Entschleunigt fliesst der Atem – Pianistin Judith Wegmann

Die Bieler Pianistin Judith Wegmann geht der musikalischen Zeit auf den Grund. So tief, dass sie fast aufhört, zu existieren. Ob in Werken von Morton Feldman, in eigenen Improvisationen oder einer regen Ensemble-Tätigkeit: Für Judith Wegmann sollte man sich Zeit nehmen.

 

Portrait Judith Wegmann © Simone Haug

 

Friedemann Dupelius
„Ich habe früher nie etwas eingespielt, sondern mich immer ganz dem Live-Moment hingegeben“, erzählt die Musikerin, die im Kanton Zug geboren ist und in Biel lebt. „Das veränderte sich 2016, als ich über mehrere Wochen im Krankenhaus war und daher über Monate nicht Klavier spielen konnte. Die Musik als täglicher Lebensinhalt, als meine Sprache fehlte mir sehr.“ Als Musikerin, die sonst täglich die Beziehung zu ihrem Instrument pflegt, muss sich dieses halbe Jahr schier endlos angefühlt haben. „So entwickelte ich eine Strategie, um mich trotzdem mit Musik beschäftigen zu können und meine Gedanken in eine positive Richtung zu leiten und entwarf innerlich Konzepte für mein Album Le souffle du temps. Als ich nach Monaten endlich wieder in mein Atelier gehen konnte, habe ich mich gleich mehrere Wochen zurückgezogen, um das Album zu realisieren. Ohne viel Vorerfahrung habe ich selbst eingespielt und gemischt.“

 


In Ihrer Improvisation Reflexion IV aus dem Jahr 2019 spinnt Judith Wegmann Ihr Projekt Le souffle du temps als Eigenkomposition aus dem Moment weiter.

 

Bereits in den Jahren zuvor hatte sich Judith Wegmann intensiv mit der Zeit in der Musik beschäftigt. Seit über zehn Jahren ist das ein Schwerpunkt ihres Schaffens. Musik ist Zeitkunst, wir wissen das alle. Wegmanns chronopoetische Tiefenbohrung führt sie jedoch auf eine Weise zum Kern dieser einfachen Wahrheit – bis dorthin, wo Zeit aufhört, gemessene Zeit, strenge Taktung zu sein
„Ich habe begonnen, sehr lange Konzerte zu spielen – zwei Stunden im Schnitt. Mir ist es wichtig, einen Kosmos für das Publikum und für mich zu schaffen, in dem man für einen Moment entschleunigen und das Drumherum vergessen kann.“ Das Tempo im Zeitalter der sozialen Medien ist hoch. Konzerte können für Wegmann ein ruhiger Gegenpol dazu sein.

 

Der Atem der Zeit
Judith Wegmann ist ein Nachtmensch. Ab Nachmittag wird sie aktiv und verbringt ganze Abende und Nächte am Flügel spielend im Atelier. „Das ist für mich seelischer Balsam – Erholung und Entschleunigung. Das Studio liegt im 2. Untergeschoss, dort gibt es keinen Empfang, man kann mich nicht erreichen. Wenn ich spiele, denke ich nicht mehr.“

 

 

Portrait Judith Wegmann @ Algis Jakstas

 

Zeitdehnung und Entschleunigung sind das eine prägende Element im Schaffen der Bielerin – zwischenmenschliche Beziehungen das andere, nicht minder wichtige. Mit dem Projekt Réflexion ging Le souffle du temps in die zweite Runde. Sie bat Komponist:innen, die sie persönlich schätzt, auf die Musik zu reagieren. Da ist zum Beispiel Edu Haubensak, den Judith Wegmann hoch schätzt.

 


Edu Haubensak hat mit Manga eine Réflexion (2019) für Judith Wegmann geschrieben. Die Kollaboration der beiden wird 2024 weitergehen.

