Übermacht der Natur

Eiger, die neue Oper von Fabian Müller, wird vom Theater Orchester Biel Solothurn am 17. Dezember uraufgeführt. Christian Fluri unterhielt sich mit dem Komponisten vor der Premiere über seinen Bezug zum Berg, der ihn bereits seit langem fasziniert.

Christian Fluri
„Die Geschichte des zweiten Versuchs, die Eigernordwand zu erklimmen, ist an Dramatik kaum zu überbieten“, sagt der von seinem Opernstoff begeisterte Komponist Fabian Müller. 1936 versuchten die beiden deutschen Bergsteiger Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser mit zwei österreichischen Kollegen als erste die mächtige Nordwand des Eiger zu bezwingen. Sie scheiterten und alle Vier starben am Berg. Dieser Geschichte widmete sich bereits der Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl in seinem Film Nordwand von 2008. Und nun tun es der Schriftsteller und Librettist Tim Krohn und Fabian Müller erneut. Die Frage, ob sie sich vom Film beeinflussen liessen, verneint Fabian Müller. „Wir erzählen das Drama ganz anders. Der historische Rahmen ist derselbe, daneben aber lässt die Geschichte viel erzählerische Freiheit zu.”

 

Portrait Fabian Müller bei den Proben zur Oper Eiger zVg SOBS 2021

 

Die Geschichte der Oper Eiger schildert den anfänglichen Enthusiasmus, mit dem die vier Bergsteiger ihre Klettertour beginnen, dann das sich abzeichnende Scheitern bis hin zum Kampf gegen den Tod, den als letzter sogar der herausragende Bergsteiger Toni Kurz verliert. „Die Oper erzählt von der Ohnmacht des Menschen gegenüber der Übermacht der Natur.“ Müller gibt dem Berg eine Stimme – eine Frauenstimme. „Es ist quasi der Gesang des Bergs, der sich gegen Ende der Oper in der Vogelschau über den Sturm, die ganze Dramatik der Situation und Wildheit des Wetters legt. Der Sterbende ist hin und hergerissen, zwischen den letzten verzweifelten Versuchen in der Realität sein Leben zu retten, wird aber gleichzeitig vom verführerischen Gesang des Berges umgarnt, der ihn immer mehr in eine surreale, jenseitige Welt hinüber gleiten lässt.“

 

 

Am Fuss des Eigers

Bereits 16 Jahre vor der Uraufführung der Oper hat sich Fabian Müller mit dem Eiger und seiner Nordwand auseinandergesetzt. 2004 schrieb er im Auftrag der Interlaken Musikfestwochen die Symphonische Skizze Eiger – und er tat dies gleichsam am Fuss des Eigers, in seinem Komponierhäuschen, einem Chalet in Grindelwald. Dort verbrachte er jeweils mit seinen Eltern als Kind und Jugendlicher seine Ferien.

 

Fabian Müller, Eiger – Eine symphonische Skizze, UA 2004, Latvian Symphony Orchestra, Dirigent Andris NelsonsMüller denkt in seinen Kompositionen Musikgeschichte mit. In seiner Symphonischen Skizze Eiger aus dem Jahr 2004 hat er teils auch Reihentechniken angewandt.

 
„Seit meiner Kindheit bin ich mit der Bergwelt um Grindelwald verbunden“ sagt Müller zu diesem Ort der Inspiration. Nach seiner Ausbildung ist das Chalet zu einem Rückzugsort geworden, wo sich seine Kreativität entfalten konnte. Als er 2004 seine symphonische Skizze schrieb, „schaute der Eiger auf mich herab, sah, wie ich meine Noten aufs Papier kritzelte“, meint er verschmitzt.
Damals schon dachte er, das Drama von 1936 wäre ein ausgezeichneter Opernstoff. „Ich habe nun ausgehend von der Skizze die Musik zur Oper weiterentwickelt und alles, was in der Skizze ist, irgendwie – wenn auch selten identisch – verwendet“, erklärt Müller.
„Vielen meiner Stücke begegne ich lange nach ihrer Entstehung wie ein Fremder. Es fällt mir oft schwer, in eine ältere Komposition von mir wieder einzutauchen. Die Symphonische Skizze Eiger hingegen ist in mir stets präsent geblieben. Vielleicht, weil die Oper eben noch geschrieben werden musste.“ Die Musik zur Oper habe er aber kaum mehr am Fuss des Eigers komponiert, sondern mehrheitlich zu Hause in Zürich.

 

Musikalität des Textes


Müller begann mit seiner Komponierarbeit, als er das Libretto von Tim Krohn auf dem Tisch hatte. Gross ist sein Vertrauen in die Musikalität seines Librettisten, mit dem er bereits zum dritten Mal zusammenarbeitet: „Tim Krohn hat eine Affinität zur Musik und ein grosses Verständnis für die Musikalität, die ein Libretto haben muss. In seinem Text war nichts, für das nicht eine musikalische Lösung zu finden gewesen wäre.“  Auch knifflige Passagen wurden zur reizvollen Herausforderung. Natürlich habe er mit Tim Krohn einen intensiven Austausch gepflegt; aber „wir haben im Libretto schliesslich keinerlei Veränderungen vorgenommen.“

Sowohl die deutschen wie die österreichischen Alpinisten jener Zeit zeigten in ihrem Denken – oft nicht nur darin – eine Nähe zum Nationalsozialismus. Auch dies ist Gegenstand des Librettos von Tim Krohn. Es zeichne die Figuren in ihrer Ambivalenz, merkt Müller an. „Ihre politische Haltung schwingt in der Zeichnung ihrer Charaktere mit. Und sie wird auch zum Problem, wenn es um das Vertrauen zueinander geht, ein Vertrauen, das in der Kletterei essenziell ist. Auch in meiner Musik findet diese Ambivalenz der Figuren ihren Ausdruck.“

 

Portrait Tim Krohn zVg SOBS

 

Noch während Müller im Komponierprozess – für die Oper mit grossem Orchester – steckte, erhielt er vom Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) einen Auftrag für Eiger. Deshalb schrieb er nach Fertigstellung der Partitur noch zusätzlich eine Fassung mit Kammerorchester. Diese gelangt nun in der Inszenierung von Barbara-David Brüesch und unter der musikalischen Leitung von Kaspar Zehnder in Biel zur Uraufführung.

