tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt

Bereits 2019 initiierten die beiden professionellen Klangkörper des Kantons Graubünden, das Ensemble ö! und die Kammerphilharmonie Graubünden, gemeinsam die Biennale für Neue Musik Graubünden – tuns Contemporans.

Die zweite Ausgabe von tuns contemporans legt den Fokus einerseits auf Komponistinnen, andererseits auf das lokale Musikschaffen. Aus einem Call for scores for ladies only werden drei Stücke uraufgeführt, ausserdem vergab die Biennale Auftragskompositionen an drei Generationen Bündner Komponisten.

Das Motto: Graubünden trifft Welt, Bekanntes trifft Unbekanntes, Neues trifft noch Neueres.

Kammerphilharmonie Graubünden ©zVg Kammerphilharmonie Graubünden

Gabrielle Weber
Die Churer Biennale für zeitgenössische Musik tuns contemporans hat einen etwas schweren Start in ihre erst zweite Ausgabe. Im September 2020 lancierte sie einen Call for Scores for ladies only. Zu dem Zeitpunkt sah die nahe Zukunft für die Musikwelt gerade etwas besser aus. Man konnte hoffen, dass im Frühling danach Live-Konzerte stattfinden können.

Nun, mitten in der dritten Pandemiewelle ohne baldige Aussicht auf Livekonzerte mit Publikum, entschied man sich, die Biennale dennoch durchzuführen. Wie so viele Festivals, live gespielt, ohne Publikum vor Ort, ausgestrahlt per Live-stream.

Glück im Unglück. Denn an vier Konzerten von Freitagabend bis Sonntag, 9.-11. April, wird nun eine Vielfalt an neuen Werken zu hören sein, in und aus Chur, in der ganzen Welt.

Die Biennale entstand auf Initiative von David Sontòn Caflisch, dem künstlerischen Leiter des Ensemble ö!, zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden.

David Sonton Caflisch ©zVg David Sonton Caflisch

 

Sontòn Caflisch ist nebst seinem Engagement für das ensemble ö! als Geiger in diversen Formationen zeitgenössischer Musik und als Komponist aktiv. Das Churer Ensemble ö! bringt regelmässig neue Stücke von Nachwuchskomponist*innen, aber auch gezielt von Bündner Musikschaffenden zur Uraufführung. Es spielt nebst Chur immer auch in Zürich und Basel und gastiert international.

 

Stefanie Haensler, Im Begriffe für Quintett, UA ensemble ö! 2016, Video Eigenproduktion SRG/SSR, Launch neo.mx3 & Ensemble ö!, Postremise Chur, 11.Oktober 2020.

Call for scores – for ladies only!

Die auf den Call for Scores eingesandten Partituren wurden von einer Jury bestehend aus ausgewiesenen Kennerinnen und Kennern der Neue Musik-Szene beurteilt:
Da sind einerseits zwei Frauen, Asia Ahmetjanova, Pianistin und Komponistin Ensemble ö!, und Karolina Öhman, Solo-Cellistin und u.a. Mitglied des Ensemble Mondrian. Dazu kamen Philippe Bach, künstlerischer Leiter Kammerphilharmonie Graubünden und tuns contemporans, Baldur Brönnimann, Gastdirigent tuns contemporans und künstlerischer Leiter Basel Sinfonietta, wie auch Sontòn Caflisch.

Aus den 124 eingereichten Werken wurden folgende drei Stücke für eine Uraufführung ausgewählt: Fragmente einer Erinnerung für kleines Ensemble von Elnaz Seyedi (Teheran), Still Images von Vera Ivanova (Moskau) für grosses Ensemble und Accord von Katrin Klose (Deutschland) für Kammerorchester. Sie werden an je einem der Konzerte der Biennale uraufgeführt.

Katrin Klose: Preisträgerin Call for Scores / Kat. Kammerorchester, UA Accord mit Kammerphilharmonie Graubünden, Eröffnungskonzert Theater Chur, Freitag, 9.4.21, 19h.

Zu hören gibt es an tuns contemporans vier Generationen des Bündner Musikschaffens. Es wurden Kompositionsaufträge für drei neue Werke vergeben – an Sontòn Caflischs, Martin Derungs und Duri Collenberg. Und in einer Matinée am Sonntag werden Lieder und ein Cello solo von Benedikt Dolf (1918 -1985) wieder aufgeführt.


