Das Berliner Festival Ultraschall findet statt! Live und zeitversetzt on air am Radio, auf Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur. Der Basler Komponist und Videokünstler Jannik Giger bringt am 22.1. ein neues Stück zur Uraufführung: ‘Qu’est devenue ce bel oeuil’ für Sopran, Bassklarinette und fiktive Vierkanal-Orgel. Das Konzert ist live am Freitag, 22. Januar 2021, 20h, und in der Wiederholung am 16. Februar zu hören.
Gabrielle Weber
Giger bezieht sich in seinen Arbeiten oft auf die ‘klingende Vergangenheit’, auf Tondokumente oder Stücke von bspw. Franz Schubert, Leos Janacek oder Bela Bartok. Meist beinhalten seine Stücke auch Video, Installation oder räumliche Komponenten. Und manchmal erstellt Giger auch Filmsoundtracks, die als eigenständige Musikwerke den Filmen gegenüberstehen.
In der Video-Installation Gabrys und Henneberger – Transformationen (UA Gare du Nord Basel 2014) improvisiert der Kontrabassist Aleksander Gabrys live zu einem Video. Auf diesem ist der Dirigent Jürg Henneberger zu sehen, wie er das Ensemble Phoenix in Gigers Clash dirigiert.
Diesmal widmet er sich erstmals der Renaissance. Das neue Stück für Ultraschall mit dem Titel Qu’est devenue ce bel oeuil basiert auf dem gleichnamigen Madrigal des Renaissance-Komponisten Claude Le Jeune für Stimmen a capella.
Über sein neues Stück unterhielt ich mich mit ihm per Zoom von Zürich nach Basel auf der Zielgeraden zur Uraufführung.
Das Musikleben pausiert gerade aufgrund der Pandemie.. Wie hat sich ihr Arbeiten verändert?
In meinem Arbeitsalltag als Komponist verbringe ich viel Zeit alleine im Studio oder in der Kammer. Ausser den extremen sozialen Einschränkungen hat sich deshalb wenig verändert. Aber die Vorgeschichte und die Probenarbeit für einzelne Stücke ist kompliziert geworden.
Begonnen habe ich das neue Stück für Ultraschall in Berlin. Ich hatte dort ein Stipendium (Atelier Mondial) und wollte ein halbes Jahr lang intensiv Museen, Galerien und Konzerte besuchen. Aufgrund der Pandemie war alles geschlossen. Hingegen kenne ich nun alle Seen, Parks und Wälder in und rund um Berlin. Durch dieses Vakuum von der Aussenwelt verbrachte ich eine geschützte, zurückgezogene Zeit und konnte mich richtig gut aufs Komponieren konzentrieren. Das war eine positive Seite.
Die negative Seite: Proben- und Konzertsituationen sind die eigentliche Belohnung fürs einsame Komponieren. Diese kleinen speziellen Momente, in denen sich alles verdichtet, die sich aus dem Arbeitsjahr abheben, sind nun nicht mehr existent.
Ihre Arbeiten beinhalten meist auch Visuelles wie Video oder Installation: gibt es beim Stück für Ultraschall solche Aspekte oder adaptierten Sie es für die rein radiophone Uraufführung?
Es ist zwar ein kammermusikalisches Stück ‘für Stimme, Bassklarinette und fiktive Orgel’, war aber ursprünglich gedacht als räumliches Live-Stück. Den Auftrag erhielt ich von den Musikerinnen Sarah Maria Sun, der Sopranistin, und Nina Janssen-Deinzer, der Klarinettistin. Ihr Wunsch war der Einbezug von Elektronik. Ich entschied mich für eine Vierkanalzuspielung, eine imaginäre grosse Orgel – vier Lautsprecher, die um sie herum platziert sind. Da es nun ohne Publikum stattfindet und übers Radio ausgestrahlt wird, fällt die geplante räumliche Komponente weg.
Jannik Giger: Sarah Maria Sun (Sopran) in der Schlotterarie aus Kolik, UA Gare du Nord Basel, 2019
Eine Crazy-Harmonik..