 

 

Musik entstehen lassen

 

Und wie klingt Müllers Musik? Er gehört gewiss nicht zu den experimentellen Komponisten, will dies auch nicht. Er ist überzeugt, die klanglichen Möglichkeiten eines Symphonie-Orchesters seien heute ausgelotet. Neues könne aber in der Kombination, der Verbindung von Klängen und Klangfiguren entstehen.

In seinen Kompositionen denkt Müller Musikgeschichte immer mit: er scheut sich nicht, auch mal traditionelle Harmonien oder Klanggebilde zu verwenden. Orientierungspunkte für ihn sind Gustav Mahler, der junge Arnold Schönberg, Alban Berg, ebenso die französische Musik des frühen 20. Jahrhunderts, um nur einige zu nennen. Verwandt fühlt er sich den heutigen skandinavischen, osteuropäischen sowie anglo-amerikanischen Komponist:innen.

 


Fabian Müller, Munch’s Traum(a) für Violine Solo, UA 2010: Müller geht es in seiner Musik um den emotionalen Ausdruck. Als kompositorische Orientierungspunkte für seine Musik bezeichnet er Gustav Mahler, den jungen Arnold Schönberg oder Alban Berg, aber auch György Ligeti und Olivier Messiaen.

 

Natürlich hat er sich intensiv mit der deutschen und französischen Avantgarde der Nachkriegszeit und deren Geschichte auseinandergesetzt – so mit der seriellen Technik, die für ihn aber klar der Vergangenheit angehört. „Schon György Ligeti hat sie 1961 mit seinem grandiosen Werk Atmosphères überwunden, das gilt auch für andere seiner Zeitgenossen.” Ligeti und Olivier Messiaen sind für ihn ebenfalls wichtige Orientierungspunkte. Aber er schätzt auch sehr die Komponist:innen, „die in den 1970er Jahren neue Wege eingeschlagen haben“ – abseits experimenteller Pfade, wie zum Beispiel der Finne Einojuhani Rautavaara (1928-2016), mit dem ihn eine lange Brieffreundschaft verbunden hat.

Müller selbst bezeichnet sich als intuitiven Komponisten, dem es stets um den emotionalen Ausdruck geht. „Ich lasse mich dann, wenn der Kompositionsvorgang ins Rollen gekommen ist, von der Musik selbst führen. Warum meine Musik so klingt wie sie klingt, dazu kann ich eigentlich nur sagen, es ist die Musik, die ich innerlich wahrnehme, wenn ich das tue, was mich am meisten interessiert, nämlich komponieren.“
Christian Fluri

 


Im Video des SOBS führt der Komponist Fabian Müller selbst in seine Oper Eiger ein.

 

Theater Orchester Biel Solothurn, Uraufführung Oper Eiger ab 17.12.21 Biel / weitere Vorstellungen Saison 21/22, Biel und Solothurn

 

Toni Kurz, Andreas Hinterstoisser, Philipp Stölzl, Tim Krohn, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alban Berg, György Ligeti, Olivier Messiaen, Einojuhani Rautavaara

 

neo-Profile:
Fabian Müller, Sinfonie Orchester Biel Solothurn

Forum für junge Musikerfinderinnen

Christian Fluri
Sie sind wichtig, ja essentiell, Förderungseinrichtungen speziell für junge Komponistinnen und Komponisten, die nach oder noch vor ihrem Studienabschluss stehen. Das Musikforum Biel/Bienne 2021 widmet sich dieser  Aufgabe im Bereich der Orchestermusik.

Im 9. Sinfoniekonzert am 19. Mai stellt das Sinfonie Orchester Biel Solothurn in Biel unter Leitung seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder drei Uraufführungen vor.

Die Werke stammen alle von jungen Komponistinnen: von der Spanierin Gemma Ragués Pujol, der Schweizerin Michal Muggli und der Armenierin Argenaz Martirosyan. Verbindendes Element ist, dass die drei derzeit in der Schweiz leben, hier studieren oder ihr Studium abgeschlossen haben. Verbindend ist ebenfalls, dass sie Musik von grosser Dichte, Spannung und eigenständiger Klangsprache kreieren, und dass sie mit ihren Werken bereits verschiedene Preise gewonnen haben.

 

Ordnung, Aufbruch, Dekonstruktion

 

Die 30-jährige, im Zürcher Oberland aufgewachsene Michal Muggli weist bereits einen grossen Werkkatalog auf. Sie schloss als Schülerin des Komponisten Beat Furrer ihr Studium mit dem Master in Graz ab – nach einem Bachelor an der Hochschule der Künste Bern bei Christian Henking. 2014 gewann sie protonwerk 4 mit ihrem Stück DICKdünn II für Flöte, Lupophon, Bassklarinette, Violine, Violoncello, Harfe, Klavier und DirigentIn.

