, denn die Werke sind rabiat schwer zu spielen.

 

«Superinstrument» Streichquartett

 

Goethes Bonmot, man höre beim Streichquartett «vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten» kann man dabei gleich vergessen. Denn Xenakis bricht mit fast allen Traditionen des Streichquartetts. Da gibt es keinen Austausch musikalischer Gedanken, keine Motiventwicklungen, keine individuellen Wortmeldungen. Vielmehr scheint Xenakis hier für ein einziges, verschlungenes «Superinstrument» zu schreiben. Ein Superinstrument, das durch den ganzen Tonraum rast, von extrem tief bis spitzig hoch, das seine Klangfarben ständig ändert mit unterschiedlichen Tremoli, mit Pizzicati aller Art und mit col legno-Partien, also mit dem Bogenholz gestrichenen oder geschlagenen Tönen. Und vor allem: Die vier Streicher sausen mit ihren Fingern über die Griffbretter und hinterlassen dabei regelrechte Feuerschweife. Gerade in den ersten beiden Quartetten (ST/4 und Tetras) ist das Glissando Xenakis liebstes musikalisches Mittel. Er erzeugt damit eine faszinierende Schwerelosigkeit des Klangs. Dieses Schwebende hat Xenakis auch in seiner Architektur verwirklicht: der von ihm für die Weltausstellung 1958 in Brüssel entworfene Philips-Pavillon mit seinen kühnen Kurven ist eine in Beton gegossene Glissando-Musik.

 


In Phlegra für Ensemble von 1975 lässt sich Xenakis’ Vorliebe für Glissandi gut hören, Ensemble Phoenix Basel, Dir. Jürg Henneberger, Gare du Nord, 3.11.2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

An den Xenakis-Tagen in Zürich werden aber auch Raritäten zu hören sein, die eine ganz andere Seite seines Schaffens offenbaren, nämlich Kammermusik, die an Volksmusik erinnert. Diese Kompositionen weisen weit in Xenakis Vergangenheit. Er wurde in Rumänien geboren. Die erste Musik überhaupt, die Xenakis als Kind hörte, war Volksmusik, die in seiner Geburtsstadt Brăila in den Kaffeehäusern und im Radio erklang. Die traditionelle rumänische und griechische Musik findet ein Echo in diesen Kammermusikwerken.

Ein weiterer Aspekt von Xenakis Schaffen wird in einer Matinée am Sonntagmorgen im Pavillon Le Corbusier gezeigt. Dort erklingt Xenakis letzte elektronische Komposition: GENDY3 aus dem Jahr 1991. Hier wurde Xenakis grosser Traum eines komponierenden Automaten Wirklichkeit. In GENDY3 kontrolliert der Computer mittels Zufallsoperationen nicht nur die Klangereignisse, also Rhythmus, Tonhöhe und Tonfolge, sondern auch die Klangfarben. Im Vergleich zu manch heutiger computergenerierter Musik, die keinesfalls nach Computer klingen soll, wird bei GENDY3 nicht versteckt, dass da eine Maschine komponiert, es röhrt und quietscht und brummt. Xenakis sagte einmal, er hoffe, seine Musik töne nicht «wie ein Monster». GENDY3 klingt aber tatsächlich wie ein lebendiges Ding, – ein fantastisches, schönes Monster.
Cécile Olshausen

 

Portrait Iannis Xenakis 1988 © Horst Tappe

 

Les amis de Xenakis, Iannis Xenakis, Johannes Brahms, Mâkhi Xenakis, Thomas Meyer, Arditti Quartet, Le Corbusier, Philips Pavilion, Peter Révai, Pavillon Le Corbusier

 

Xenakis Tage Zürich, 28. und 29. Mai 2022

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 28. Mai, 20h, Konzert Streichquartette, Arditti Quartet, Vortragssaal Kunsthaus Zürich
Sonntag, 29. Mai, 11h, Gesprächskonzert, GENDY3, Pavillon Le Corbusier
Sonntag, 29. Mai, 18h: Konzerteinführung mit Thomas Meyer / Konzert Kammermusik, Swiss Chamber Soloists, Kirche St. Peter Zürich

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 25.5.2022, 20h, Musik und Architektur – Iannis Xenakis zum 100 Geburtstag, Redaktion Cécile Olshausen
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 23.6.2021, 20h, Nackte Wucht: Iannis Xenakis’ “Metastasis”, Redaktion Moritz Weber

neo-Profile:
Iannis Xenakis, Arditti Quartet

“Schweizer Tage für neue Kammermusik an der Ruhr”

Vom 6. bis 8. Mai stehen an den Wittener Tagen für neue Kammermusik Arbeiten von Komponist:innen aus 17 Nationen auf dem Programm. Beinahe ein Drittel der Stücke stammen aus der Hand von Schweizer Komponierenden.

Peter Révai
Die Wittener Tage für neue Kammermusik gelten landauf landab als das renommierteste Festival für avanciertes Musikschaffen. Wer den aktuellen Stand der Dinge in Sachen zeitgenössisches Musikdenken erfahren respektive sich anhören will, reist wie vor der Pandemie für ein Frühlingswochenende in den Südosten des Ruhrgebietes im Land Nordrhein-Westfalen. Das Festival wird seit 1969 von der Stadt Witten und dem Westdeutschen Rundfunk WDR gemeinsam veranstaltet. Sein Renommee hat es dem WDR-Musikredaktor Harry Vogt zu verdanken.  Künstlerischer Leiter seit 1990, ist es ihm stets gelungen, durch seine kenntnisreiche Auswahl die Spreu vom Weizen zu trennen und das Relevanteste des aktuellen Musikgeschehens vorzuführen. Die Pointe daran ist, dass es sich bei den Stücken meistens um Auftragswerke handelt, die weltweit erteilt werden, hier zu Ihrer Uraufführung gelangen und in der Regel von ständigen Sprengungen der Sparte Kammermusik zeugen, indem bisherige Regeln radikal gebrochen werden. Eine weitere Spezialität von Vogt: Er lässt die Stücke jeweils von den bestmöglichen InterpretInnen spielen. Zum grossen Bedauern der Szene gibt Vogt mit der diesjährigen Ausgabe die Leitung altershalber ab.

 

Portrait Harry Vogt © WDR / Claus Langer

 

Helvetier ante portas

Zum hohen Anteil an Beteiligten aus der Schweiz an dieser Ausgabe lässt Vogt den Spruch fallen, dass das diesjährige Festival fast schon als »Schweizer Tage für neue Kammermusik an der fernen Ruhr durchginge«. Auch in der Schweiz als Dozierende wirkende Musiker:innen mit ausländischem Hintergrund sind diesmal zahlreich vertreten wie etwa der E-Gitarrist Yaron Deutsch, der ab Herbst an der Basler Musikhochschule den Bereich zeitgenössische Musik leiten wird, die ebenfalls dort unterrichtende Sopranistin Sarah Maria Sun oder die in Lugano geborene Dirigentin und Arturo-Tamayo-Schülerin Elena Schwarz. Sie absolviert als Leiterin des Ensemble Moderne ein Monsterprogramm mit drei Konzerten mit Werken u.a. des Altmeisters Georges Aperghis oder der als Composer-in-Residence eingeladenen 38 Jahre alten Serbin Milica Djordjevic. Sie lebt in Berlin, ist u.a. Schülerin von Kyburz gewesen, und sorgte erstmals in Witten 2017 mit quirlliger Klangbehandlung in ihrem verdoppelten Streichquartett für Furore.

