Mit historischen Synthesizern zum Klang der Gegenwart

Elektronische Musik ist die Leidenschaft der Komponistin Svetlana Maraš. Seit September 2021 ist sie Professorin für kreative Musiktechnologie und Co-Leiterin des Elektronischen Studios an der FHNW in Basel. Ihre Kompositionsklasse gestaltet das Radiokonzert der Schwerpunktwoche Classical and Jazz Talents von SRF 2 Kultur am 29. Juni, live übertragen am Radio.

 

Die Komponistin Svetlana Maraš, Foto von Branko Starčević
Die Komponistin Svetlana Maraš ©Branko Starčević

 

Friederike Kenneweg
„An der Hochschule zu arbeiten, ist natürlich eine Herausforderung an das Zeitmanagement, wenn man die eigene künstlerische Arbeit nicht aufgeben will“, sagt Svetlana Maraš.

Doch zu ihrer Erleichterung konnte die Komponistin feststellen, dass sich die beiden Tätigkeitsfelder nicht im Weg stehen, sondern gegenseitig ergänzen.

„Mit den Studierenden entdecke ich manchmal ganz neue Sachen, die wieder für meine eigene Arbeit fruchtbar sind. Es ist also nicht etwas komplett anderes, es ist eher wie ein Kontrapunkt zu meiner kompositorischen Arbeit.“

Die serbische Komponistin, die 1985 geboren wurde, absolvierte zwar eine eher klassische musikalische Ausbildung, mit frühem Klavierunterricht, dem Besuch einer Schule mit Musikschwerpunkt und mit einem Kompositionsstudium. Zugleich gab es da aber immer das Interesse an den Möglichkeiten der elektronischen Klangbearbeitung, das sie zu internationalen Workshops und Kursen führte und schließlich zu einem Abschluss in Sound- und Medienkunst im Media Lab der Universität in Helsinki.

 


Das Kammermusikwerk Dirty thoughts von Svetlana Maraš aus dem Jahr 2016

 

Von 2016 bis 2021 war Svetlana Maraš Composer-in-residence und zugleich künstlerische Leiterin des Elektronischen Studios von Radio Belgrad. Eines der technischen Glanzstücke dort ist der EMS Synthi 100, ein analoger Synthesizer aus dem Jahr 1971, von dem nur drei Stück gebaut wurden. Maraš setzte sich intensiv mit den Möglichkeiten dieses Instrumentes auseinander und nutzte ihn in verschiedenen ihrer Kompositionen, unter anderem in ihrem Radio Concert Nr. 2, das 2021 für das Heroines of Sound Festival in Berlin entstand.

Der EMS Synthi 100 ist allerdings so groß und schwer, das er nicht an einen anderen Ort transportiert werden kann. Der Studioraum wiederum ist so klein, dass dort kein Platz ist für größeres Publikum. Also wurde die Live-Performance aus dem kleinen Studioraum per Videostream zum Festivalort übertragen.

Einige Teile des Stückes sind festgelegt, doch Maraš schafft sich darin Räume, innerhalb derer sie improvisieren kann. Und dabei kommt ihr zugute, dass sie das Instrument schon so lange erforscht hat. „Es ging nicht mehr darum, was das Instrument kann, sondern darum, was ich mit dem Instrument machen will.“

 

Hommage an die frühe elektronische Musik

Den Klangreichtum des historischen Synthesizers ergänzte sie mit den Möglichkeiten des Computers. Svetlana Maraš nutzte aber auch die alte, analoge Technik des Tonband-Loops in ihrem Radio-Konzert – als Hommage an die frühe elektronische Musik, mit der sie sich immer in einem Dialog sieht. Und tatsächlich sind es die Bilder der Pionierinnen der elektronischen Musik wie Delia Derbyshire, Daphne Oram und Éliane Radigue, die vor dem inneren Auge aufscheinen, wenn man Svetlana Maraš dabei zuschaut, wie sie an den Reglern und Knöpfen des EMS Synthi 100 dreht.