 

Und es wurde auch ein generationenübergreifendes Projekt. Der 86-jährige Daniel Andres ist nicht nur Wegmanns Nachbar in Biel, „sondern auch ein wunderbarer und inspiererender Komponist. Ich habe ein Bauchgefühl dafür, mit wem ich gut zusammenarbeiten kann. Das täuscht mich fast nie. Es braucht einfach eine gemeinsame Ebene im Grundverständnis vom Leben, so individuell auch alle Menschen sind.“

 


Auch Daniel Andres’ Zyklus: Souvenir d’un instant entstand als Reaktion auf Le souffle du temps von Judith Wegmann.

 

Morton Feldman konnte Judith Wegmann nie kennen lernen. Es ist also eine abstrakte Beziehung, die sich ausschliesslich aus der von Feldman hinterlassenen Musik speist. Auch hier zentral: Die Zeit, und wie man sie aushebeln kann. „Ich habe auch schon mit dem Taschenrechner versucht, die komplexe rhythmische Struktur von Feldmans Musik mathematisch zu analyiseren und verstehen zu lernen, sodass ich sie überhaupt verkörperlichen konnte. Letztendlich kann ich sie aber doch kaum erklären. Es gibt zahlreiche Wiederholungen in dieser Musik mit ihren immensen Dauern. Es ist unglaublich, wie man diese selbst während den Konzerten erlebt und welche körperlichen Veränderungen dabei entstehen.“

Intensiv hat sich Judith Wegmann auch damit beschäftigt hat, einen adäquaten Tasten-Anschlag für Feldmans Werke zu finden, die zwischen feinsten Piano- und Pianissimo-Abstufungen changieren. Obwohl das Klavierpedal stets gedrückt bleibt, braucht es präzise gesetzte Anschläge, um die einzelnen Töne klanglich zu formen.

 


Judith Wegmann hat fast alle Klavierwerke von Morton Feldman gespielt, auch Triadic Memories (1981). Für die Zukunft hat sie sich noch das Trio For Philip Guston (1984) für Flöte, Schlagzeug und Klavier vorgenommen.

 

Ich frage Judith Wegmann, ob sie im Publikum in den letzten krisenhaften Jahren ein verstärktes Interesse für kontemplative Musik feststellt – was zumindest mir so auffällt. „Es war schon immer ein eher kleines Publikum bei experimentelleren Programmen. Das liegt auch daran, dass ich seit Jahren fast alle meine Konzerte selbst veranstalte. Ich spiele vorwiegend in Kunsthäusern, da passen Feldmans Musik und experimentelle Musikprojekte generell meinem Empfinden nach hin. Das Publikum kann sich frei bewegen. Das nehmen die Leute gerne an und tun das immer auch mit einem Feingespür für die Musik.“

 


Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt spielt Judith Wegmann mit dem Pianisten Simon Bucher (Probenaufnahme, 2023, Ausschnitt).

 

Grosse Publikumsresonanz fanden Wegmanns Konzerte mit Musik von Philip Glass, klassische Programme – oder auch Konzerte mit Canto Ostinato für Duo-Klavier von Simeon ten Holt. Das 1976 fertiggestellte Stück ist in der niederländischen Heimat des Komponisten eine Art Hit. „Ich bin darauf über die Beschäftigung mit den Etüden von Glass gekommen. Ich finde Canto Ostinato ein sehr schönes Stück, es hat mich in seiner melodischen Einfachheit sehr berührt. Ohnehin gehe ich an so viele unterschiedliche Konzerte – Punk, Garage Rock, Psychedelic, Klassik, ich kann überall etwas herausziehen. Canto Ostinato besteht aus über 100 Zellen, die man in sich so oft wiederholen kann, wie man möchte. Eine Aufführung könnte sechs Stunden gehen, gemeinsam mit meinem Duo-Partner Simon Bucher erreichen wir ungefähr zwei Stunden. Es ist eine sehr intime Spiel-Situation. Der Blickkontakt mit dem Duo-Partner entscheidet, wann das nächste Pattern beginnt. Das Stück erfordert hohe Konzentration beim Spielen und ist dennoch sehr ruhig zum Zuhören.“ Angesprochen auf Simon Bucher, mit dem sie ten Holt spielt, gerät Wegmann ins Schwärmen: „Er hat so einen schönen Klang! Die Zusammenarbeit mit ihm ist musikalisch und menschlich sehr bereichernd.“