 

Portrait Elena Schwarz, Luzern, 19.03.2016 ©: Elena Schwarz/ Priska Ketterer

 

Daneben hat auch der in Biel lehrende Teodoro Anzelotti einen Spezialauftritt. Für Witten hat er, für den mehr als 300 Solostücke entstanden sind, sich nun auch ein wegen den Covid-19-Massnahmen längst überfälliges Solo-Akkordeon-Stück des in Berlin lebenden Hanspeter Kyburz vorgenommen. Für das Werk seien sie, berichtet Anzelotti, seit gut 15 Jahren im Gespräch.

Anzelotti erwartet viel davon, zumal es, so der Musiker, wenige Kompositionen gäbe, in denen sich die Grundelemente Strukturdenken und Klangsinnlichkeit so gut miteinander verbänden. Wie der Komponist wissen lässt, heisst das Stück Sisyphe heureux nach dem existentialistischen französischen Autor Albert Camus, nur um zum Schluss nachzuschieben, dass man sich Sisyphos glücklich vorzustellen habe – »il faut imaginer Sisyphe heureux«.

Auch das neue Trio von Beat Furrer hat eine längere Genese hinter sich. Ins Offene hätte bereits 2018 fertig sein sollen, verzögerte sich aber wegen seiner Oper Violetter Schnee, deren Uraufführung 2019 in Berlin erfolgte. In den darauf folgenden zwei Jahren wütete bekanntlich das Virus. Furrer hat das Stück dem Trio Accanto mit dem Basler Saxophonisten Marcus Weiss auf den Leib geschrieben. Seine Grundlage ist wie bei vielen Werken Furrers die Idee der Metamorphose. Die permanente, organische Verwandlung vollzieht sich auf mehreren Ebenen, die durch Schnitte und Kontraste plötzlich durchbrochen werden, was zu hohen emotionalen Qualitäten und körperlichen Momenten führt.

 


Beat Furrer, Il mia vita da vuolp, Marcus Weiss, Saxofon, Rinnat Moriah, Sopran, UA, Festival Rümlingen 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Furrers jüngere Arbeiten thematisieren in besonderer Weise das Problem der Prozessualität. Furrer meint dazu: »Das Phänomen des Verdoppelns, aber auch des Verzerrens in einem Schattenbild hat mich interessiert, und resultierend aus einem Ineinanderschneiden von Stimmen das Entstehen von Prozesshaftem«.

Weitere Uraufführungen betreffen Konzerte mit Werken der Komponistinnen Betsy Jolas, Sarah Nemtsov, Rebecca Saunders (in Kooperation mit Enno Poppe) und der iranischen Elnaz Seyedi. Trotz ihren 96 Jahren wartet gerade das Werk von Jolas, das sich stets gegen die serielle Abstraktion der französischen Zeitgenossen entgegen stellte,  im deutschsprachigen Raum auf seine gebührende Rezeption. Die Schülerin von Darius Milhaud und Olivier Messiaen war lange am Radio, danach als Nachfolgerin von Messiaen Dozentin für Analyse und Komposition am Conservatoire de Paris tätig. Ihres und das Stück von Nemtsov führt das Trio Catch mit der Zürcher Cellistin Eva Boesch auf.

 

 Ricardo Eizirik, Trio Catch: obsessive compulsive music UA 2019

 

Im Park

Seit mehreren Jahren gehören Klanginstallationen zum unverzichtbaren Bestandteil des Festivals. Dafür werden jedes Jahr verschiedene Ecken und Orte Wittens in Beschlag genommen. Diesmal ist es ein Park, der 1906 für Schwestern einer evangelischen Ordensgemeinschaft, die im Krankenhaus arbeiteten, als Ort der Erholungen konzipiert wurde. Sie sollten dort »Licht und Luft« bekommen. Nun bietet er Platz für zwölf Klanginstallationen und Interventionen. Von den zwölf beteiligten KlangkünstlerInnen sind allein vier mit der Schweiz verbunden. Die Freuden und Sehnsüchte der Schwestern von damals versucht die an der BKHS in Bern dozierende bildende Künstlerin und Performerin Lilian Beidler zu ergründen.

 


Lilian Beidler, Art Mara – Women’s ground 2018

 

In ihrer Arbeit Lustwurzeln und Traumrinden wolle sie die »Natur abhören«, lauschen, ob die vertraulichen Gespräche der »lustwandelnden« Schwestern noch in alten Bäumen steckten, in den Boden gesickert seien oder im Bach murmelten, beschreibt SRF-Redaktorin Cécile Olhausen die Arbeit. Demgegenüber steuert der Performance-Fuchs Daniel Ott eine durchlässige Intervention für Trompete, Steeldrums und Stimmen ad libitumunter seiner Leitung bei.

 

Um ganz andere Naturtöne geht es bei der Live-Installation Mum Hum des Zürchers Mauro Hertig: Basismaterial sind Klänge des Ensemble Garage. Sie sollen solchen entsprechen, die ein ungeborenes Kind in einem Mutterleib hören könnte. Hertig liefert ein Installation-Setting, in dem die eine Seite eines Telefons die Aussen­welt repräsentiert und die andere die Geräusch­kulisse des Fötus im Bauch von Hertigs Lebenspartnerin, der Künsterin Camille Henrot.

 

Mauro Hertig: The great mirror, Version Royaumont 2019

 

Von der in Basel lehrenden Andrea Neumann stammt die Musik-Choreografie Überspringen für vier Performende und vier mobile Lautsprecher. Seit 1996 entwickelt die Freiburgerin mit dem sogenannten Innenklavier ein eigenes Instrumentarium, mit dem sie Schönheiten in Geräuschen auf der Spur ist.

Was ist der Grund für eine solche Anballung von Arbeiten Schweizerischer Provenienz? Zum einen dürfte dies dem »Aufführungsstau« in Folge der Lockdown-Massnahmen geschuldet sein. Es gab in den letzten zwei Jahren auch in Witten – abgesehen von einigen Streaming-Übertragungen – keine Live-Konzerte mehr. Zum anderen dürften viele helvetische Komponist:innen wie Furrer und Kyburz gut zum »Beuteschema« des scheidenden intendanten passen: Denn sie kreieren Stücke, in denen technische Raffinesse mit grossen emotionalen Qualitäten verbunden werden; etwas, das beispielsweise Arnold Schönberg mit „Triebklänge“ umschrieben hatte.
Nicht zu unterschlagen ist ausserdem die nicht unwesentliche »Mitgift« aus der Schatulle der helvetischen Förderinstitution Pro Helvetia.
Peter Révai

 
Die diesjährige Ausgabe der Wittener Tage für neue Kammermusik finden von 6. bis zum 8. Mai statt. Die Konzerte werden live oder zeitversetzt vom WDR übertragen.
Teodoro Anzellotti, Hanspeter Kyburz, Trio Accanto, Arturo-Tamayo, Elena Schwarz, Georges Aperghis, Rebecca Saunders, Sarah Nemtsov, Betsy Jolas, Enno Poppe, Elnaz Seyedi, Camille Henrot, Andrea Neumann, Milica DjordjevicYaron Deutsch

neo-Profile:
Marcus Weiss, Beat Furrer, Lilian Beidler, Mauro Hertig, Sarah Maria Sun, Daniel OttTrio Catch, Ensemble Modern

Der Wahnsinn der Welt

Cécile Olshausen
“Manchmal habe ich das Gefühl, ich wohne im Zug», lacht Helga Arias. Die Komponistin kommt aus dem spanischen Baskenland, ist 1984 in Bilbao geboren und lebt in der Schweiz. Sie selbst bezeichnet sich als Nomadin, denn seit ihrer Kindheit ist sie ständig unterwegs und hat schon an vielen verschiedenen Orten gelebt. Im Frühling 2020 aber steht plötzlich alles still, wegen Corona.