Wie kamen Sie gerade auf Claude Le Jeune? Sie befassten sich bislang eher mit Stücken aus der Romantik, Klassik, Barock oder mit Wegweisern der Moderne? Was ist ihr Bezug zur Renaissance?
Ich schöpfe oft aus bestehenden Versatzstücken oder Materialien auf die ich zufällig stosse und die mich auf irgendeine Weise ansprechen. Der Sänger Jean-Christophe Groffe hat mich auf dieses fantastische Vokalstück aufmerksam gemacht. Speziell an Le Jeune ist die Crazy-Harmonik. Das Stück ist komplett durch-chromatisiert und einheitlich: Da gibt’s einen Text, eine Harmonik, eine Form, eine repetitive Rhythmik. Dass ich von diesem Material ausging, war ein intuitiver Entscheid. Es entstand ein assoziatives, fast anti-intellektuelles Stück mit einem einfachen Konzept: die Kombination des Choralmaterials mit Orgelklängen. Meine eigene Vorgabe war, dass es nichts anderes an Samples beinhalten dürfe als Orgelklänge.
Claude Le Jeune (1528-1600), Qu’est devenu ce bel oeuil
.. hatte das vielleicht etwas mit der Pandemie zu tun? Ein Rückbezug auf eine ferne Vergangenheit, auf die musikalische Renaissance..
Nein – oder vielleicht schon.. Es geht ja um Vergänglichkeit, das Stück hat etwas Nostalgisches. Bereits die Titel-Frage ‘Qu’es devenu ce bel oeil?’.. Was ist passiert.? Alles löst sich auf.. Le Jeune begleitete mich in Berlin. Ich komponierte da auch ein Stück fürs Arditti-Quartett, in dem ich mich auf ihn bezog.
Wie gingen Sie kompositorisch vor? Weshalb diese Besetzung?
Ich hörte mir zahlreiche Orgelaufnahmen an -von Bruckner, Machaut, Bach, Brahms, Buxtehude- und sampelte einzelne Orgelklänge ab. Darin lassen sich nicht nur verschiedene, unterschiedlich gestimmte Orgeln hören, sondern auch verschiedene Räume. Während Wochen erstellte ich mir so ein Archiv an Klängen. Dann “baute” ich aus verschiedenen Samples die fiktive Orgel durch Montage und Collage. Das Aneinanderreihen und Überlagern von Klängen und Räumlichkeiten ergab eine fast orchestrale Komplexität.
Jannik Giger, Ausschnitt aus Elektronikspur / Fiktive Orgel in: Q’est devenu ce bel oeil, UA Festival Ultraschall 22.1.2021
Im Stück kommen die beiden Solistinnen zur fiktiven Orgel: Wie muss man sich das als Ganzes vorstellen?
Das obig eingefügte Tonbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus der Tonspur der fiktiven Orgel allein. Jeder Akkord stammt von einer anderen Orgel. Die Tonspur läuft im Konzert durch, verteilt auf vier Lautsprecher, und wird sich mit den Live-Instrumenten mischen. Die zwei Ebenen spielen miteinander. Manchmal verschmelzen sie, manchmal sind sie gegenläufig.
Ein ‘Madrigal-Trip’
Das ursprüngliche Stück von Le Jeune ist ein Madrigal für Stimmen a capella, die Chromatik übernehmen Sie in die Vier-Kanalorgel – wie gehen Sie mit der Stimme um?
Sarah Maria Sun, die Sopranistin, singt auf den Originaltext von Le Jeune. Manchmal klingt das nach französischem Chanson, manchmal nach Renaissance oder nach zeitgenössischer Musik, gespickt mit neuen Spieltechniken. Die Stimme fluktuiert von melodiös und tonal zu sehr geräuschhaften Passagen. Sie spielt mit ästhetischen Referenzen. Es ist fast ein ‘Madrigal-Trip’ entstanden.
Giger on air oder im live-stream: geht das überhaupt? Sehen Sie auch Chancen in der aktuellen Situation und wie gehen Sie mit ihr um?