 

Michal Muggli ©zVg Michal Muggli

 

Im ersten Teil des achtminütigen Stücks wird ein dichtes, erdiges und fortschreitendes Klanggewebe in einzelne, fragmentarische Figuren zerlegt, im Wechsel mit düstern, aufbegehrenden Klangballungen. Muggli führt ihre Musik in ein Stimmengewirr sich überlagernder gesprochener Worte, das in ein instrumentales Sprechen, Seufzen, Klagen übergeht. Ein Werk, das den Blick auch auf beide künstlerischen Leidenschaften Mugglis öffnet: die Musik und die Literatur. In einem zweiten Studium beschäftigt sie sich mit französischer Literatur- und Sprach- sowie mit Musikwissenschaft und Hermeneutik.

 

Michal Muggli, DICKdünn II, UA ensemble proton Bern, UA 2014 Bern / 2015 St. Petersburg International New Music Festival

 

Unruh nennt sie ihr neues Orchesterstück, das am Musikforum Biel/Bienne uraufgeführt wird. Wiederum geht es um Ordnung – hier der Uhrmechanik – und Aufbruch. “…scheinbar unkontrollierte Ausschweifbewegungen einer Sprialfeder” halten “die geregelte Ordnung der Zahnräder aufrecht”, schreibt Muggli zu ihrer Komposition. Unterschwellig bäumten sich die Unruhen gegen die mechanische Ordnung der ablaufenden Zeit auf und hielten diese damit in Gang. Muggli entwickelt in ihrem Stück einen dialektischen Prozess, der den Klang auch durch das Orchester wandern lässt, wie sie es ausdrückt. Und es geht ihr dabei auch um die immer neue Übertragung von Kräften zwischen den quasi ineinander verzahnten Orchestermusikerinnen und -musikern.

 

Ost und West im Heute verknüpft

 

Das Orchesterstück Zeitlos der Armenierin Argenaz Martirosyan kreist nicht allein um das Phänomen der Zeit, sondern will auch den Begriff in seinen unterschiedlichen semantischen Bedeutungen erkunden. Der Mechanismus eines Uhrwerks taucht auch hier auf, ebenso Momente des Ausbruchs. Martirosyan schreibt von “befreiter Zeit”. Ihre Musik entwickle sich in einer Dialektik von Stillstand und Bewegung, was wiederum auf die verschiedenen Dimensionen von Zeit zurückzuführen sei. Die Komponistin hofft, dass für die Hörenden die Zeit “wie im Flug” vergeht.

Die innere Spannung, die tiefgreifenden Klangerkundungen, die sich zur anregenden musikalischen Rede formen, ebenso ihre Nähe zur Improvisation, sind zu hören in Musik für Alto Saxophon und Percussions von 2020.

Aregnaz Martirosyan, Musik für Saxophone and Percussions, UA Lucerne Percussions New Music Days 2020

 

Martirosyan kam nach ihrer Ausbildung in Armenien fürs Masterstudium bei Dieter Ammann an die Hochschule nach Luzern. Sie verknüpft in ihrer Musik den Hintergrund östlichen Komponierens mit dessen weitläufigen, sich immer auch in harmonischen Bereichen bewegenden Klanggebilden und der westlichen musikalischen Gegenwart zur eigenen kraftvollen rhythmisierten Tonsprache.

Gekonnt entwickelt sie ihre Sprache im grossen Orchesterapparat: Das zeigt sich in Dreilinden für Solotrompete und Orchester von 2019. Aregnaz Martirosyan  hat mit diesem Orchesterstück bereits zwei renommierte Preise gewonnen

Aregnaz Martirosyan, Dreilinden, Konzert for Solo Trumpet and Orchestra, UA 2019

 

Klang und Bewegung

 

Auch die katalanische Komponistin Gemma Ragués Pujol setzt sich in ihrem für das Musikforum Biel/Bienne geschriebenen Orchesterstück Le temps bouge mais n’avance pas mit dem Phänomen der Zeit auseinander.  “Zeitlichkeit in der kreisförmigen und endlichen Bewegung eines Kreisels” bildet den Ausgangspunkt des Stücks, wie sie im Eingangstext schreibt. Dabei geht es ihr um die Beziehungen zwischen Bewegung, bzw. körperlichen Gesten und Klang, und um deren Schnittpunkte. Ein Beziehungsgeflecht, das die Komponistin, die in Barcelona, Stockholm und zuletzt an der Hochschule der Künste Bern ihr Masterstudium (bei Xavier Dayer und Simon Steen-Andersen) absolvierte, schon länger erkundet. So auch in ihrer streng choreographierten  Performance silence fantasy #1 in der drei zeitungslesende Performer*innen sich auf Stühlen bewegen und doch statisch wirken.

Gemma Ragués, silence fantasy #1, UA 2020

 

Zudem setzt sie sich mit den möglichen Verknüpfungen von elektronischen und akustischen Klängen auseinander. Sie kommt dabei zu quasi konträren Ergebnissen: In nit de sal für Stimme, Ensemble und Elektronik von 2019 setzt sie in teils exzessiven Klanggebilden Gedichte von Joana Raspall and Maria Mercè Marçal in Musik

Gemma Ragués, nit de sal, UA 2019

 

Abgerundet werden im Konzert des Sinfonieorchesters Biel Solothurn die drei Uraufführungen durch Ulrich Hofers Minutenpendel, einer jazzigen Improvisationsanlage, die er nun für ein Orchester bearbeitet, so – aufbauend auf den “Gestaltungsmitteln des Jazz” , wie er selbst schreibt, zur Komposition formt.
Christian Fluri

Die drei Orchesterstücke sind in voller Länge auf den Profilen der Komponistinnen auf neo.mx3 nachzuhören.

Das Konzert wird in der Sendung Neue Musik im Konzert auf SRF 2 Kultur am Mittwoch, 26.5. um 21h, ausgestrahlt.