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

Stundenlange Video-Calls

Helga Arias hatte eigentlich einen längeren Aufenthalt in den USA geplant; das International Contemporary Ensemble(ICE), ein Künstlerkollektiv aus New York, hatte sie eingeladen als composer in residence. Aber die Komponistin muss wegen der Pandemie in Europa bleiben. Und auch die Musiker:innen des ICE in New York sind isoliert und können sich wegen des Lockdowns nicht zu Proben treffen. Dieser Stillstand setzt bei Helga Arias kreative Energien frei. So entsteht das Werk I see you für verstärktes Streichquartett und Live-Video, das am Eröffnungskonzert des Festival SONIC MATTER im Dezember 2021 in Zürich uraufgeführt wurde.

Weil also weder reale Begegnungen noch die geplanten kollektiven Arbeitsformen möglich sind, führt Helga Arias das Ensemble per Video-Call zusammen. Zuerst verbindet sie sich  einzeln mit jedem Mitglied, nimmt stundenlang Klänge und Töne auf, aber auch Gespräche über Kunst und Geschmack, über Musik und seelisches Befinden. Das audio-visuelle Material fügt sie zusammen und verteilt es dann wieder unter den Quartett-Mitgliedern. So verwebt sie alle miteinander, obwohl jeder einzeln zu Hause festsitzt. Eine künstliche, aber auch kunstvolle Form der Kommunikation.

Erst wenige Stunden vor der Premiere in Zürich haben sich die Komponistin und das Quartett schliesslich persönlich kennengelernt und konnten vor Ort die virtuell geschaffene Video- und die Quartett-Partitur von I see youzusammensetzen. In der Corona-Pandemie ist also ein kreatives und variables Modell der Zusammenarbeit entstanden. Ein Modell, bei dem alle Beteiligten, sowohl Komponistin als auch die Spielenden gleichberechtigt künstlerisch involviert sind.

 

Helga Arias, I see you, International Contemporary Ensemble, UA Festival Sonic Matter Zürich, 2.12.2021 / Sound-recording: Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im Rausch der Reize

Helga Arias ist eine sensible Zeitgenossin. Sie beobachtet alles und blendet beim Komponieren die Welt, auch die virtuelle Welt der digitalen Medien nicht aus: Hatespeech, Me Too-Debatte und Fake News sind Elemente ihrer Musik. «Der Kontakt mit der Gesellschaft ist mir sehr wichtig», sagt sie, «es heisst ja zeitgenössische Musik, also muss sie auch zeitgenössisch sein. Was in der Welt passiert, das hat auch eine Wirkung auf meine musikalischen Ideen.»

In ihrer Performance Hate-follow me – die Uraufführung fand am Musikfestival Bern im September 2021 statt – mischt Arias die vokalen Klänge von vier Sopranistinnen mit den aufdringlichen Signalen von Handys und per Video rauschen dazu Bilder aus Social Media vorbei: Gehässige Beleidigungen wechseln ab mit aufdringlichen Körperposen, eine Mischung aus sinnentleerter Verführung und Hass. Begleitet von unaufhörlichem Vibrieren, Klingeln, Zwitschern und Piepen.

 

Helga Arias: Hate-follow me, UA Musikfestival Bern, UA 5.9.2021

 

Dieses bedrängende Übermass an akustischen und visuellen Reizen ist dabei das Ziel der Komponistin. Helga Arias macht auf diese Weise aufmerksam auf den Wasserfall an Meldungen, der tagtäglich auf uns einprasselt. Selbst wenn wir eine Nachricht lesen könnten, wird sie sofort von der nächsten verdrängt. Die einzelne Information verliert jede Bedeutung. Dabei verdichtet die Komponistin Klang und Bild auf erschreckend faszinierende Weise und man beginnt zu ahnen, wieso gerade Hass-Nachrichten eine so schnelle und grosse Verbreitung finden.

 

«So sorry»

Hate-follow me zeigt drastisch auf, dass der unbegrenzte Raum des World Wide Web nicht für ein Maximum an Offenheit und Diversität genutzt wird. Vielmehr verengt sich die Perspektive, wenn Influencerinnen und Blogger normierte Klischees verbreiten und alte Rollenbilder zementieren. Und anstatt im Internet differenzierte Vielstimmigkeit zu feiern, lässt ungehemmte Hassrede viele verstummen. Hate-follow me endet – nach einem medialen Kollaps – in einem Schwall von Entschuldigungen. Versöhnlich aber ist das nicht. Denn auch die tausendfachen «Sorrys» wirken klebrig und scheinheilig. Dieses Stück ist ein erstaunliches Paradox: Helga Arias komponiert eine Musik, die uns nicht loslässt, aber eigentlich auffordert, sie abzustellen. Wenn wir es tun, entziehen wir uns dem Wahnsinn der Welt, wenn wir es nicht tun, unterwerfen wir uns ihm.

Für Helga Arias sind Werke wie Hate-follow me oder I see you Möglichkeiten, über ihre eigene Rolle als Komponistin und ihre Beziehung zu Interpret:innen und Publikum nachzudenken: «Die Interpreten meiner Musik sind keine Spielmaschinen und ich bin kein Chef, der sagt: du machst das! Vielmehr geht es um komplexe Interaktionen.» Auch mit dem Publikum. Und so vermittelt Helga Arias auch keine Botschaft. Wir Zuhörenden müssen selbst herausfinden, wie wir mit den Widersprüchen und Verrücktheiten klarkommen.
Cécile Olshausen

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

International Contemporary Ensemble

Am 26. März ist Helga Arias in Ascona in einer conferenza-concerto im Rahmen des Festival Ticino Musica zu erleben.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit: I see you – die Komponistin Helga Arias, Redaktion Cécile Olshausen, Mittwoch, 9.2.22, 20:00h / Samstag, 12.2.22, 21:00h
SRF-online, 14.2.22: Komponistin Helga Arias – Sie macht auch Hate Speech zu Musik, Text Cécile Olshausen

neo-Profile:
Helga Arias, Festival Sonic Matter, Musikfestival Bern, Ticino Musica

 

Ohne Ohrwürmer! Festival ear we are

Cécile Olshausen
Es ist ein mutiges Festival. Ein innovatives. Ein Festival für neue Hörerfahrungen jenseits des Mainstreams, das ear we are. 1999 in Biel gegründet als Bühne für die freie Improvisation, ist es heute zum international beachteten Festival für Jetzt-Musik geworden. Das Publikum dankt es dem risikofreudigen Festival-Kuratorium und erscheint jeweils zahlreich in der Alten Juragarage am Rande der Bieler Altstadt. Es kommt mit offenen Ohren und der Lust, Unbekanntes zu entdecken: ear we are!