Benedikt Dolf, Concertino für Streichorchester 2008, Eigenproduktion SRG/SSR

Für das einheimische Musikschaffen setzt sich die Kammerphilharmonie Graubünden seit jeher ein, sowohl in Chur, wie auch an kleineren Konzertorten in den Tälern Graubündens. Mit ihrem Engagement für tuns contemporans  und den Call for Scores setzt sie nun zusätzlich ein Zeichen für die Erneuerung des Orchesterrepertoires und für mehr Genderdiversität bei der nachrückenden Generation Orchesterkomponierender.

Als composer in residence konnte der international arrivierte finnische Komponist Magnus Lindbergh gewonnen werden. Er ist während der gesamten Biennale anwesend. In jedem der vier Konzerte werden Werke von ihm aufgeführt.
Am Eröffnungsabend mit der Kammerphilharmonie Graubünden im Theater Chur ist sein Violinkonzert von 2006 zu hören. Zusammen mit einer Uraufführung von Sontòn Caflisch und dem neuen Stück von Katrin Kloss, Gewinnerin des Call for Scores in der Kategorie Kammerorchester.


David Sontòn Caflisch, Enceladus-Variationen 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

Apartment House nach John Cage, das vielversprechende Vermittlungsprojekt von tuns contemporans, musste coronabedingt kurzfristig abgesagt werden. Cages wegweisendes Werk von 1976 hätte in Chur zum Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt und kollektive Kunst werden sollen. Das Festival wollte in Kollaboration mit einer Vielzahl an lokalen Akteuren alle Räume des Theater Chur und den Aussenbereich bespielen. Nun wird es zum Symbol für das aktuelle physical distancing.

An der Biennale beteiligt sind auch das Theater Chur und das Bündner Kunstmuseum, von wo aus alle Konzerte live gestreamt werden. Die zeitgenössische Musik soll in Chur wieder näher ans alltägliche kulturelle Leben rücken. Ein Vorsatz, den man sich in manch grösserer Stadt wünschen würde.

Die Tuns contemporans versprechen ein dichtes und vielseitiges Programm: Graubünden trifft Welt!
Gabrielle Weber

Am Call for Scores nahmen 60 Komponistinnen aus 30 verschiedenen Ländern teil. 124 Werke wurden eingereicht, davon 84 Werke in der Kategorie Kleines Ensemble, 22 Werke in der Kategorie Grosses Ensembleund 18 Werke in der Kategorie Kammerorchester. Ausgewählt wurden drei Werke zur Uraufführung in jeweils einer Kategorie.

Alle Konzerte und Angaben zum Livestream im Überblick sind zu finden auf: tuns contemporans.

In der Postremise in Chur fand unter Mitwirkung des ensemble ö! im Oktober 2020 der RTR-Launch von neo.mx3 statt: im kurzen Zeitfenster in dem Live-Konzerte möglich waren. Das ganze Konzert wurde von RTR auf Video aufgezeichnet. Die Aufnahmen finden sich auf dem Profil des ensemble ö! auf neo.mx3.

tuns contemporans, Magnus Lindberg, Katrin KloseElnaz SeyediVera Ivanova

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert: Ein Fest der neuen Musik, Abschlusskonzert tuns contemporans 2019, Redaktion Cécile Olshausen, 15.4.2020

neoblog, Ein Prost auf die Neue Musik!, Text von Thomas Meyer, 27.9.2020

Musik unserer Zeit: ö! ensemble für neue Musik, Redaktion Florian Hauser, 11.11.2020

Neo-Profiles:
Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Karolina Öhman, Asia Ahmetjanova, Basel Sinfonietta, Ensemble Phoenix Basel, Philippe BachStefanie Haensler

Ein Prost auf die Neue Musik!

RTR feiert den Launch von neo.mx3 mit einem Extrakonzert am 11. Oktober in Chur – zusammen mit dem Bündner Ensemble ö!. Dabei werden zahlreiche Werke von Schweizer Musikschaffenden aufgeführt. RTR zeichnet sie per Video auf und stellt sie anschliessend umgehend auf neo.mx3 und rtr.ch/musica zur Verfügung.

Thomas Meyer im Gespräch mit dem Geiger und Komponisten David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter des Ensemble ö!.