Details zum Konzert:  Musikforum Biel/Bienne, 9. Sinfoniekonzert

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
MusikMagazin, Samstag/Sonntag 22./23.5.21: Michal Muggli im Gespräch mit Florian Hauser
Neue Musik im Konzert, Mittwoch 26.5.21, 21h

neo-profiles:
Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Michal Rebekka Muggli, Gemma Ragués, Aregnaz MartirosyanDieter Ammann, Beat Furrer, Christian Henking, Xavier Dayer, Simon Steen-Andersen, Ensemble Proton Bern, Ulrich Hofer

 

 

 

“Interpretation zeitgenössischer Werke – Investition in die Zukunft”

Laufend macht neo.mx3 rare SRG-Aufnahmen der Schweizer musikalischen Avantgarde zugänglich. Christian Fluri entdeckte für den neoblog im bereits beträchtlichen Fundus das Winterthurer Streichquartett.
Im Ausnahmejahr 2020 erlebte es ein ausserordentliches Jubiläum.

Winterthurer Streichquartett ©zVg Musikkollegium Winterthur

Christian Fluri
Es ist ein Unikum, im besten Sinne des Wortes, das Winterthurer Streichquartett. Welches andere hat je schon sein 100-Jahr-jubiläum feiern können. Normalerweise entwickeln und entfalten Streichquartette ihre Kunst in gleicher Besetzung, leben so zusammen, so dass sie sich untereinander blind verständigen. Gehen die vier Musikerinnen oder Musiker – aus welchem Grund auch immer – auseinander, löst sich das Quartett auf. Das war grundsätzlich so beim – gerade für die Musik des 20. Jahrhunderts so prägenden – LaSalle String Quartet. Ein wenig anders verhält es sich bei dem für die Gegenwart ebenso stilbildenden Arditti Quartett, es ist an seinen Primgeiger, Gründer und Namensgeber Irvine Arditti gebunden, von ihm geprägt – auch bei Wechseln auf den anderen Positionen.

Stete Erneuerung hält lebendig

Ganz anders das Winterthurer Streichquartett, das aus den jeweiligen Stimmführern des Musikkollegium Winterthur besteht. Kommt bei den Streichern ein neuer Stimmführer, eine neue Stimmführerin, wechselt auch die Quartett-Besetzung. So erneuert sich das vierköpfige Ensemble immer wieder einmal, und das verlangt von den Mitgliedern des Quartetts grosse Flexibilität. Genau diese Flexibilität gibt dem Quartett jedoch Lebendigkeit.

Winterthurer Streichquartett 1930er Jahre ©zVg Musikkollegium Winterthur, Handzeichnung Gustav Weiss

Auch im Jubiläumsjahr 2020 ist eine Stelle vakant geworden, die des zweiten Violinisten Pär Näsbom, der seit 1987 Stimmführer der zweiten Violine war und altershalber das  Musikkollegium verlassen hat. Zudem wird der Primgeiger und Konzertmeister Roberto González Monjas ab der Saison 2021/22 Chefdirigent des Orchesters. Das heisst, auch die Konzertmeisterstelle wird bald neu besetzt. So stehen im Quartett nach sieben Jahren gleicher Besetzung nächste Wechsel an. Damit kommt es wieder einmal zu einer Erneuerung.

Winterthurer Streichquartett 2016: Besetzung Chmel, González-Monjas, Näsbom, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

Weiterhin mit dabei sind der Bratschist Jürg Dähler (seit 1993), der sich auch im Leitungsteam der Swiss Chamber Soloists engagiert und dort in unterschiedlichen Kammerformationen auftritt, und die Cellistin Cecilia Chmel (seit 1989). Auch sie ist wie ihre Kollegen eine herausragende Kammermusikerin.

Dass das Winterthurer Streichquartett sein stolzes Jubiläum im November mit einem grossen Festkonzert gebührend feiern konnte, das haben leider die Corona-Massnahmen verhindert. Das sei schon etwas betrüblich gewesen, merkt Cecilia Chmel in unserem ­elektronisch geführten Gespräch an: <Immerhin konnten wir unser Jubiläumskonzert für wenigstens 50 Zuhörer*innen spielen und live streamen.>

Stets präsent in der Gegenwart

Seit den Anfängen des Quartetts hat die Musik der Gegenwart neben klassisch-romantischen Werken ihren festen Platz im Repertoire. Bereits 1921 spielte es in seiner ersten Besetzung mit dem Konzertmeister Ernst Wolters Arnold Schönbergs Streichquartett fis-Moll op.10, wie die Musikhistorikerin Verena Naegele in ihrer Laudatio zum 100. Geburtstag erwähnt.

Winterthurer Streichquartett 1952: Besetzung Dahinden, Rybar, Wigand, Tusa, mit Unterschriften ©zVg Musikkollegium Winterthur

Die gegenwärtige Cellistin Cecilia Chmel unterstreicht die Bedeutung, die die Neue Musik für das Winterthurer Quartett hat: <Wenn man vor allem das klassisch-romantische Repertoire spielt, ist es besonders wichtig, auch die Gegenwart wahrzunehmen und in die Zukunft zu schauen. Die Interpretation zeitgenössischer Werke ist ein Investition in die Zukunft.>

Das Winterthurer Streichquartett arbeitet seit Beginn immer wieder mit Komponistinnen und Komponisten zusammen und vergibt auch Kompositionsaufträge. So erwähnt Celilia Chmel die Zusammenarbeit mit dem grossartigen Basler Altmeister Rudolf Kelterborn sowie den Zürchern Alfred Felder und Ursina Braun, die zugleich beide exzellente Cellist*innen sind.