 

Christine Abdelnour & Magda Mayas treten am Festival ear we are 2022 auf ©zVg Festival ear we are

 

Das Festival ear we are ist wie ein gut sortierter Buchladen, wo man – nebst den Bestsellern – Literatur von unbekannten Schriftstellerinnen und Dichtern vorfindet und sich genau diese Lektüre mitnimmt in vollem Vertrauen auf die kluge Vorauswahl der Buchhändlerin. So bringt auch das Kuratorium von ear we are alle zwei Jahre Musikerinnen und Musiker nach Biel, die manchmal bekannte Cracks, oft aber auch Geheimtipps sind. Die vier künstlerischen Leiter des Festivals sind Martin Schütz, Hans Koch, Christian Müller und Gaudenz Badrutt; alle vier ausgewiesene Künstler der freien Improvisation, die dieses Genre in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit ihren eigenen Interventionen weiterentwickelt und in die Zukunft geführt haben.

 

Martin Schütz, Cellist und einer der Co-Kuratoren des Festivals: Solo, live Dezember 2019, zVg. Martin Schütz

 

Ihre Programmarbeit für das Festival ear we are ist ein wesentlicher und wertvoller Prozess: da wird viel Musik zusammen angehört, diskutiert, verworfen, neu bewertet. Das Kuratorium sucht nach kreativen Musikerinnen und Musikern, die Wagnisse eingehen, mit dem Risiko spielen, die im besten Sinne des Wortes improvisieren, also nicht immer schon im Voraus genau wissen, wohin sie der eingeschlagene Weg, die einmal angeschlagenen Töne führen werden. Solchen Kunstschaffenden bietet ear we are einen kreativen Raum. Und so wird jeweils während dreier Tage über musikalische Stilgrenzen hinweg experimentiert und laboriert. In einem dafür passenden Ort: nämlich einer Fabrikhalle, die extra für das Festival leergeräumt wird, die Alte Juragarage, erbaut 1928 im Bauhausstil. Ein spezieller Ort für spezielle Musik. Für Improvisation, aber auch für Konzept-Musik und Komposition. Eben: für Jetzt-Musik.

 

Es ist durchaus kein Zufall, dass ein solch innovatives Musik-Festival so erfolgreich in Biel gedeihen konnte. Denn in Biel ist die Szene der freien Improvisation besonders lebendig. Überhaupt hat die sogenannte «Freie Improvisation» in der Schweiz eine lange Tradition. Es war Anfang der 70er-Jahre, als sich eine ganze Reihe junger Musikerinnen und Musiker eine neue Musik erfand. Jene, die vom Jazz herkamen, wollten nicht mehr Standards und Grooves spielen und sogar der Free Jazz war ihnen ein zu enges Korsett; und jene, die von der Klassik herkamen, wollten nicht mehr akkurat notierte Partituren voller Geräusche und Spezialeffekte stundenlang einüben und nachspielen, sondern sie wollten selbst erfinderisch werden. So entstand die frei improvisierte Musik, und sie entwickelte sich in keinem Land so schnell wie in der Schweiz. Es gab Subventionen und neue Festivals, die Musikschaffenden organisierten sich, und bald schon wurden sie zu grossen internationalen Festivals eingeladen. Längst ist die freie Improvisation auch Teil des institutionellen Ausbildungsprogramms der Musikhochschulen geworden.

 

Improvisation – kollektiv geprägte Kunst

Die freie Improvisation ist eine kollektiv geprägte Kunst; man spielt zusammen, die gemeinsamen Auftritte sind nicht nur musikalische, sondern auch soziale Begegnungen, man gibt aufeinander acht, leiht sich ein Ohr. Diese Kunst des Aufeinander-Hörens ist durchaus ein Qualitätskriterium: Wer nicht hören kann, was die andern spielen oder singen, wer ausschliesslich seine eigene Partitur im Kopf verfolgt, erweist sich letztlich als schlechter Improvisator. Aus all diesen musikalisch-ästhetischen und psychosozialen Prämissen ist ein spezifisches Musikgenre entstanden, das sich durchaus beschreiben lässt: Musikalische Bögen aus dem Nichts ins Nichts, eruptive Momente, das Vermeiden von «normalem» Singen oder Spielen, dafür viele Geräusche, die aus der Stimme heraus erforscht und an den Instrumenten erfunden werden, überraschende Spielmittel wie Stricknadeln, Bürsten oder Drähte, oft auch zahlreiche elektronische Hilfsmittel; und vor allem: die Musik wird aus dem Moment heraus entwickelt, nichts ist vorgeschrieben. Und doch sind dies alles Abmachungen, die natürlich auch eingeübt, gelehrt und gelernt werden. Das kann dazu führen, dass die beabsichtigten Neuerungen und Aufbrüche der improvisierten Musik manchmal etwas vorhersehbar werden und sich die freie Improvisation in ihrer eigenen Freiheit begrenzt.

Doch in der Uhrenstadt Biel werden die Zeiger immer wieder auf Jetztzeit gestellt, auch in der freien Improvisation. Dazu trägt das Festival ear we are viel bei, nicht zuletzt, weil es Musikschaffende aus der ganzen Welt einlädt, die ihre spezifischen Erfahrungen und Hintergründe mit einbringen. Gerade die Ausgabe von 2022, die eigentlich letztes Jahr hätte stattfinden sollen und wegen Corona verschoben wurde, zeigt deutlich, wie sehr sich die Genre-Grenzen auflösen und individuell geprägte Fragestellungen und Experimente im Zentrum stehen.

Da ist zum Beispiel die Schweizer Vokalistin Dorothea Schürch: Ihre Stimme ist ihr Mittelpunkt, ihr Klanglabor, ihr Forschungswerkzeug; dabei kreiert sie ihre Soundlandschaften ganz ohne elektronische Transformationen. Über Stimmexperimente der 1950er Jahre hat sie jüngst eine Dissertation geschrieben.

 


Ensemble 6ix mit Dorothea Schürch, Improvisationen zu Dieter Roth, Kunsthaus Zug 27.11.2014, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Auch die britische Trompeterin, Flügelhornistin und Komponistin Charlotte Keeffe fokussiert auf ihr Instrument. Sie beobachtet fasziniert, wie Maler ihr Werk auf der Leinwand kreieren. So erkundet auch sie in ihren pointierten Improvisationen Farben und Formen und versteht ihr Instrument als eine Art „Klangpinsel“. Oder da sind die betörenden Töne des Australiers Oren Ambarchi zu entdecken. Der in Sydney geborene Musiker, ursprünglich brillanter Schlagzeuger in Freejazz-Bands, hinterfragt die sogenannt professionelle «Beherrschung» eines Instruments: Ohne je eine Unterrichtsstunde genossen zu haben, nimmt er sich die Freiheit und entfaltet auf der Gitarre mit diversen Utensilien seine surreale Musikwelt. Und die amerikanische Dichterin, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin Moor Mother setzt eurozentristischen Traditionen, afroamerikanische Kultur und gesellschaftskritischen Rap entgegen: Da werden ganz konkrete politische Positionen laut, die so explizit in der freien Improvisation selten zu hören sind.
Also: Ohren auf für ear we are 2022!
Cécile Olshausen

 

Zu erleben am ear we are 2022: die amerikanische Dichterin, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin Moor Mother

 

Das aktuelle Programm von earweare, 3.-5.2.22, kann sich coronabedingt kurzfristig ändern.