 

Judith Wegmann & Simon Bucher © Judith Wegmann (Screenshot aus Video)

 

Auf demselben Ton gelandet
Nicht weniger warme Worte findet sie für ihre Kölner Kollaborationspartnerin, die Pianistin Marlies Debacker. Ein Veranstalter hielt es für eine gute Idee, die beiden unbekannterweise für eine Duo-Improvisation an zwei Flügel zu setzen.

 


Judith Wegmann und Marlies Debacker auf dem gemeinsamen Album things in between, aufgenommen 2021 in Biel.

 

Und die Idee war hervorragend: „Am Ende landeten wir beide auf demselben Ton. Es brauchte keine Worte, das kam erst hinterher. Marlies ist wie ich musikalisch vielseitig. Sie macht Klassik, Jazz, neue Musik. Sie hat ein gutes Gespür für Bögen. Für mich war es von Beginn an wie eine Symbiose. Als wir eine gemeinsame Aufnahme anhörten, konnte ich gar nicht immer sagen, wer gerade was gespielt hat.“
Friedemann Dupelius

 

Judith Wegmann & Marlies Debacker

 

Canto Ostinato (1976) von Simeon ten Holt, interpretiert von Judith Wegmann, in voller Länge.
Judith WegmannSimon BucherMarlies DebackerDaniel AndresPhilip GlassEdu HaubensakMorton FeldmanSimeon ten HoltHat Hut Records, Bruno Duplant, New3Art.

Kommende Veranstaltungen:
15.12.2023 – Simeon ten Holt: Canto Ostinato im Duo mit Simon Bucher, in der Sala Perriera – im Kulturzentrum Cantieri Culturali alla Zisa, Palermo (IT)
17.2.2024 Duo mit Marlies Debacker, Raum für Musik Zoglau (D)
28.2.2024 Zu Gast bei Ensemble 5 (4+1), WIM Zürich

Kommende Veröffentlichungen:
2024 erscheinen drei neue CDs von Judith Wegmann:
Kont.Takte mit dem Ensemble New3Art enthält Karlheinz Stockhausens Kontakte, ein Auftragswerk von Antoine Chessex (Geschichten der Gewalt) und einer Improvisation, Koproduktion SRF2Kultur.
Hinzu kommt eine Einspielung der Etudes von Philip Glass und die CD univers paralleles II mit dem Sound Designer und Komponisten Bruno Duplant. Alle erscheinen beim Label Hat Hut (ezz-thetics).

Neo-Profile:
Judith Wegmann, Daniel Andres, Edu HaubensakAntoine Chessex

Wien Modern spielt ohne Publikum

17 Neuproduktionen als Stream im Lockdown: 6.-29.11.20

Gabrielle Weber
Die Stadt Wien traf es hart. Zuerst frühzeitig zur Quarantäneregion erklärt, dann der kurzfristig ausgerufene Lockdown für den Monat November. Kurz darauf die unfassbare Terrorattacke. Das einzigartige Musikfestival Wien Modern ist zeitlich und geographisch mittendrin. Es bespielt die Wiener Innenstadt normalerweise jeweils während des ganzen Monats an diversen Orten.

Saal Konzerthaus ohne Publikum ©Markus Sepperer 

Unter dem Motto “Stimmung” spürt das Festival vielschichtig und vieldeutig der aktuellen Stimmungslage im Jahr 2020 nach. 44 neue Produktionen und 85 neue Stücke hätten zur Aufführung kommen sollen, verteilt auf 32 Tage. Nur das Eröffnungswochenende fand mit Publikum statt. Gezeigt wurden sechs Produktionen und damit gerade mal 14% des Gesamtprogramms.