Auch eine Geschichte Neuer Musik

Wie fruchtbar die langjährige Auseinandersetzung des Quartetts mit Musik des 20. Jahrhunderts von Schweizer Komponisten ist, spiegelt sich in den nun neu zugänglichen Aufnahmen aus dem Archiv der SRG. Auf neo.mx3 finden sich zahlreiche Aufnahmen des Quartetts mit zeitgenössischen Werken aus den Jahren 1948 bis 1975.

Rudolf Kelterborn, Streichquartett Nr.2, 1958, Eigenproduktion SRG/SSR

Ein besonderes Juwel ist das frühe, dreisätzige 2. Streichquartett Kelterborns. Die Aufnahme von 1958 in der Besetzung mit Peter Rybarm (1. Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Heinz Wigand (Viola), und Antonio Tusa (Violoncello), ist von erstaunlicher Präsenz und Klarheit. Diese zeichnen auch die Interpretation selbst aus, die analytischen Geist und Passion für das Werk in sich vereinigt. Der junge Kelterborn befindet sich hier auf dem Weg zu seiner eigenen kompositorischen Sprache und zeigt bereits seine hohen Qualitäten in der Verbindung von Emotionalität, musikalischer Tiefe, Dichte und Genauigkeit. Dies in einer Komposition, die sich auf der Höhe ihrer Zeit jenseits reihentechnischer Dogmatik bewegt.

Packende interpretatorische Kunst zeigt auch die 1963 eingespielte Aufnahme von Ernest Blochs fantastischem Quintett für Klavier und Streicher Nr.1 (1923). Zur gleichen Besetzung kommt hier der Pianist Rudolf am Bach. Er lehrte am Winterthurer Konservatorium und setzte sich gleichfalls stark für Schweizer Musik seiner Zeit ein. Der ersten Agitato-Satz wie das abschliessende Allegro energico ist von mitreissender rhythmischer Prägnanz. Die Interpretation dringt mit grosser klanglicher Transparenz auch im langsameren Mittelsatz tief in Gehalt und Struktur des Werks ein und schärft die Dissonanzen.

Ernest Bloch, Quintett für Klavier und Streicher 1963, Eigenproduktion SRG/SSR

Am eidgenössischen Tonkünstlerfest 1975 in Basel spielte das Quartett Hermann Hallers 2. Streichquartett von 1971, In der Besetzung mit Abraham Comfort (1.Violine), Clemens Dahinden (2. Violine), Marcel Gross (Viola), und Markus Stocker (Violoncello), zeigt sich ein faszinierendes Werk von dunklem, melancholischen Grundton in ganz eigener kompositorischer Sprache. Sie verbindet Spätromantik mit dem Vokabular der Moderne.

Herman Haller, Streichquartett Nr.2, 1971, Eigenproduktion SRG/SSR

Das Winterthurer Streichquartett zeichnet sich durch Genauigkeit der interpretatorischen Auseinandersetzung, durch klangliche Klarheit, und enge Dialogführung zwischen den vier Musikern aus. Und diese neuste Aufnahme in einer anderen Quartett-Besetzung unterscheiden sich in nichts vom durchgängig hohen Niveau der früheren Einspielungen. Das ist erstaunlich.

Die Winterthurer sind wohl eines der wenigen Quartette, die bei immer wieder wechselnder Besetzung den hohen künstlerischen Anspruch, die musikalische Vitalität und Passion – hier für zeitgenössische Musik bekannterer und unbekannterer Komponisten – mit erneuern kann.
Christian Fluri

Winterthurer Streichquartett 2006: Besetzung Chmel, Näsbom, Zimmermann, Dähler ©zVg Musikkollegium Winterthur

2021 stehen drei weitere zeitgenössische Quartette auf dem Spielplan. Farewell (1995) des US-Amerikaners John Corigliano, Tenebrae (2002) des Argentiniers Osvaldo Golijov und Arcadiana, das opus 12 (1994) des Engländers Thomas Adès.

Samstag, 6.3.2021, 19h: Hauskonzert Winterthurer Streichquartett: Der Tod und das Mädchen, John Corigliano, Streichquartett Nr.1 Farewell , Franz Schubert Streichquartett d-Moll D 810 Der Tod und das Mädchen

Die Konzerte des Winterthurer Streichquartetts finden wie die meisten Konzerte des Musikkollegium während der Pandemie live im Saal statt und sind per Live-Stream zu erleben. Im Konzertkalender finden Sie alle Angaben.

John Corigliano, Oswaldo Golijov, Thomas Adès, Verena Naegele, LaSalle String Quartet, Arditti Quartett, Arnold Schönberg, Ernest Bloch

Neo-Profiles: Winterthurer Streichquartett, Musikkollegium WinterthurSwiss Chamber SoloistsSwiss Chamber ConcertsRudolf Kelterborn, Hermann Haller

“Das Universum der Klänge ist unendlich”

Hier sollte zunächst ein rundum strahlendes Geburtstagsportrait zu 10 Jahren ensemble proton bern stehen. Dazu gehörten zahlreiche Veranstaltungshinweise zur Jubiläumssaison.

Mit Martin Bliggenstorfer, dem Managing director, führte Christian Fluri deshalb kurz nach dem Lockdown der ersten Pandemiewelle ein Gespräch. Zu diesem Zeitpunkt äusserte er sich voller Zuversicht und Tatendrang.

Jetzt, kurz vor der ursprünglich geplanten grossen Geburtstagsfeier am 16. November, stecken wir mitten in der zweiten Welle. Und sie trifft uns mit unerwarteter Heftigkeit.

Wie sich die neue Situation aufs ensemble proton bern und seine Jubiläumssaison auswirkt, besprach ich daher mit Bliggenstorfer nochmals. In einem zweiten Gespräch, direkt nach der Bekanntgabe der neuen Vorgaben des Bundesrates vom 18. Oktober. Seither ändern sich die Maßnahmen laufend weiter und die meisten Aufführungen sind faktisch unmöglich geworden.