Hans Koch, Christian Müller, Gaudenz Badrutt, Charlotte Keeffe, Oren Ambarchi, Moor Mother

 

Sendung SRF2 Kultur:
Musik unserer Zeit / Neue Musik im Konzert 2.3.2022:
Ohne Ohrwürmer! Das Bieler Festival earweare, Redaktion Cécile Olshausen

Musik unserer Zeit, 13.10.2021: Vinyl – Hype, Retro Kult, Gespräch mit Oren Ambarchy, Redaktion Gabrielle Weber

neo-Profile:
Martin Schütz, Dorothea Schürch, Florian Stoffner

 

 

 

Concerts à l’aube: Nichts für Morgenmuffel

 

Ensemble Batida @ Les aubes musicales Genève ©zVg Batida

 

Gabrielle Weber
Den Sonnenaufgang, direkt am Genfersee erleben, dazu Live-Musik open air: was gibt es Schöneres? Die ‘Musiques à l’aube‘ in Lausanne und ‘les aubes musicales‘ in Genf, zwei open air-Konzertreihen laden Frühaufsteher und Frühaufsteherinnen zum frühmorgendlichen Konzertgenuss. ‘Vivre la musique’ – das könnte als Motto über dem Sommer in der Romandie stehen.

Die Lausanner ‘musiques à aubes’ gibt es seit 2017. Jeweils samstags, frühmorgens um 6h, treffen sich da am zentralen Stadthafen ‘jetée de la Compagnie’ Kenner, Liebhaberinnen und Neugierige zum einzigartigen Tagesbeginn mit Live-Musik.

Die Reihe wurde von vier Jazzliebhaberinnen gegründet und fokussierte in den ersten Jahren mit zunächst fünf Konzerten ganz auf Jazz. Dieses Jahr ist das Programm breiter gefasst und es stehen zehn Konzerte an: “Der Live-Moment ohne Zwang und ohne Grenzen, für ein Publikum mit neugierigen Gourmet-Ohren” soll im Zentrum stehen, meinen dazu die Kuratorinnen. Das Programm variiert diese Saison zwischen Jazz, Improvisation, experimenteller Moderne, Elektroakustik und Rock. Ganz selbstverständlich stehen da Solo-Konzerte der Pianisten Nik Bärtsch oder Cédric Pescia neben Auftritten von Louis Jucker oder Evelinn Trouble.

Am 10. Juli ist bspw. der Zürcher Pianist Nik Bärtsch zu hören. Allein am Konzertflügel spielt er Stücke aus seiner neuen CD ‚Entendre‘. Sie kam im März 2021* heraus und versammelt von Bärtsch so bezeichnete “Module”, solo interpretiert von ihm am Klavier. Die “Module” sind über die Jahre entstandene, variabel zu interpretierende, repetitive minimale Stückvorgaben – Bärtsch spielt sie auch immer wieder mit seiner Band Ronin. Zwischen Komposition und Improvisation erstehen sie mit jeder Live-Performance neu und anders.

 


Nik Bärtsch & Ronin, Modul 58, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

Zu hören ist auch der Lausanner Pianist Cédric Pescia. Er spielt am 31. Juli auf einem präpariertem Klavier die ‘Sonatas and Interludes’ von John Cage (1946-48). Bestückt mit Objekten aus Holz, Metall oder Plastik zwischen den Saiten wird das Klavier hier zum kleinen Perkussionsemble.

 

Cédric Pescia ©zVg Musiques à l’aube Lausanne 

 

Eine akustische Oase inmitten von Lärm und Asphalt – im heissesten Monat August

 

Auch in der Stadt Genf gibt es eine eigene Reihe für Frühaufsteher, Les Aubes musicales, jeweils sonntags um 6h früh. Mitten in der Stadt, im Stadtbad ‚jetée des paquis‘ seit 2007, präsentiert sie sich als frühmorgendliches Fenster zur Welt. Sie ist eine akustische Oase inmitten von Lärm und Asphalt, im heissesten Monat August.

Auch hier ist die stilistische Offenheit charakteristisch. Auch hier geht es ums gemeinsame Erleben. “Die Reihe ist etwas Einzigartiges, mit nichts zu Vergleichendes. Da geht es um den magischen Moment zwischen Dunkelheit und Licht”, sagt Marie Jeanson, Co-Leiterin der Reihe und nun auch Intendantin des Neue Musik-Festival Archipel Genève.

Das Genfer Neue Musik-Ensemble Contrechamps eröffnet mit seinem Auftritt an ‚Les Aubes musicales‘ jeweils die Saison. Auch für Serge Vuille, den künstlerischen Leiter von Contrechamps, ist das immer “ein magisches Ereignis”. Dieses Jahr spielt Contrechamps am 22. August Gérard Griseys ‚Prologue‘ von 1976, dazu das Stück ‚Mantiq-al-Tayr‘ von Geneviève Calame, entstanden 1973, sowie Claude Debussys ‘Sonate’ von 1915.

 

Seong-Whan Lee, Là où les eaux se mêlent, Contrechamps, création 2021, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Geneviève Calame, die 1993 verstorbene Genfer Komponistin, widmete sich insbesondere der Kombination von Elektronik mit akustischen Instrumenten oder der elektroakustischen Musik. Nach Studien in den USA, Paris und Stockholm begründete sie in Genf das ‚Studio de musique électronique, Vidéo et d’informatique‘ mit, und komponierte zahlreiche -immer noch wenig bekannte Stücke – für klassisches Orchester, Synthesizer oder audiovisuelle Installationen.

Beide Reihen verschreiben sich lokalen, aber international ausstrahlenden Musikschaffenden. Und beide verstehen zeitgenössisches Musikschaffen umfassend und offen.

Bewundernswert unkompliziert ist in der Romandie der Umgang mit Musikgenres – Barrieren sind kaum zu spüren, weder bei den Veranstaltern noch beim Publikum.

Das gemeinsame Erleben und die Offenheit für Unbekanntes stehen im Vordergrund.

Musik ist Leben und Lebensgenuss, Sinnlichkeit und Poesie: Dafür steht man in Lausanne und Genf auch gerne früh auf.
Gabrielle Weber

 

Nik Bärtsch ©zVg Musiques à l’aube Lausanne

Nik Bärtsch: Entendre, ECM, März 2021

 

Musiques à l’aube, Lausanne, Konzerte samstags um 6h, 26. Juni – 28. August, Ort: ‘La Jetée de la Compagnie & Le Minimum’. Bei schlechtem Wetter: Verschiebedatum jeweils folgender Sonntag, Entscheid am Vorabend.

Les Aubes musicales, Genève, Konzerte sonntags um 6h, 1. – 29.August, Ort: bain des Paquis. Bei schlechtem Wetter inhouse im: l’Abri

Festival de la Cité de Lausanne, 6.-11.7., Konzerte ganze Stadt, rund um die Uhr

 

Sendungen SRF 2 Kultur
Klangfenster, 20.6.21: Nik Bärtsch, Entendre, Redaktion Cécile Olshausen

Jazz & World aktuell, 16.3.21: Mehr als die Summe, Nik Bärtsch im Interview, Redaktion Roman Hošek

Blick in die Feuilletons, musique à l’aube, 13.7.21 (min 00:18), autor Gabrielle Weber

neo-profiles:
Nik Bärtsch, Contrechamps, Ensemble Batida, Festival Archipel

tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt

Bereits 2019 initiierten die beiden professionellen Klangkörper des Kantons Graubünden, das Ensemble ö! und die Kammerphilharmonie Graubünden, gemeinsam die Biennale für Neue Musik Graubünden – tuns Contemporans.

Die zweite Ausgabe von tuns contemporans legt den Fokus einerseits auf Komponistinnen, andererseits auf das lokale Musikschaffen. Aus einem Call for scores for ladies only werden drei Stücke uraufgeführt, ausserdem vergab die Biennale Auftragskompositionen an drei Generationen Bündner Komponisten.

