Klangkunst und Musik von Martina Lussi

Die Luzernerin Martina Lussi hat Kunst studiert. Über das Hören kam sie dazu, selbst Klangkunst und Musik zu produzieren. Mit Mikrofonen und Audiorekorder bewegt sie sich durch Natur und Alltag und geht mit ihren Eindrücken zurück ins Studio. Dort verdichtet sie ihre Hörerlebnisse in Installationen, Performances und Studioalben, aber auch in Fieldrecordings und Soundwalks.

Friedemann Dupelius
Am Anfang unseres Zoom-Gesprächs gesteht Martina Lussi ein, dass sie sich etwas unsortiert fühlt. Sie arbeitet gerade viel in einer Kunst-Bibliothek, so fehle momentan die Zeit, die für sie so wichtig ist: Zum Hören, sich auf Klänge einzulassen. „Hören ist etwas sehr Langsames. Man kann nicht einfach in etwas hineinhören – man muss von vorne beginnen und sich darin absorbieren, sonst verliert man den Zusammenhang. Wer hat denn heute noch wirklich Zeit zu hören?“

Martina Lussi © Calypso Mahieu

Um sich auf unsere Unterhaltung einzustimmen, hat sie an diesem Morgen ihre Routine-Route am Vierwaldstätter See zu einem Soundwalk gemacht – zu einem Spaziergang also, bei dem man aktiv auf die Umgebung hört. Sie liest mir ihr Hör-Protokoll wie eine Einkaufsliste vor: „Rollkoffer, Gespräche, vorbeirennende Joggerin, meine Jacke, Atmen eines Hundes, Schiffsmasten, ein Mensch ahmt eine Ente nach…“ Wir merken beide, dass wir uns zwar die einzelnen Geräusche vorstellen können, dass solch einer Beschreibung aber eines abgeht: Die Räumlichkeit und Gleichzeitigkeit der Szenerie. „Meine Musik lebt davon, dass sich viele unterschiedliche Geräusche miteinander verbinden und ineinander fließen. Sie ist wie ein Stream, in dem Klänge plötzlich ganz nahe sind, um sich dann wieder in etwas aufzulösen.“

Frösche oder Holz?
Ende 2019 war Martina Lussi auf einer Residency im brasilianischen Regenwald und konnte dort in eine unbekannte Klangwelt eintauchen. „Manche Sounds waren beunruhigend, weil ich sie nicht kannte, vor allem nachts. Und es gab einen Frosch, der wie Holz klingt – das musste mir erst jemand erklären.“ Ihre Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk basiert auf einem Hörspaziergang in dem gleichnamigen Ort.

Hören als gemeinsame Erfahrung: Martina Lussi und ihre Soundwalk-Gruppe im Regenwald von Brasilien, © Karina Duarte

Schritte einer Gruppe von Menschen knirschen auf unebenem Untergrund und geben den Rhythmus vor, über dem die Stimmen verschiedener Vögel zirpen. Allmählich steigt eine Synthesizer-Klangfläche wie Nebelschwaden aus der Geräuschkulisse des Regenwaldes und geht über in sanften tropischen Regen, bis irgendwann die Frösche klappern. Es geht Martina Lussi nicht darum, die Umwelt wiederzugeben, wie sie scheinbar real klingt – sie fügt künstliche Klänge hinzu und erzeugt so neue Klangräume, wie traumhafte Erinnerungen. Auch den Wind, der manchmal in den Audiorekorder pustet, hat sie nicht herausgeschnitten. Manche Fieldrecording-Purist:innen würden das für eine schlechte Aufnahme halten. Martina Lussi nicht.


Die Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk erschien 2020 auf Vinyl beim Label Ōtium, zusammen mit einem Stück von Loïse Bulot.

Jacke oder Vögel?
Im Gegenteil: Immer wieder lässt sie in ihren Arbeiten ungewollte Nebengeräusche mit in die Kompositionen einfließen. In ihrem Stück The Listener werden diese sogar zum einzigen Klangmaterial. Es besteht ausschließlich aus den Geräuschen von Jacken. Die gerieten in Martina Lussis Fokus, als sie im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Vogelklängen Aufnahmen in der Natur machte: „Man stellt sich das so idyllisch vor, aber frühmorgens ist es oft so kalt, dass ich friere und mich ständig bewegen muss. Und in einer dicken Jacke eingepackt, klingt diese eben mit.“ Ihr fiel auf, dass diese Klänge oft selbst wie die Stimmen oder auch die Flügelschläge von Vögeln anmuteten. Sie nahm vier Jacken, improvisierte mit jeder für zehn Minuten und erstellte daraus eine Vierkanal-Installation und eine Komposition.