Das ensemble proton bern steht damit im Beitrag auch stellvertretend für viele Ensembles, Musikschaffende und Veranstalter, die plötzlich mit Absagen, Verschiebungen und einer unplanbaren Zukunft konfrontiert sind.

ensemble proton bern: Gruppenportrait © Oliver Oettli


Christian Fluri
Das ensemble proton bern forscht mit grosser Passion seit zehn Jahren nach neuen Klängen, neuen Stücken und neuen Komponisten wie Komponistinnen. Es gehört international zu den gefragtesten Ensembles und wird oft an Festivals und zu Konzerten in- und ausserhalb Europas eingeladen.

Seit seiner Gründung 2010 hat das in der Dampfzentrale Bern domizilierte Ensemble in 128 Konzerten 273 Werke von 180 Komponist*innen gespielt, 175 davon waren Uraufführungen. Es trat vor grossem Publikum in der Mariinsky Concert Hall in St. Petersburg auf und tourte nebst weiteren Highlights an der Westküste der USA.

Während der ersten Coronawelle hat das Ensemble noch einigermaßen Glück gehabt, wie Managing Director, Oboist und Lupophonspieler Martin Bliggenstorfer im Gespräch sagt: “Gerade vor dem Lockdown konnten wir in der Dampfzentrale noch das Konzert protonwerk no. 9 spielen. Die Wiederholung im Gare du Nord Basel mussten wir aber bereits absagen.”

protonwerk, das ist ein Förderprogramm für junge Komponist*innen, denen das Ensemble Kompositionen in Auftrag gibt.


Adrian Nagel, Netzwerk, UA: protonwerk no.7 / ensemble proton bern 2017

“Unser auf Mai geplantes Programm terrible ten, ein Konzert mit Uraufführungen von Thomas Kessler (My lady soul) sowie Michael Pelzel und Stefan Wirth, konnten wir kurzfristig verschieben und bereits im September spielen. So ging zumindest nichts von unseren geplanten Programmen ganz verloren“ freut sich Bliggenstorfer.

Gemeinsames Musizieren vermisst

Den Wiedereinstieg ins Konzertleben nach dem Lockdown konnte das Ensemble kaum erwarten. terrible ten war dann auch etwas ganz Besonderes: erstmals wieder gemeinsam zu musizieren und das Musikmachen mit dem Publikum live zu teilen, sei für alle Beteiligten ein Erlebnis gewesen, meint Bliggentorfer.


Thomas Kessler, My lady soul, UA ensemble proton bern 2019

Auch wenn die Musiker*innen des Ensembles die Zeit des Lockdowns produktiv nutzen konnten. “Was uns gefehlt hat, war das gemeinsame Musizieren, der direkte Kontakt miteinander, die Proben mit den Konzerten vor Augen. Zugleich hatte es aber auch etwas Gutes, für ein paar Wochen Kopf und Körper etwas ausruhen zu lassen.”

Existenzangst musste das Ensemble bis zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise keine haben. “Wir mussten für ausgefallene Konzerte keine Subventionen und Unterstützungsbeiträge zurückgeben. So konnten wir unsere Honorare und die unserer Gäste auszahlen.” Bliggenstorfer ist sehr dankbar für die grosszügige Haltung der Geldgeber in der Schweiz.

“Das Universum der Klänge ist unendlich..”

Das ensemble proton bern  ist also  nach wie vor bestens aufgestellt und will sich stetig weiter entwickeln. Dies jedoch ohne seinen langjährigen Dirigenten Matthias Kuhn, der seit der Gründung dabei war. “Er will sich künstlerisch neu ausrichten.” Das versteht Bliggenstorfer, so wichtig Kuhn für den Aufbau des jungen Ensembles gewesen ist. Künftig arbeitet das Ensemble mit achtköpfiger Stammbesetzung und ohne festen Dirigenten. Kammermusikalische Projekte sollen so vorangetrieben werden, wie auch Konzerte und Auftritte mit grösseren Besetzungen und Gastdirigenten.

Ungebrochen ist die Leidenschaft für die Neue Musik in ihren unterschiedlichen Stilen und Ausrichtungen. Denn Scheuklappen hat das ensemble proton bern keine. Es zeigt mit seiner Spielfreude, wie lustvoll, lebendig und vital zeitgenössiche Musik ist. “Das Universum der Klänge und deren Kombinationsmöglichkeiten ist unendlich”, weiss Bliggenstorfer: “Es gibt ein Leben lang Neues zu entdecken”.


Verschiedene Komponisten click & faun, ensemble proton bern 2019

Auch seien die Klangmöglichkeiten der neuen Instrumente noch lange nicht ausgeschöpft: so die von Richard Haynes wiederentdeckte Klarinette d’amore, die von Martin Bliggenstorfer und Elise Jacoberger gespielten Doppelrohrblattinstrumente Lupophon und Kontraforte, auch Maximilian Hafts Strohgeige – oder die Vielfalt im Bereich der elektronischen Klangerzeugung. Das ensemble proton bern wird weiter forschen.
Christian Fluri

2. Gespräch am 21. Oktober 2020:
Gabrielle Weber
Trotz der wachsenden Unsicherheit und drohender Einschränkungen war Bliggenstorfer am 21. Oktober noch zuversichtlich, Konzerte so lange als möglich durchzuführen: “Kulturelle Veranstaltungen sollten nicht abgesagt werden, solange sie nicht verboten sind. Natürlich muss das Schutzkonzept perfekt umgesetzt sein. Das funktionierte bislang auch gut.”