Das Motto: Graubünden trifft Welt, Bekanntes trifft Unbekanntes, Neues trifft noch Neueres.

Kammerphilharmonie Graubünden ©zVg Kammerphilharmonie Graubünden

Gabrielle Weber
Die Churer Biennale für zeitgenössische Musik tuns contemporans hat einen etwas schweren Start in ihre erst zweite Ausgabe. Im September 2020 lancierte sie einen Call for Scores for ladies only. Zu dem Zeitpunkt sah die nahe Zukunft für die Musikwelt gerade etwas besser aus. Man konnte hoffen, dass im Frühling danach Live-Konzerte stattfinden können.

Nun, mitten in der dritten Pandemiewelle ohne baldige Aussicht auf Livekonzerte mit Publikum, entschied man sich, die Biennale dennoch durchzuführen. Wie so viele Festivals, live gespielt, ohne Publikum vor Ort, ausgestrahlt per Live-stream.

Glück im Unglück. Denn an vier Konzerten von Freitagabend bis Sonntag, 9.-11. April, wird nun eine Vielfalt an neuen Werken zu hören sein, in und aus Chur, in der ganzen Welt.

Die Biennale entstand auf Initiative von David Sontòn Caflisch, dem künstlerischen Leiter des Ensemble ö!, zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden.

David Sonton Caflisch ©zVg David Sonton Caflisch

 

Sontòn Caflisch ist nebst seinem Engagement für das ensemble ö! als Geiger in diversen Formationen zeitgenössischer Musik und als Komponist aktiv. Das Churer Ensemble ö! bringt regelmässig neue Stücke von Nachwuchskomponist*innen, aber auch gezielt von Bündner Musikschaffenden zur Uraufführung. Es spielt nebst Chur immer auch in Zürich und Basel und gastiert international.

 

Stefanie Haensler, Im Begriffe für Quintett, UA ensemble ö! 2016, Video Eigenproduktion SRG/SSR, Launch neo.mx3 & Ensemble ö!, Postremise Chur, 11.Oktober 2020.

Call for scores – for ladies only!

Die auf den Call for Scores eingesandten Partituren wurden von einer Jury bestehend aus ausgewiesenen Kennerinnen und Kennern der Neue Musik-Szene beurteilt:
Da sind einerseits zwei Frauen, Asia Ahmetjanova, Pianistin und Komponistin Ensemble ö!, und Karolina Öhman, Solo-Cellistin und u.a. Mitglied des Ensemble Mondrian. Dazu kamen Philippe Bach, künstlerischer Leiter Kammerphilharmonie Graubünden und tuns contemporans, Baldur Brönnimann, Gastdirigent tuns contemporans und künstlerischer Leiter Basel Sinfonietta, wie auch Sontòn Caflisch.

Aus den 124 eingereichten Werken wurden folgende drei Stücke für eine Uraufführung ausgewählt: Fragmente einer Erinnerung für kleines Ensemble von Elnaz Seyedi (Teheran), Still Images von Vera Ivanova (Moskau) für grosses Ensemble und Accord von Katrin Klose (Deutschland) für Kammerorchester. Sie werden an je einem der Konzerte der Biennale uraufgeführt.

Katrin Klose: Preisträgerin Call for Scores / Kat. Kammerorchester, UA Accord mit Kammerphilharmonie Graubünden, Eröffnungskonzert Theater Chur, Freitag, 9.4.21, 19h.

Zu hören gibt es an tuns contemporans vier Generationen des Bündner Musikschaffens. Es wurden Kompositionsaufträge für drei neue Werke vergeben – an Sontòn Caflischs, Martin Derungs und Duri Collenberg. Und in einer Matinée am Sonntag werden Lieder und ein Cello solo von Benedikt Dolf (1918 -1985) wieder aufgeführt.


Benedikt Dolf, Concertino für Streichorchester 2008, Eigenproduktion SRG/SSR

Für das einheimische Musikschaffen setzt sich die Kammerphilharmonie Graubünden seit jeher ein, sowohl in Chur, wie auch an kleineren Konzertorten in den Tälern Graubündens. Mit ihrem Engagement für tuns contemporans  und den Call for Scores setzt sie nun zusätzlich ein Zeichen für die Erneuerung des Orchesterrepertoires und für mehr Genderdiversität bei der nachrückenden Generation Orchesterkomponierender.

Als composer in residence konnte der international arrivierte finnische Komponist Magnus Lindbergh gewonnen werden. Er ist während der gesamten Biennale anwesend. In jedem der vier Konzerte werden Werke von ihm aufgeführt.
Am Eröffnungsabend mit der Kammerphilharmonie Graubünden im Theater Chur ist sein Violinkonzert von 2006 zu hören. Zusammen mit einer Uraufführung von Sontòn Caflisch und dem neuen Stück von Katrin Kloss, Gewinnerin des Call for Scores in der Kategorie Kammerorchester.


David Sontòn Caflisch, Enceladus-Variationen 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

Apartment House nach John Cage, das vielversprechende Vermittlungsprojekt von tuns contemporans, musste coronabedingt kurzfristig abgesagt werden. Cages wegweisendes Werk von 1976 hätte in Chur zum Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt und kollektive Kunst werden sollen. Das Festival wollte in Kollaboration mit einer Vielzahl an lokalen Akteuren alle Räume des Theater Chur und den Aussenbereich bespielen. Nun wird es zum Symbol für das aktuelle physical distancing.

An der Biennale beteiligt sind auch das Theater Chur und das Bündner Kunstmuseum, von wo aus alle Konzerte live gestreamt werden. Die zeitgenössische Musik soll in Chur wieder näher ans alltägliche kulturelle Leben rücken. Ein Vorsatz, den man sich in manch grösserer Stadt wünschen würde.

Die Tuns contemporans versprechen ein dichtes und vielseitiges Programm: Graubünden trifft Welt!
Gabrielle Weber

Am Call for Scores nahmen 60 Komponistinnen aus 30 verschiedenen Ländern teil. 124 Werke wurden eingereicht, davon 84 Werke in der Kategorie Kleines Ensemble, 22 Werke in der Kategorie Grosses Ensembleund 18 Werke in der Kategorie Kammerorchester. Ausgewählt wurden drei Werke zur Uraufführung in jeweils einer Kategorie.

Alle Konzerte und Angaben zum Livestream im Überblick sind zu finden auf: tuns contemporans.

In der Postremise in Chur fand unter Mitwirkung des ensemble ö! im Oktober 2020 der RTR-Launch von neo.mx3 statt: im kurzen Zeitfenster in dem Live-Konzerte möglich waren. Das ganze Konzert wurde von RTR auf Video aufgezeichnet. Die Aufnahmen finden sich auf dem Profil des ensemble ö! auf neo.mx3.

tuns contemporans, Magnus Lindberg, Katrin KloseElnaz SeyediVera Ivanova

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert: Ein Fest der neuen Musik, Abschlusskonzert tuns contemporans 2019, Redaktion Cécile Olshausen, 15.4.2020

neoblog, Ein Prost auf die Neue Musik!, Text von Thomas Meyer, 27.9.2020

Musik unserer Zeit: ö! ensemble für neue Musik, Redaktion Florian Hauser, 11.11.2020

Neo-Profiles:
Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Karolina Öhman, Asia Ahmetjanova, Basel Sinfonietta, Ensemble Phoenix Basel, Philippe BachStefanie Haensler

Stilles Beben – Der Komponist Charles Uzor

Mit sieben Jahren hat er seine Muttersprache Igbo vergessen und eine neue Sprache gelernt: Schweizerdeutsch. Der Komponist Charles Uzor macht sich in seiner Musik auf den Weg zurück in seine nigerianische Kindheit, in die «pochende und bebende Natur» der afrikanischen Tropen, zur fernen Stimme seiner Mutter. Cécile Olshausen hat Charles Uzor besucht.