Das Stück The Listener ist Teil der Compilation Synthetic Bird Music und 2023 auf dem Label mappa als Kassette erschienen

Die 4-Kanal-Klanginstallation „The Listener“ wurde 2022 im Kunstraum sic! Elephanthouse in Luzern gezeigt, © Andri Stadler

Martina Lussi schärft ihre Ohren nicht bewusst mit Hörübungen, bevor sie sich ins Feld begibt: „Das passiert ganz beiläufig. Wenn ich in den Wald gehe, rieche ich die Öle der Bäume, ich sehe nicht weit, da komme ich automatisch in einen aufmerksamen Zustand, auf den ich mich gar nicht vorbereiten muss.“ So eindringlich, wie sie Jahre später noch vom brasilianischen Regenwald erzählt, wird klar: Hören geht über den Moment hinaus. Es erzeugt Erinnerungen, die lange nachwirken und von denen man auch in unruhigeren Zeiten zehren kann.
Friedemann Dupelius

Portrait Martina Lussi © Johanna Saxen

Martina LussiMartina Lussi auf BandcampSerrinha Do Alambari (Vinyl)Forschungsprojekt „Birdscapes“Kunstraum sic! Elephanthouse in LuzernCompilation: „Synthetic Bird Music“

Kommende Veranstaltungen:
18.05.2024 – Konzert in Tbilisi (Georgien), Left Bank
24.05.2024 – Moa Espa, Genf (Soundwalk)
18.06., 19:30 Uhr – Dampfzentrale Bern (UA Proximity mit dem Ensemble Proton, + Offene Probe am 17.06.)
23.06., 17 Uhr – Postremise Chur

neo-Profil: Martina Lussi

Mit experimenteller Musik in die Zukunft

Wie klingt die Stadt unter der Erde? Hört sich Musik anders, an wenn sie für eine einzelne Person gespielt wird? Und kann sie dabei helfen, in einem beschädigten Ökosystem zu überleben? Vom 2. bis 5. Dezember 2021 suchen Künstler:innen und Festivalmacher:innen des SONIC MATTER Festivals in Zürich Antworten auf diese und andere Fragen unserer Zeit.

 

George Lewis Soundlines Skirball © Digitice Media Team

 

Friederike Kenneweg
Das Motto des Festivals in diesem Jahr lautet TURN, also in etwa Umbruch, Umwälzung, Richtungsänderung, Kehre oder Wende. Unterschiedliche Formate, vom Konzert über die Ausstellung bis hin zur Diskussionsveranstaltung, thematisieren solche Veränderungsmomente in der Musik, aber auch in der Umwelt und der Gesellschaft.

Der Kunstraum Walcheturm beispielsweise verwandelt sich während des Festivals unter dem Titel „weichekissenheisseohren“ in eine 48 Stunden lang geöffnete Hör- und Video-Lounge.

 

Tanzbare Musik in Erwartung der Katastrophe

 

Am gleichen Ort erkundet Andreas Eduardo Frank in der „border line club culture“ das Verhältnis von „Musik&Katastrophen“. Unter Strom stehend, in Erwartung des Unausweichlichen, angespannt und kurz vor der Entladung – dieses Lebensgefühl der Pandemiezeit setzt Frank mit seinem Synthesizer in elektronische Musik um. Auch das angespannte Publikum kann hier tanzend ein Ventil finden. Zum Festivalabschluss ist es das Duo GLENN, das es im Kunstraum Walcheturm  laut werden lässt und zum Tanzen einlädt.

 

Prozessorientiert und nachhaltig

Prozessorientiert und nachhaltig solle das Festival sein, so formulierte es die die künstlerische Leiterin Katharina Rosenberger im Mai 2021 in einem Interview mit SRF 2 Kultur. Die Komponistin hat für die Leitung des Festivals mit der Künstlerin und Regisseurin Julie Beauvais und der Kulturmanagerin und Musikjournalistin Lisa Nolte ein Kollektiv gegründet. Die drei Frauen legen Wert auf längerfristige Zusammenarbeit mit Künstler:innen und einen kontinuierlichen Aufbau des Kontakts zum Publikum. Deshalb gibt es unter dem Namen SONIC MATTER auch eine Webseite, die als Plattform für künstlerischen Austausch, für Forschung und Begegnungen dient. Im Rahmen des Festivals werden einige Ergebnisse dieser Zusammenarbeit präsentiert.

Zum Beispiel beim SONIC MATTER_OPENLAB, das Arbeiten von Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen aus Bolivien, Kanada, Ecuador, den USA, Brasilien und der Schweiz in einer gemeinsamen Performance vorstellt. Von ganz unterschiedlichen Orten der Welt aus machen all diese Akteur:innen mit ihren jeweiligen Mitteln auf die Bedrohungen aufmerksam, der unsere Welt ausgesetzt ist. In einem Deep-Listening-Experiment werden diese verschiedenen Stimmen, Ansätze und Perspektiven dem Publikum zugänglich gemacht.