Am dritten und zugleich zweitletzten Abend konnte noch die Uraufführung von Edu Haubensaks Grosser Stimmung gespielt werden. Wien Modern scheut keinen Aufwand – fast vorausahnend wurde der Zuschauerraum des Wiener Konzerthauses für die elf verschieden gestimmte Konzertflügel leergeräumt. Das Publikum war freilich noch präsent – auf den Rängen.

So konnte Haubensaks Grosse Stimmung erstmals als Ganzes live erlebt werden. Denn nach Teilaufführungen wurde die geplante integrale Uraufführung im Sommer an der Ruhrtriennale bereits Pandemiebedingt abgesagt. Angereist waren trotz Quarantäne die drei Schweizer Pianistinnen Simone Keller, Tomas Bächli und Stefan Wirth.

Edu Haubensak, Grosse Stimmung © Markus Sepperer

Dann kam der Lockdown mit Veranstaltungsverbot und Ausgangsbeschränkung. Rasch fiel der Entscheid: Insgesamt 24 Veranstaltungen und damit über die Hälfte der Konzerte werden nun ohne Publikum aufgeführt und per Stream kostenlos öffentlich zugänglich gemacht.

Bereits fünf Tage nach dem Lockdown fand das erste Konzert vor leerem Saal für den Stream statt: die Uraufführung von Sofia Gubaidulinas lange erwartetem neuem Orchesterwerk Der Zorn Gottes im Musikverein am Freitag, 6. November. Unter dem Dirigat von Oksana Lyniv spielt das Radiosinfonieorchester Wien (RSO). Die geplante Uraufführung bei den Salzburger Osterfestspielen mit der Staatskapelle Dresden und Christian Thielemann erlebte nach mehrmaligem Verschieben bereits eine coronabedingte Absage.

Dass es nun online doch zur Uraufführung kam, ist gerade jetzt, in der vom Terror versehrten Stadt Wien, wichtig. Die Aufführung versteht Gubaidulina als Zeichen des Friedens in einer Zeit des zunehmenden Hasses und «einer allgemeinen Überanspannung der Zivilisation“.

Klaus Lang: tönendes Licht

Klaus Lang, tönendes Licht, Livestream aus dem Stephansdom, 19.11.20

Wichtige weitere Highlights sind am 18. November im Wiener Konzerthaus ein Konzert mit drei Uraufführungen. Nebst neuen Werken von Friedrich Cerha und Johannes Kalitze wird auch ein Stück von Matthias Kranebitter, dem Preisträger des Erste Bank Kompositionspreises uraufgeführt – eine neue Enzyklopädie der Tonhöhe und Abweichung. Aufgeführt durch das Klangforum Wien und dirigiert von Kalitzke selbst. Oder live aus dem Wiener Stephansdom am 19. November die Uraufführung tönendes licht von Klaus Lang, ein “Riesenorgelkonzert” (Zit. Wien Modern) für die weit auseinandersitzenden Wiener Symphoniker unter Leitung von Peter Rundel.

20 Jahre Ensemble Mondrian – Jubiläumskonzert in Wien: Die Produktion musste am 16.11.2020 aufgrund einer Schweizer Quarantänevorschrift leider auf 2021 verschoben werden.

 

Portrait Mondrian Ensemble & Thomas Wally © Markus Sepperer

Auch aus der Schweiz gibt es etwas zu hören: Am 21. November präsentiert das Mondrian Ensemble zu seinem 20Jahr-Jubiläum in Wien Werke von Martin Jaggi und Thomas Wally, beides langjährige Weggefährten des Basler Ensembles.


Ensemble Mondrian, Thomas Wally, Podcast

Uraufführungen von Andres Bosshard mit Zahra Mani und Mia Zabelka mussten hingegen auf November 2021 verschoben werden. Ebenso das Konzert des Basler Ensembles Nikel mit Werken von Thomas Kessler und Hugues Dufourt.