Asia Ahmetjanova, La voix, UA ensemble ö!, Chur 2020

Seit 2002 existiert das Ensemble ö! Es entstand damals aus einem ebenfalls von Ihnen 1991 gegründeten Streicherensemble (Musicuria). Sie waren damals noch im Gymnasium… Was war Ihr Anliegen?

Schon bei Musicuria integrierten wir in jedem Programm ein Stück Neue Musik, ja manchmal auch eine Uraufführung. Das Interesse verlagerte sich dann immer mehr in diese Richtung, und schliesslich entstand daraus mit einigen Streichern von Musicuria sowie Bläsern, Klavier und Schlagzeug das neue Ensemble ö!.

David Sontòn-Caflisch & Ensemble ö!

Was bedeutet der ungewöhnliche Name?

Als ich das Ensemble präsentierte und dabei sagte, man solle den Unterschied zwischen E und U nicht mehr machen, hat die Bündner Presse das eigenwillig interpretiert: e und u ergäben zusammen eu und das werde, französisch ausgesprochen, zum ö. Ursprünglich jedoch dachte ich an das ö!, mit dem man sich im Bündnerland zuprostet. Es ist schlicht ein Prost auf die Neue Musik.

In der Programmation nehmen Sie sich jeweils bestimmte Themen vor.

Wir setzen uns pro Saison ein Thema, das wir mit sechs Programmen im Detail beleuchten. Es geht mir als künstlerischem Leiter nicht nur darum, gute Stücke auszuwählen, sondern auch gescheite Programme zu machen, die eine Geschichte erzählen und so aufgebaut sind, als gäbe es pro Abend ein grosses Stück, an dem verschiedene Komponisten beteiligt sind.


Stephanie Hänsler, Im Begriffe, ensemble ö! 2017

Die Weite des Alls und die Einzigartigkeit der Kunst..

Die laufende Saison steht unter dem Motto „Sonnen“.

…ein weites Feld. Wenn man in den Sternenhimmel schaut, vergisst man ja häufig, dass fast alle diese leuchtenden Punkt Sonnen sind. Jede von ihnen hat ihre eigene Welt, und diese Welten sind unglaublich weit voneinander entfernt. Unser nächster Nachbar schon ist über vier Lichtjahre weit weg. Das zeigt einerseits, wie klein, andererseits, wie einzigartig wir sind. Wir sind in der Lage, die Welt über Kunst bzw. über Musik zu reflektieren! Die Weite des Alls steht also neben der Einzigartigkeit der Kunst.

Diese Aspekte beleuchten Sie auf unterschiedliche Weise: Die Konzerte heissen „Lichtjahre“, „Unzugänglichkeit“, „Energie“, „Opium“… Wie gestalten Sie die Programme?

Beim Programm „Lichtjahre“ jetzt im September standen einander beispielsweise Masse und Leere gegenüber: Die Masse von einer Milliarde Sternen kann man sich gar nicht vorstellen; zwischen den Sternen aber ist eine grosse Leere. Zwei Werke des Konzerts (von Vladimir Tarnopolski und Gwyn Pritchard) sind unglaublich dicht komponiert, so dicht, dass man nicht jeder Note folgen kann, sondern nur einer Gesamtidee. Die Stücke von Luciano Berio und von Roland Moser arbeiten hingegen mit der Leere und sind sehr leise. Jenes von Marc-André Dalbavie schliesslich kombiniert beide Elemente.


Jannis Xenakis, Dikhthas, Ensemble ö! 2017

Neu ist, dass Sie für diese Programme mit einem Kuratorium zusammenarbeiten.

Bisher hatte ich mich jeweils intensiv in die Materie eingelesen. Dafür wollte ich nun Fachleute beiziehen. Dieses Jahr sind das ein Philosoph/Psychologe, ein Journalist, eine Schriftstellerin und ein Astrophysiker. Dadurch kommt viel Fachwissen zusammen, um die Themen, die ich wähle, zu vertiefen. In unserer ersten Sitzung gingen wir zusammen jedes Programm im Detail durch und liessen Aspekte aus allen Disziplinen einfliessen. Daraus entstehen dann kurze literarische Texte, die im Konzert eingeflochten werden. Ich möchte dem Publikum nichts rein Theoretisches zumuten; deshalb setzt die Schriftstellerin die Gedanken literarisch um. Die Texte regen aber auch dazu an, das nächste Stück intensiver zu erleben. Sie bilden einen roten Faden zur Musik, die immer noch im Vordergrund steht. Weiterhin gibt es vor dem Konzert Einführungen, in denen ich stärker auf die Musik eingehe.