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Cécile Olshausen
Es regnet, als ich in St. Gallen aus dem Zug steige. Mein Smartphone zeigt mir den Weg zu Charles Uzors Wohnung. Er lebt mitten in der St. Galler Innenstadt, nur zwei Minuten zu Fuss. Trotzdem schaffe ich es, mich zu verlaufen.

Umwege haben mich zu Charles Uzor geführt. Vor vielen Jahren sassen wir einmal zufällig nebeneinander in einem Konzert, haben uns unterhalten. Seither habe ich seinen Namen, seine Musik immer wieder gehört. Persönlich aber sind wir uns nie mehr begegnet.

Jetzt öffnet er mir die Türe und ich schüttle ein paar Regentropfen ab, bevor ich eintrete. Charles Uzor empfängt mich in seiner grosszügigen Stadtwohnung. Mein Blick fällt auf einen Flügel, auf Wände voller Bücher und CDs, in der Küche plätschert der Heizkörper wie ein Springbrunnen. Ein Sonnenschirm lehnt in einer Ecke des Wohnzimmers und erinnert an den Sommer, während draussen über dem kleinen Balkon ein riesiger Weihnachtsstern hängt.

Am Stubentisch nehmen wir Platz. Und von der städtischen Adventsbeleuchtung direkt vor seinem Fenster führt uns unser Gespräch langsam hinein in die Lebens- und Klangwelten von Charles Uzor. In eine Biografie, in der sich so viele Wege kreuzen.

In Nigeria ist Charles Uzor 1961 zur Welt gekommen. Wenige Jahre später entbrannte in seiner Heimatregion Biafra ein grausamer Kampf um Unabhängigkeit. Mit sieben Jahren entkam er den Kriegs-Gräueln. In St. Gallen fand Charles Uzor eine neue Familie. Hier ging er zur Schule, machte seine Matura. Studien – zuerst Oboe, dann Komposition – führten ihn nach Rom, Bern, Zürich und London. Seine Dissertation schliesslich schrieb er über Melodie und innerliches Zeitbewusstsein. Charles Uzors Werke sind vielseitig: Opern, Tanz-, Orchester- und Chorkompositionen, aber auch viele Stücke für Ensemble-Besetzungen.

Über seine Musik verbindet sich Charles Uzor mit seiner Vergangenheit, mit seiner Kindheit in Nigeria.

Unsere Unterhaltung verläuft ruhig, es ist ein Gespräch, das Stille zulässt. Ein Stille, die ich auch in manchen Stücken von Charles Uzor wiederfinde. Zum Beispiel in    Nri/ mimicri (2015/2016) für Ondes Martenot, Schlagzeugensemble und Tonband. Das ist keine linear sich entwickelnde Komposition, vielmehr ein Klangraum, durch den man sich aufmerksam hörend tastet. Als betrete man ein Tropenhaus und befinde sich – kaum ist man über die Schwelle getreten – in einer völlig anderen Welt. Nri/ mimicri ist für Charles Uzor eine Annäherung an seinen «afrikanischen Ursprung», wie er es selbst formuliert, ein Stück, in dem man «das Pochen und Beben der Natur» wahrnehmen könne. Und es ist eine Referenz an seine Urahnen, die Nri, ein sagenumwobenes nigerianisches Volk.


Charles Uzor, Nri/mimicri, Percussion Art Ensemble Bern, UA 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzor ist Igbo und im Südosten von Nigeria aufgewachsen, im Nigerdelta, einer Region mit tropischem Regenwald und vielen Flüssen. Mit seiner Familie hat er sich auf Igbo unterhalten. Als er dann mit sieben Jahren in die Schweiz kam, hat sich diese Sprache innerhalb kürzester Zeit verflüchtigt. Und blieb verschwunden. Bis heute treibt es Charles Uzor um, dass er seine Muttersprache einfach vergessen konnte.

.. traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen..

Glückliche Umstände haben dazu geführt, dass er nach dem Biafrakrieg seine Familie wiederfand. Mittlerweile Teenager und fest verankert in seiner Schweizer Lebenswelt, entschied sich Charles Uzor, bei seiner St. Galler Familie zu bleiben. Mit seiner nigerianischen Mutter, die heute in den USA lebt, steht er seither aber im Kontakt. Und in seinem Zyklus Mothertongue (2018) hört man ihre Stimme. Sie hat traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen.


Charles Uzor, Mothertongue Fire / mimicri for tape, Maria Christina Uzor, 2018

Uzor verarbeitet diese Aufnahmen zu einer Komposition und verbindet sich so klanglich mit einer Sprache, die er nicht mehr versteht. Mit seiner Muttersprache.


Charles Uzor, Mothertongue für Mezzosopran, Ensemble und Tonband, Ensemble Mothertongue, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors kompositorische Wege führen ihn nicht nur zurück in die Vergangenheit seiner afrikanischen Kindheit, sondern auch in weit entfernte Jahrhunderte. Während einer kurzen Gesprächspause, in der wir die Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen, werfe ich einen Blick auf Charles Uzors überbordendes, buntes CD-Regal – und mir fällt auf: viel Musik von Pérotin, Guillaume de Machaut, Johannes Ockeghem oder Costanzo Festa. Woher diese Liebe zur Alten Musik komme, möchte ich von Charles Uzor wissen, als wir den Gesprächsfaden wieder aufnehmen.

In dieser vorbarocken Musik öffne sich, so Uzor, eine Weite und Wildheit, eine Ordnung und Struktur, die ihn magisch anziehe: «Ich habe oft das Gefühl, ich war da dabei; da kommen mir Bilder von mir als Renaissancemenschen, so nah empfinde ich das.» Und diese Musik mit ihren Reigen, Rhythmen und Repetitionen hat für Charles Uzor auch etwas Afrikanisches. So finden in seinen Kompositionen Alte Musik und afrikanische Sprach-Klänge zusammen. Wege, die sich treffen, Momente der Begegnung.

Was sich in seiner Musik mühelos verbindet, das Alte und das Neue, das Afrikanische und das Schweizerische, erfährt in seinem Alltag Risse. Denn als Schwarzer ist Charles Uzor von Rassismus betroffen – auch hier in der Schweiz. Und das, wie er mir erzählt, jeden Tag. Alltäglicher Rassismus.

8’46” – solange dauerte der Todeskampf des George Floyd

Charles Uzor hat auch nicht geschwiegen, als George Floyd ermordet wurde. Der schwarze US-Bürger, der im Mai 2020 durch Polizeigewalt zu Tode kam und dessen Mord weltweit Proteste ausgelöst hat, – zusammen mit der Bewegung «Black Lives Matter». Charles Uzor hat damals das Stück 8’46’’ Sekunden komponiert – solange dauerte der Todeskampf von George Floyd, dem der Atem abgedrückt wurde. Die Komposition besteht nur aus Atemgeräuschen. Für Charles Uzor war es eine Notwendigkeit, dieses Stück zu schreiben, um seine eigene tiefe Erschütterung zu verarbeiten und nach aussen zu tragen.