Bernhard Günther, der künstlerische Leiter von Wien Modern, äusserte sich in einem längeren Statement zum Lockdown und zur kulturellen Stimmung in Österreich folgendermassen: ” Die Stimmungslage in diesem Bereich ist derzeit so, dass es dringend ganz deutliche Signale braucht, damit Kultur nicht als Opfer des Gesundheitswesens, des Wintertourismus in den Bergen und des Weihnachtsgeschäfts empfunden wird. Es ist klar, dass ein Kapitän versuchen muss, einem Eisberg auszuweichen, aber er muss jetzt alles dafür tun, damit das Schiff nicht an der anderen Seite auf Grund läuft.”  (Zit. Günther)

Durch die Streams versucht nun Wien Modern, einen Teil des Wiener kulturellen Lebens aufrecht zu erhalten und zugänglich zu machen. Vielleicht kann damit immerhin -gemäss dem Festivalmotto- die aktuelle Stimmungslage etwas verbessert werden, auch wenn die existenzbedrohende Lage für das Kulturschaffen dadurch nicht geschmälert wird.

Als Zeichen der Solidarität seitens SRF 2 Kultur und neo.mx3 freuen wir uns, an dieser Stelle auf die Streams hinzuweisen.
Gabrielle Weber

Portrait Bernhard Günther © Wien Modern

 

Der Zorn Gottes ist ab 6. November 7 Tage lang per Stream nachzuhören auf: www.wienmodern.at

Alle Streams sind zu finden auf: Wien Modern
sowie teilweise auf den Homepages von Musikverein und ORF RSO 

Sendungen SRF 2 Kultur

Kultur kompakt Podcast9.11.20: Theresa Beyer, “Der Zorn Gottes” entlädt sich im Stream zur UA Wien Modern, Sofia Gubaidulina:

Neoblog, Corinne Holtz: Wenn aus Leidenschaft Subversion wird – Portrait Simone Keller

Kontext, 21.10.20, Corinne Holtz: Zehn neu gestimmte Klaviere

In Musik unserer Zeit21.10.20: Florian Hauser / Gabrielle Weber:  zu neo.mx3: Simone Keller & Edu Haubensak

Neo-profiles
Simone Keller, Stefan Wirth, Wien Modern, Edu Haubensak, Mondrian Ensemble, Martin Jaggi, Thomas Kessler

Wenn aus Leidenschaft Subversion wird

Portrait Simone Keller – Pianistin, Kuratorin, Performerin und Musikvermittlerin

Corinne Holtz
Das Jahr 2020 beginnt dicht getaktet mit Konzerten. Für Laptop4, ein instrumentales Theaterstück von Lara Stanić, schaltet das Kukuruz Quartett auch Kamera und Mikrofon ein. Für die Produktion des Ensemble Tzara und Uraufführungen von Patrick Frank und Trond Reinholdtsen sitzt Simone Keller am Klavier. Am Tag vor der Ankündigung des Lockdown, am 12. März, präsentiert sie zusammen mit dem Ensemble thélème ein launiges Programm mit Vokalmusik von Guillaume de Machaut bis Francis Poulenc.

Portrait Simone Keller © Lothar Opilik

Dann gehen die Lichter aus. Auch die Uraufführung Grosse Stimmung  von Edu Habensak für verschieden gestimmte Klaviere ist betroffen. Die Ruhrtriennale wird abgesagt, das Festival Wien Modern jedoch soll Ende Oktober stattfinden. Die Parkettsessel im grossen Saal des Wiener Konzerthaus müssen weichen. Es wird Platz geschaffen für insgesamt zehn unterschiedlich gestimmte Konzertflügel.