Die Diskussionen gehen also den Konzerten voraus.

In diesem Jahr schon, es ist ein Pilotprojekt. Später wollen wir diese Sitzungstage auch für die Musiker und fürs Publikum öffnen. Das könnte mit der Zeit eine Begleitung zu den Konzerten werden.

Es handelt sich also um ein vermittelndes und interdisziplinäres Projekt…

Vielleicht eher „transdisziplinär“. Es sind mehrere Disziplinen, die die Musik vertiefen sollen. Es ist ja immer noch etwas in Mode, dass man Konzerte interdisziplinär mit Videoelementen oder Lichtevents anreichert. Das ist berechtigt, aber man muss aufpassen, dass es nicht nur eine äusserliche Ablenkung bleibt. Unsere Musik braucht eine ziemliche Konzentration und soll intelligent kombiniert werden. Da kann man nicht bloss Unterhaltungselemente hinzufügen.

Drei Komponisten tauchen mehrmals auf: der Franzose Tristan Murail, der Österreicher Klaus Lang und der 2017 verstorbene Schweizer Klaus Huber.

Murail schreibt eine sehr sinnliche Musik. Es ist mir wichtig, diesen Aspekt zu betonen, weil gern behauptet wird, dass Neue Musik zu abstrakt sei. Bei Lang fasziniert mich, wie er auf ganz eigene Weise musikalische Weiten schafft. Und bei Huber erinnern wir an einen grossen Schweizer Komponisten, der zurzeit nicht so häufig gespielt wird. Zeitlebens hat er sich mit der Rolle des kleinen Menschen im Universum auseinandergesetzt. Bei seinem Flötensolostück „Ein Hauch von Unzeit“ hat er übrigens einst die Interpreten aufgefordert, neue Versionen herzustellen. Wir stellen gleich zwei neue Ensemblefassungen davon vor.


Klaus Huber, Ein Hauch von Unzeit IV (Fassung für Sopran, Klavier, Flöte, Klarinette und Orgel), Ensemble Neue Horizonte Bern, 1976

Mit den Uraufführungen von Duri Collenberg und Martin Derungs verweisen Sie auch auf Ihre Bündner Ursprünge…

Die beiden stehen für die jüngste und die älteste Generation von Bündner Komponisten, dies innerhalb der „Tuns contemporans“ (Zeitgenössische Töne), unserer Biennale, die wir vor zwei Jahren zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden gegründet haben. Wir fanden es nötig, dass sich die beiden professionellen Klangkörper des Kantons zusammenschliessen. Es soll die Schwellenangst gegenüber Neuer Musik nehmen. Der Finne Magnus Lindberg wird nächstes Mal als Composer-in-residence dabei sein.

Ladies only!

Für das Festival lancierten Sie auch einen Call for Scores… An wen richtete er sich?

An Komponistinnen jeden Alters aus aller Welt. Das Motto lautet: “Ladies only!”. Es sind 126 Partituren eingetroffen, von denen wir drei bei der Biennale aufführen. Aus diesem Riesenfundus werde ich aber sicher noch das eine oder andere in einer künftigen Saison berücksichtigen.
Interview: Thomas Meyer 

Ensemble ö!-Verbeugung

Concert spezial launch neo.mx3 &Ensemble ö!. 11. Oktober 2020:
Stephanie Hänsler: Im Begriffe, Alfred Knüsel: Mischzonen, Asia Ahmetjanova: La voix, David Sontòn Caflisch: aqua micans (danach als Video auf neo.mx3 und rtr.ch/musica).

Ensemble ö!: Saison 20/21
Tuns contemporans, Biennale für Neue Musik Chur: 9.-11. April 2021

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 11.11.20.: ö! Ensemble für neue musik, Redaktion Florian Hauser

Stephanie Haensler, Asia AhmetjanovaMagnus Lindberg, Tristan MurailVladimir Tarnopolski, Gwyn Pritchard, Klaus LangMarc-André DalbavieAsia Ahmetjanova

Neo-profiles: Ensemble ö!, David Sontòn CaflischKlaus Huber, Stephanie Hänsler, Martin Derungs, Roland Moser, Alfred Knüsel