Charles Uzor, 8’46” – Floyd in memoriam, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors Hommage an George Floyd wurde am 4. September 2020 in Bern uraufgeführt. Ich habe diesen Konzertmoment in eindrücklicher Erinnerung. Eine konzentrierte Aufführung des Ensembles Mothertongue mit dem Dirigenten Rupert Huber. In keinem Moment pathetisch. Und am Ende der 8’46’’ kein Applaus – sondern Betroffenheit, Schweigen und einfach nur Stille.

Der Regen hat aufgehört und es ist dunkel geworden. Lange haben wir uns unterhalten. In der Küche kocht Charles Uzor einen Kaffee und das beruhigende Plätschern des Heizkörpers holt uns aus den Tiefen der Gesprächswelt zurück in die Gegenwart. Dann breche ich auf Richtung Bahnhof. Jetzt kenne ich den Weg.
Cécile Olshausen

 

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Musikfestival Bern – Mothertongue, Rupert HuberPercussion Art Ensemble Bern

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 16.12.20, 22h: Pochen und Beben – der Komponist Charles Uzor, Redaktion Cécile Olshausen.

Neo-Profile: Charles Uzor, Musikfestival BernPercussion Art Ensemble Bern

Chan e See dänke?

Eine musikalische Hommage an Biel
Zur Uraufführung von Jean-Luc Darbellays Melodram Belena am 19. Februar 2020 im Kongresshaus Biel

Sinfonie Orchester Biel Solothurn © Joel Schweizer

Cécile Olshausen
Das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn (SOBS) feiert in dieser Saison sein 50-Jahr-Jubiläum. Chefdirigent Kaspar Zehnder hat zu diesem Anlass dem Berner Komponisten Jean-Luc Darbellay einen Kompositionsauftrag erteilt. Er wünschte sich ein Werk, zweisprachig, mit Bezug zu Biel und Umgebung.

Darbellay entschied sich, mit zwei ihm nahestehenden Schriftstellern zusammenzuarbeiten: mit dem Westschweizer Poeten und Romancier François Debluë und dem Deutschschweizer Mundart-Dichter Guy Krneta. Den vielschichtigen Texten hat sich Darbellay musikalisch in Form des Melodrams genähert.

Portrait Jean-Luc Darbellay

Rousseau und das Melodram

Das Melodram ist heute ein ziemlich vergessenes Genre aus dem späten 18. Jahrhundert. Zwischen und über der Musik wird gesprochen anstatt gesungen. Erfinder dieser Gattung ist kein geringerer als der in Genf geborene französisch-schweizerische Philosoph und eben auch Komponist Jean-Jacques Rousseau. Er hat 1770 mit Pygmalion das erste Melodram der Musikgeschichte komponiert.

Und mit Rousseau sind wir schon inmitten von Darbellays Komposition, denn François Debluës Text rankt sich um einen fiktiven Brief Robert Walsers über Jean-Jacques Rousseau, nämlich über dessen Aufenthalt auf der St. Petersinsel im Bielersee. Rousseau verlebte dort im Herbst 1765 nach eigener Aussage die schönste Zeit seines Lebens. Der Berner Geheime Rat aber wies den berühmten Aufklärer aus. Und auch in Môtier (Val-de-Travers), wo er mit seiner Gefährtin Thérèse Levasseur lebte, war er nicht mehr willkommen, und es wurde – so geht die Geschichte – mit Steinen nach ihnen geworfen. Dies regt Debluë zu einer weiten Rêverie über Steine an. Je sais le langage des pierres.

Guy Krneta reagiert auf Debluës Text mit einer artistischen berndeutschen Sprachstudie und entwickelt am Ufer des Bielersees einen Monolog über Wasser Chan e See dänke? Was würd’r dänke, wen’r chönnt dänke? und Steine Het e Schtei mau grännet?

 

Portrait Guy Krneta © Guy Krneta

Schifere und «Steineln»

Zentrale Verbindung zwischen den Texten von Debluë und Krneta ist das Steinewerfen übers Wasser – ds’Schifere wie man auf Berndeutsch sagt. Bei Krneta: Wen e Schtei über ds Wasser gumpet, vo Oberflächi zu Oberflächi, chan i ahne, wi’s isch gsi, wo d Schteine no gläbt hei, wo si gfloge sy wi Vögu. Bei Debluë sind es runde weiche Kieselsteine, die übers Wasser hüpfen; wenn Kinder da wären, würde man sich nun im «Steineln» messen. Mais il n’y a pas d’enfant – eine Anspielung an Rousseau, der seine Kinder in Waisenhäuser gegeben hat.


,Wenn ich denke‘, Guy Krneta für Jean-Luc Darbellay, Play SRF, Morgengeschichte, 5.10.2019

Jean-Luc Darbellay hat zu dieser komplexen literarischen Vorlage eine Musik geschrieben, die nicht die Konkurrenz zur Literatur sucht, vielmehr will er mit seiner Komposition die Texte unterstützen. Die Sprecherin soll sich frei entfalten können; deshalb wird sie nie in eine exakte Rhythmik eingebunden. Manchmal übernimmt die Musik eine illustrierende Funktion, zum Beispiel bei den Steinen, die übers Wasser fliegen. Oftmals lässt Darbellay aber auch einfach einen Akkord liegen oder er verzichtet ganz auf Musik. So kommen die gesprochenen Sprachen in ihrem Duktus und in ihrer Eigenheit zur vollen Wirkung.


Jean-Luc Darbellay, Pour une part d’enfance, für Sprecherin und Ensemble, Melodram über einen Text von François Debluë, 2018

Und auch der Titel des Melodrams «Belena» nimmt Bezug auf Biel. Denn Biel lässt sich sprachgeschichtlich auf den Namen Bĕlĕna zurückführen. Was es damit genau auf sich hat, weiss die Forschung bis heute nicht. Keltische Sonnengöttin? Oder Belenus als Gott der Macht? Man rätselt noch – aber der Titel passt zu diesem durch und durch «bielerischen» musiktheatralischen Werk.
Cécile Olshausen


Jean-Luc Darbellay, Belena, UA 19.2.2020 SOBS

Das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn macht Einspielungen von Uraufführungen im Rahmen seiner Sinfoniekonzerte laufend auf neo.mx3 zugänglich. Hören Sie hier auch die jüngste Aufnahme von Jost Meiers Konzert für Violoncello und Orchester in der Aufnahme der Uraufführung vom 13. November 2019 im Kongresshaus Biel:

Jost Meier, Konzert für Violoncello und Orchester, UA 13.11.2019 SOBS

Carnaval Bilingue, 6. Sinfoniekonzert SOBS, 19. Februar 2020, 19:30h, Kongresshaus Biel, Sinfonie-Orchester Biel Solothurn, Kaspar Zehnder – Leitung, Isabelle Freymond – Sprecherin
Programm:
Antonin Dvorak, Carnaval, Konzertouvertüre op. 92
Jean-Luc Darbellay, Belena, Melodramatisches Konzert für eine Sprecherin und Orchester
Joseph Lauber, Sinfonie Nr.1

Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Jean-Luc Darbellay, Guy Krneta

Sendungen SRF 2 Kultur: Im Konzertsaal, Do, 26.3.2020, Di, 19.5.2020

neo-profiles: Jean-Luc Darbellay, Sinfonie Orchester Biel Solothurn