Das SONIC MATTER_village erforscht gemeinsam mit den Bewohner:innen den Klang von Zürcher Stadtquartieren. Im Rahmen von Workshops mit Bewohner:innen sind Hörstücke entstanden, die ebenfalls im Festivalprogramm präsentiert werden.

 

Beim Eröffnungskonzert im Schauspielhaus Zürich ist unter dem Titel CONNECTIVITY das International Contemporary Ensemble aus New York zu Gast. Auf dem Programm stehen hier Kompositionen von George Lewis, Nicole Mitchell, Helga Arias und Murat Çolak. Auch ein Werk des Schweizer Komponisten Jessie Cox aus Biel, der momentan in New York studiert und gerade eben mit einer Uraufführung beim Lucerne Festival Forward zu erleben war, kommt hier zur Aufführung.

 


Jessie Cox’ Black as a Hack for Cyborgification, UA 2020 online (hier in der Konzertaufnahme vom 7.10.21 mit dem International Contemporary Ensemble, im Target Margin Theatre in Brooklyn) wird am Konzert CONNECTIVITY aufgeführt.

 

 

Sinnlichkeit des Orchesters

Ganz dem Festivalmotto verpflichtet wird beim Orchesterkonzert in der Tonhalle Zürich das Stück TURN von Dieter Ammann aus dem Jahr 2010 gespielt, das das Umschlagen von einem Zustand in den anderen mit den Mitteln des Orchesters nachvollzieht. „Genau dort, wo die Musik für den Hörer ganz eindeutig, leicht fasslich wird, passiert der Turn, ein Wendepunkt, an dem die vorherige Klanglichkeit völlig implodiert und abrupt in ein anderes Klangbild umschlägt“, sagt Dieter Ammann über sein Werk. „Das ist vergleichbar mit einer Szenerie auf einer Bühne, wo Beleuchtung und Technik schlagartig eine neue Atmosphäre schaffen.“

 

Dieter Ammann, Glut für Orchester, UA 1.9.2019 Lucerne Festival Academy, Dirigent George Benjamin, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Das Stück für großes Orchester dropped.drowned von Sarah Nemtsov aus dem Jahr 2017 spielt auf feinsinnige Art mit den Klangfarben des Orchesters und macht im Gegensatz dazu Wandlungsprozesse erfahrbar, die sich eher allmählich vollziehen.

 

Dem Stadtklang auf der Spur

Wer seine Ohren anhand vom Stadtklang auf diese Art der Sinnlichkeit einstimmen will, kann das am Freitagnachmittag bei einem Hörspaziergang mit dem Klangkünstler Andres Bosshard tun, der sich vom Viadukt an der Markthalle aus auf die Suche nach besonderen Klang- oder Ruheorten macht und unter anderem dem Wasserrauschen der Limmat nachhorcht.

Beim Klangparcours Unter der Klopstockwiese des Klangkünstlers Kaspar König wird der Sound von Zürich aus einer ganz anderen Perspektive vorgestellt: von unten. Die „begehbare Hörlandschaft unter der Erde“ macht eine verzerrte Hörwelt zugänglich, die gewohnte Geräusche zu etwas Fremdem macht: entrückt und geisterhaft.
Friederike Kenneweg

 

Kaspar König macht den Sound der Stadt Zürich unter der Erde hörbar..

 

Julie Beauvais / Lisa Nolte / Katharina Rosenberger, Andres Bosshard, George Lewis, Nicole Mitchell, Helga Arias, Sarah NemtsovInternational Contemporary EnsembleKaspar König

FESTIVAL SONIC MATTER, 2.-5.12.21:
SONIC MATTER_OPENLAB
SONIC MATTER_village

Erwähnte Konzerte:
2.12.21, 20h, Schauspielhaus Zürich Schiffbau-Box: CONNECTIVITY,
3.12.21, 19:30h, Tonhalle Zürich: TURN
5.12.21, 19h, Alte Kaserne: DIĜITA

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 8.12.21, 20h: Sonic matter – ein neues Festival in Zürich, Redaktion Moritz Weber
neoblog, 11.11.21: neue Hörsituationen für neue Musik – Lucerne Festival Forward / u.a. zur UA von Jessie Cox, Autorin Gabrielle Weber
neoblog, 17.11.20: musique de création – Geheimtipp aus Genf im GdN Basel: Gabrielle Weber: Interview mit Jeanne Larrouturou zum Projekt Diĝita

neo-Profile:
Festival Sonic Matter, Katharina Rosenberger, Jessie Cox, Dieter AmmannAndreas Eduardo Frank, Ensemble Batida, Kaspar König