Wenn Kammermusik gut aufgenommen wird, auch visuell, kann das im Livestream schon funktionieren. Stücke für mehrere Instrumente oder für Orchester gehe ich aber gerade anders an. Es ist ein physisches Vakuum da: weil die Musikerkörper nicht präsent sind, weil die Ritualisierung der Konzerte fehlt, das Auftreten, das Abtreten, die Spannungsmomente. Reine Dokumentation reicht nicht mehr aus. Ich versuche, einen Schritt weiter zu gehen. Kürzlich nahm ich bspw. ein CD zusammen mit Dieter Ammann auf (CD Ammann-Giger, Mondrian Ensemble, Ensemble Nuance): Der Tonmeister Alexander Kordzaia hat die Aufnahme close mikrophoniert, bewusst fast überproduziert. Die Musik ist mikroskopisch aufgefächert. Das Produkt ist keine Abbildung von live, sondern erhielt eine komplett andere Wahrnehmungsqualität.
Was kommt danach? 2021 soll bspw. auf dem Label KAIROS eine neue CD herauskommen mit Titel Krypta – wollen Sie dazu etwas verraten? Und gibt es kommende Projekte?
Die Platte vereint bereits produzierte, z.T. noch nicht veröffentlichte Instrumentalmusik. Krypta war eine Klanginstallation fürs Musikfestival Bern, von der es auch eine reine Stereo-Audiospur gibt. Oder es gibt ein neues Stück, eine Montagearbeit aus Studio-Recordings mit den Ensembles Xasax und Thélème.
Jannik Giger, Ausschnitt aus Krypta, Multichannel Orchestration, Musikfestival Bern 2019
Ich freue mich auf ein Projekt für die Architekturbiennale in Venedig. Bei der Eröffnung im Mai im Pavillon Suisse soll ein räumliches Stück von mir aufgeführt werden – falls es stattfinden kann.. Auf Basis von Architekturtexten arbeite ich mit dem Opernsänger Andrejs Krutojs. Es geht um Venedig und die italienische Oper. Und für ZeitRäume Basel machte ich mich an die Arbeit für eine Videoinstallation. Sie befasst sich mit der Thematik der ‘Blind audition’, eine Form des gendergerechten Vorspielens für Orchesterstellen.
Gabrielle Weber
Ultraschall Berlin – Festival für neue Musik: findet vom 20. Bis zum 24. Februar statt. Hier geht’s zum genauen Programm.
Konzert 22.1., 20h, live Deutschlandfunk Kultur:
Sarah Maria Sun, Sopran, und Nina Janssen-Deinzer, Klarinetten und Saxophon, UA Jannik Giger Qu’est devenu ce bel oeuil und Werke von u.a. Georges Aperghis, Toshio Hosokawa, Wolfgang Rihm.
Wiederholung 16.2.20, 23:04h, rbb Kultur in: Musik der Gegenwart
Jannik Giger, CD Ammann-Giger / a tree in a field records – Koproduktion SRF 2 Kultur, Atelier Mondial, KAIROS, Andrejs Krutojs, Alexander Kordzaia, Ensemble Nuance, Festival ZeitRäume Basel, Biennale Venezia, Thélème, Jean-Christophe Groffe
Sendungen SRF 2 Kultur
Kultur Aktuell & Kultur Kompakt Podcast, 22.1.21, 8:05h/11:30h: Livegespräch zum Festival Ultraschall und UA Jannik Giger, Gesprächspartnerin Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, 3.2.21, 20h: Jannik Giger, der Scherbensammler, Redaktion Theresa Beyer
Musikmagazin, 6./7.2.21: Jannik Giger im Café-Gespräch mit Theresa Beyer
srf online: Multitalent Jannik Giger – Dieser Komponist hält der verstaubten Klassik den Spiegel vor, Autorin Theresa Beyer
Neo-Profiles
Jannik Giger, Sarah Maria Sun, Musikfestival Bern, Ensemble Phoenix Basel, Mondrian Ensemble, Aleksander Gabrys, Dieter Ammann, Xasax Saxophonquartett, ZeitRäume Basel