Fest standen noch Auftritte als main act im Jubiläumsprogramm „5 Jahre Kultur-Kino Rex“ zusammen mit zwei Visual Artists. Da sollte der Komponist Ennio Morricone von einer unbekannten Seite beleuchtet werden. „Morricone kennt man ja landläufig als Filmmusikkomponisten – er war aber auch in der ‘Kunstmusik’ aktiv, u.a. als Trompeter der Gruppo di improvisazzione Nuova Consonanza, in den 60er/70er Jahren”.

Mit den neuen Berner Auflagen vom 23. Oktober – Kinos und Museen waren per sofort zu schliessen – mussten die Konzerte aber wenig später abgesagt werden.

“fette fête” – das Konzert zum 10 Jährigen Bestehen des Ensembles

Die “fette fête” war für den 16. November in Bern geplant: eine grosse Geburtstagsfeier mit Uraufführungen und Werken von Louis Andriessen, Christian Henking und Annette Schmucki. Ausserdem vergab das Ensemble einen Kompositionsauftrag an den jungen Schweizer Komponisten Tobias Krebs. “Wir freuen uns ausserordentlich darüber – er ist ein hervorragender junger Komponist, den wir von protonwerk kennen”.


Tobias Krebs, ambra, UA Duo Vers 2018

An einer Durchführung hielt Bliggenstorfer beim Gespräch noch fest, denn “solange es möglich ist, Kunst live erlebbar zu machen, wollen wir die Möglichkeit zu Konzertieren nicht aufgeben. Wir wollen verantwortungsvoll mit der Situation umgehen, indem wir das Schutzkonzept einhalten”.

Auf das Konzert muss nun leider – seit den neuesten Auflagen – doch ganz verzichtet werden (Stand 30.10.20). Es soll im Februar 2021 nachgeholt werden (tbc.)..

Eine weitere Planungsunsicherheit kommt für zukünftige Projekte mit Gästen aus dem Ausland hinzu: “Wenn sie nicht einreisen können, müssen wir nach Ersatz suchen.” Und geplante Auslandengagements fallen vorläufig aus. Für die Jubiläumssaison hatte das Ensemble Einladungen bspw. nach New York und Salzburg.

Was das alles finanziell bedeutet,  ist noch nicht abzuschätzen: “Momentan stehen wir finanziell immer noch gut da. Aber ungewiss sind die mittel- bis langfristigen Auswirkung der Krise auf die Förderlandschaft.”

Das ensemble proton bern zeigt sich weiterhin voller Tatendrang. Forscher- und Innovationsgeist sind ungebrochen, Spiel- und Entdeckungslust ebenso. Wie aber die langfristigen Folgen für Konzerte, und insbesondere die weitere internationale Positionierung, ist gerade nicht abzusehen.
Gabrielle Weber

 

ensemble proton bern Gruppenportrait © Oliver Oettli

 

Konzerte Jubiläumssaison 20/21 &aktuelle updates

30.Oktober: The dark side of Ennio Morricone, Kino Rex Bern: ABGESAGT

16. November: “fette fête” – 10Jahre proton, Dampfzentrale Bern: ABGESAGT: VERSCHIEBEDATUM 2. Februar 2021 (tbc)**
17. November, 20h, Konzert Gare du Nord Basel: protonwerk nr.9 (Wiederaufnahme)

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 28.10.20: Redaktion Florian Hauser, Gespräch zu My lady soul, mit Thomas Kessler, Martin Bliggenstorfer, Bettina Berger, Vera Schnider
Neue Musik im Konzert
, 28.10.20: My lady soul mit terrible ten, Konzertaufzeichnung vom 15.9.20, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.
Musikmagazin, 25.7.20: u.a. Richard Haynes, Redaktion Florian Hauser

**DATUM OFFEN: Neue Musik im Konzert: “fette fête”, Konzertaufzeichnung, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.

ensemble proton bern, Martin Bliggenstorfer, Matthias Kuhn, Richard HaynesHanspeter Kyburz, Louis Andriessen

neo-profiles: ensemble proton bern, Thomas Kessler, Michael Pelzel, Stefan Wirth, Christian Henking, Annette SchmuckiTobias KrebsTobias Krebs

Alpsegen zur Casino-Eröffnung

Christian Fluri
Helena Winkelman, Komponistin, Violinistin und künstlerische Leiterin des profilierten Ensembles Camerata Variabile, ist eine der interessantesten, eigenwilligsten international ausstrahlenden Musikschaffenden der Schweiz und dieses Jahr Composer in Residence beim Sinfonieorchester Basel (SOB).

Helena Winkelman, Portrait mit Geige

Das Schaffen von Helena Winkelman umfasst Kammermusik, Chor – und Orchesterwerke genau so wie Oper und Musiktheater. In ihren Kompositionen entwickelt sie ausgehend von unterschiedlichsten Einflüssen wie dem Barock, dem Jazz oder verschiedenen Volksmusiken eine eigene, unsere Zeit reflektierende musikalische Sprache, die Vielschichtigkeit mit Tänzerischem, Tiefgründigkeit mit Lebensfreude verbindet.


Helena Winkelman, Camerata Variabile: Papa Haydn’s Parrot (2016)

Gleich drei neue Stücke gab das SOB bei Winkelman in Auftrag: Einkreisung und Gemini, deren Uraufführung von Ivor Bolton, Chefdirigent des SOB, dirigiert werden, sowie Goblins für sechs Schlagzeuger.  Und alle drei Werke sind dramaturgisch angelegt und haben eine eigene Lichtregie.