Simone Keller, Tomas Bächli und Stefan Wirth haben fest vor, am 31. Oktober den über drei Stunden dauernden Zyklus zu spielen. Das Finale ist ein neu beauftragtes Tutti, bei dem Studierende der Universität für Musik und darstellende Kunst mitwirken.
«Ja, wir reisen nach Wien, ausser es gäbe wirklich ein Einreise-Verbot. Auch die Quarantäne würden wir in Kauf nehmen. Ich habe Anfang September bei den Wiener Festwochen gespielt. Die Veranstalter haben unendlich sorgfältig Regeln und Massnahmen eingehalten, damit die Vorstellungen stattfinden konnten.»


Rat einer Frau: “weniger Emotionen zeigen und die Frisur vorgängig mit einem Mann absprechen..”

Simone Keller spricht auch offen über die finanziellen Folgen der Pandemie. 80% der Verdienstausfälle konnte sie in den letzten Monaten durch die staatlichen Unterstützungsmassnahmen decken. Das neue Covid-Gesetz, seit September in Kraft, sichert den Erwerbsersatz bis Juni 2021. Berechtigt ist aber nur, wer gegenüber den Einnahmen von 2015-2019 eine Umsatzeinbusse von mindestens 55% belegen kann. “Das ist natürlich ein Hohn, wenn man wie ich im Jahr nur 40’000 Franken verdient, also auch mit 100% nur knapp durchkommt.”

 

Simone Keller in Lara Stanic, Fantasia für Klavier-Solo und Elektronik, 2020

Die Krise ist existenziell. Trifft sie Frauen härter als Männer? «Als freischaffende Künstlerin bin ich sowieso zuunterst in der Nahrungskette. Dort wird wahrscheinlich nicht mehr nach Geschlecht abgestuft.» Anders sieht es aus, wenn Frauen auf die Bühne kommen und Signale senden, die das Publikum bewertet. «Für mich war die Rückmeldung einer Frau in einer hohen Leitungsfunktion ein Schlüsselerlebnis. Sie riet mir, weniger Emotionen beim Musizieren zu zeigen und meine Frisur immer vorgängig mit einem Mann abzusprechen. Sie selber würde immer ihren Ehemann fragen, wie er ihr Äusseres bewerte, bevor sie zu einem wichtigen Termin gehe.» Seither schaut sich Simone Keller «auch den Sexismus unter Frauen genauer» an.

Simone Keller spielt Julia Amanda Perry © Wiener Festwochen 2020 reframed

“möglich machen, was unmöglich ist”

Die Musikerin erforscht sich selbst, wenn sie wenig bekanntes Repertoire erschliesst und erfrischende Formen der Programmierung wagt. Zum Beispiel im Rahmen der Carte blanche, die ihr der Jazzclub Moods in Zürich gewährt hat. «Möglich machen, was unmöglich ist», sagt die Pianistin und Kuratorin am ausverkauften Eröffnungsabend des Festivals ‘Breaking Boundaries’. Ihr Treiber scheint Leidenschaft und Subversion in einem zu sein, getragen vom Feuer, endlich wieder vor Publikum spielen zu dürfen.

Drei Spielorte hat sich Simone Keller für die drei Programmpunkte ausgedacht: vier Konzertflügel in jeweils eigener Stimmung für einen Querschnitt aus Edu Haubensaks Klavierzyklus Grosse Stimmung, sechs Klaviere für Musik von Julius Eastman -interpretiert auch von drei Asylsuchenden als MitmusikerInnen-, sowie den Flügel aus dem Moods für die Improvisation von Vera Kappeler und Peter Conradin Zumthor am Schlagzeug. «Der Aufwand war enorm, die Realisierung verdanken wir dem Einsatz des Klavierbauers Urs Bachmann und seinem Team.»