Einkreisung für acht Alphörner – Bergatmosphäre in der Stadt

Einkreisung, gehört zum Reigen der Werke, mit denen das renovierte, im neuen Kleid erscheinende Stadtcasino am 22. August eingeweiht wird. Geschrieben ist das Stück für acht Alphörner in unterschiedlichen Längen und Stimmungen.

“Die Idee beruht auf dem traditionellen Schweizer Alpsegen” sagt Winkelman “Ich wollte für die Eröffnung des Stadtcasinos die Bergatmosphäre in die Stadt, in den Musiksaal bringen und der urbanen Welt etwas von deren Ursprünglichkeit und Frieden mitbringen.”

Die acht Alphornspieler, das Hornroh-Quartett sowie vier HornistInnen des SOB, stehen auf der Bühne und den Emporen im Raum verteilt und kreisen so das Publikum ein. Winkelman beschreibt Einkreisung als ein Werk, das dramaturgisch den Wechsel zwischen ruhigen, fast traditionell klingenden Alpgrüssen und starken Klangschichtungen entlang der Obertonreihen der Instrumente einsetzt. Durch ein staffettenartiges Weiterreichen des Klangs im Kreis wird der neue Konzertraum dabei effektvoll in Szene gesetzt.

Helena Winkelman, Granithörner (Teaser), Camerata Variabile &Balthasar Streiff, 2018

Gemini – Inszenierte Interaktionen

Gemini, ein Konzert für zwei Violinen und Orchester, hat Helena Winkelman für zwei grosse Musikerpersönlichkeiten, Patricia Kopatchinskaja und Pekka Kuusisto geschrieben: es kommt am ersten Abonnementskonzert des SOB im September zur Uraufführung. Das Konzert besteht aus neun kurzen Szenen, die jeweils mögliche Beziehungsmodi zwischen zwei Menschen abbilden. Beide Solisten bekommen einen Schlagzeuger als Sekundanten zur Seite gestellt, der sich mit ihnen performativ durch das Stück bewegt. Die letzten drei Szenen „Battleships“, „Partners in Crime“ und „Horsing around“ bringen in humorvollem, rasantem Frage- und Antwortspiel zwischen Solisten und Orchester  verschiedene Volksmusikelemente ins Spiel. Der Höhepunkt des Stücks wird in einem inszenierten Duell erreicht, in das neben den beiden sekundierenden Perkussionisten auch der Solokontrabassist eingreift.

Während eines längeren Gesprächs über ihre Musik äussert sich Helena Winkelman zum kreativen Prozess und der Verbindung zwischen ihrer Kunst und dem Leben an sich.
“Am Anfang eines Werkes steht oft ein Klang der sich aus einer Verbindung von  Körperspannung, Geste und taktiler Vorstellung bildet> sagt sie.  <Diese drei Elemente wiederum entstehen aus einer inneren Empfindung oder einer Atmosphäre heraus.

In all den Jahren kam ich zur Einsicht,  dass es am Ende gar nicht so einen grossen Unterschied zwischen Komponierenden und Nicht–Komponierenden gibt.  Denn wie beim Komponieren gilt es auch im Leben Entscheidungen zu treffen, entlang derer sich dann der eigene Weg entfaltet. Jedes Detail ist wichtig, die Gründe sind wichtig, alles beeinflusst sich.  Das ist eine oft überwältigende Aufgabe.

Als KomponistInnen halten wir quasi eine Lupe über diese Entscheidungsprozesse. Wir zeigen im Idealfall, dass es möglich ist, eine gute Wahl zu treffen.”

Bewusstes Formen der Welt

“Ich möchte hier der oft geäusserten Ansicht widersprechen, dass Kunst dazu da ist, das Leben zu interpretieren, zu reflektieren und es zu verarbeiten. Wir befinden uns in einer Welt der Verherrlichung der Exekutive. Folgerichtig wird Kunst als wenig wichtig wahrgenommen. Doch was wäre, wenn das Leben stattdessen UNS nach einer möglichen, gewünschten Richtung fragte? Wenn tatsächlich viel mehr, als wir denken, von unserer Kreativität und Vision abhängig wäre?

Die Musik könnte uns Ermutigung und Schulung sein, diese kreativen Potenziale zu wecken und unsere Welt – wie es Künstler in ihrer Kunst tun – in jedem Moment bewusst zu formen.(Zit. Helena Winkelman)
Christian Fluri


Helena Winkelman: Atlas für Solocello (Nicolas Altstaedt), Cello und Streicher, 2019, Solist: Cello

 

Uraufführungen Helena Winkelman & SOB:
Einkreisung, 22.8. (Wiedereröffnung Stadtcasino Basel), 26.8. in: Spezialkonzert: Neue Welt. Alphorn-SolistInnen: Hornroh-Quartett, SOB: Diane Eaton, Megan McBride, Eda Paçaci, Lars Magnus

Gemini, 9. und 10.9. in: Konzert Duell, Stadtcasino Basel. Solistinnen: Patricia Kopatchinskaja und Pekka Kuusisto
Gemini wird von arte.tv aufgezeichnet.

Goblins, 4.2.2021, in: Konzert Solmidable, Stadtcasino Basel.
Helena Winkelman, Sinfonieorchester Basel, Camerata Variabile, Casino Basel,  hornroh modern alphorn quartet, Balthasar Streiff

Sendungen SRF 2 Kultur:
Kontext / Künste im Gespräch, 3.9.20., 9h/18h: Annelis Berger im Werkstattgespräch mit Patricia Kopatchinskaja und Helena Winkelmann.
Musik unserer Zeit, 9.9.20: Porträt der Komponistin und Geigerin Helena Winkelmann (Annelis Berger)

Neo-Profiles:
Helena Winkelman, Sinfonieorchester Basel, Camerata Variabile, hornroh modern alphorn quartet