Einladung zum Farbenhören – eine einzige Taste wird zum Mikrocluster

Simone Keller versprüht Funken wenn sie loslegt. Jeder Ton bekommt jene Zufuhr an Energie, die er braucht. Präzise platziert in Raum und Zeit, geformt aus pianistischem Feinsinn. Patterns werden zu nachvollziehbaren Phrasen. Schockmomente sind ebenso überlegen ausgearbeitet wie lyrische Gesten. Die extrem physische Musik Haubensaks wird plastisch. Als “Geräuschkuben” bezeichnet Haubensak die resultierenden Klänge: sie springen die Zuhörerin regelrecht an. Das Schwirren der sich überlagernden Schwingungen etwa in Collection II  setzt nie gehörte Farben frei. Es wetterleuchtet im Ohr. Haubensak hat für die Skordatur von Collection II eine eigene Mischstimmung kreiert. Jede Lage des Klaviers bekommt dadurch einen besonderen Charakter. Werden alle drei Saiten (bzw. Töne) einer Taste unterschiedlich gestimmt, weitet sich der Horizont. Eine einzige Taste wird zum Mikrocluster. Das Klavier entgrenzt sich, wenn alle 241 Saiten anders gestimmt sind. Und der Angriff auf das Herrschaftsinstrument wird zur Einladung zum Farbenhören.


Simone Keller spielt Edu Haubensak Pur, für Klavier in Skordatur (2004/05, rev. 2012)

Simone Keller formuliert über die Kunst hinaus «kühne Wünsche»: Soziale Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern, ein Grundeinkommen bei gleichzeitiger Selbstverantwortung des Risikos, Einbindung von Aussenseitern in die kulturelle Praxis. Dort wird es vermehrt zu tun geben, denn die Krise hat eben erst angefangen. Die Pianistin leitet seit 2014 zusammen mit dem Regisseur Philipp Bartels das Künstlerkollektiv ‘ox+öl’. Es führt Kompositions- und Improvisationswerkstätten durch: für und mit Kindern mit Migrations­hintergrund. Es gibt partizipative Konzerte: mit jugendlichen Gewalt­verbrechern im Gefängnis.

Simone Keller wappnet sich für die unwägbare Zukunft. Im Sommer hat sie sich auf ein weiteres Feld eingelassen: eine «Intensiv-Weiterbildung in Gebärdensprache, ausgelöst von einem Musiktheaterprojekt mit Gehörlosen». Vielleicht macht sie eine Ausbildung und wird Gebärdensprache-Dolmetscherin, «ein sehr gesuchter Beruf». Es kann sein, «dass ich meine soziokulturelle Arbeit im Gefängnis und im Asylbereich vertiefen werde und weniger selber konzertiere.»
Corinne Holtz

Portrait Simone Keller

Festival Wien Modern, Edu Haubensak: Grosse Stimmung, 31.10.20

Simone Keller, Wien Modernox&öl – Breaking Boundaries Festival, Philipp Bartels, Edu Haubensak, Tomas Bächli, Stefan Wirth, Ensemble Tzara, Lara Stanic, Patrick Frank, Ensemble thélème, Duo Kappeler Zumthor, Urs Bachmann, Trond ReinholdtsenMoods Club, Kukuruz Quartett

Sendungen SRF 2 Kultur:
Kontext, Mittwoch, 21.10.20, 17:58h: Künste im Gespräch, Redaktion Corinne Holtz

in: Musik unserer Zeit, Mittwoch, 21.10.20., 20h: Redaktion Florian Hauser / Roman Hošek / Gabrielle Weber: Sc’ööf! & neo.mx3

Neo-Profiles:
Simone KellerEdu Haubensak, Lara Stanic, Stefan Wirth, Ensemble Tzara, Patrick Frank, Peter Conradin Zumthor, ox&öl, Kukuruz Quartett, Trio Retro Disco

Texte:
Thomas Meyer: Edu Haubensak – Das wohlverstimmte Klavier, in: Schweizer Musikzeitung, Nr. 11, November 2011
Edu Haubensak: von früher…von später. Im Dickicht der Mikroharmonien, in: MusikTexte 166, August 2020
Pauline Oliveros: Breaking Boundaries