Im Elektronischen Studio Belgrad gab es vor Svetlana Maraš nur eine einzige Frau, die dort Werke produziert hat: die Komponistin Ljudmila Frajt (1919-1999). Als künstlerische Leiterin des Studios widmete Svetlana Maraš dieser Vorreiterin ein eigenes Konzertformat, um auch hier der Vorgängerin die Ehre zu erweisen.

 

Die Komponistin Svetlana Maraš dreht an den Reglern des EMS Synthi 100
Svetlana Maraš dreht an den Reglern des EMS Synthi 100 im Elektronischen Studio von Radio Belgrad.

 

Einen wichtigen Unterschied von damals zur heutigen Zeit sieht Svetlana Maraš allerdings darin, dass die analogen Studiosynthesizer heute nicht mehr als Workstations für vorproduzierte elektronische Musik dienen, sondern live verwendet werden – wenn das auch manchmal über den Umweg des Video-Konzerts passieren muss.

 


Svetlana Maraš, Ausschnitte aus Post-excavation activities von. 2020

 

Beim diesjährigen Heroines of Sound– Festival in Berlin wird die Uraufführung von Scherzo per oscillatori für Minimoog von Svetlana Maraš zu hören sein. Hier spielt die Komponistin aber nicht selbst das Instrument, sondern das Stück wird von dem Pianisten Sebastian Berweck interpretiert. Das stellte in der Vorbereitung eine besondere Herausforderung für die Komponistin dar, musste sie doch erst eine Art der Notation für die Einstellungen des Synthesizers entwickeln.

 

Die Einfachheit des Synthesizer-Klangs entdecken

Bei der Entwicklung des Werkes war Svetlana Maraš auf der Suche nach einer gewissen Einfachheit des Klangs: von dem ausgehen, was der Synthesizer mitbringt, ihn klingen zu lassen, ohne es besonders kompliziert zu machen. Diese Einfachheit kann dann aber ganz unterschiedlich klingen: ein Klicken. Ein Knacken. Eine interessante Klangveränderung oder Verschiebung über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Etwas, das einem wie ein Fehler vorkommt. Aber in der elektronischen Musik ist auch das Erzeugen des Einfachen schon recht komplex: Jede Festlegung auf einen Klang setzt eine Vielzahl von Entscheidungen bei den unzähligen Parametern voraus, die innerhalb des Instruments gestaltet werden können.

 

Elektronische Musik im Radio

Mit der Unendlichkeit der Möglichkeiten umzugehen, die einem die Computertechnologie bereitstellt, ist etwas, das Svetlana Maraš auch ihren Studierenden nahebringt. Wenn sie davon spricht, ist ihr die Begeisterung deutlich anzumerken: „Es ist eine tolle Erfahrung, den Studierenden dabei zu helfen, ihre eigene künstlerische Stimme zu finden. Ich bin so zufrieden mit den Projekten, die sie entwickelt haben – das macht mich wirklich glücklich.“

In diesem Jahr bietet sich den Studierenden noch eine besondere Möglichkeit, am Ende des Semesters ihre Projekte der Öffentlichkeit zu präsentieren: ein Radiokonzert. In der Schwerpunktwoche Classical and Jazz Talents widmet sich SRF 2 Kultur vom 26. Juni bis zum 3. Juli dem musikalischen Nachwuchs. Am 29. Juni präsentieren Studierende des Elektronischen Studios der FNHW für diesen Anlass in Zusammenarbeit entstandene, vorproduzierte elektronische Werke im Auditorium des Meret-Oppenheim-Hochhauses (MOH) in Basel, live übertragen am Radio. Danach kommt das Stück Welcome to the Radio! von Maraš’ Kompositionsstudent Dakota Wayne zur Uraufführung, interpretiert durch das Noise Ensemble des Elektronisches Studios Basel: eine fiktive Talkshow, für die er u.a. Jingles von Radio SRF 2 Kultur gesampelt hat.

 


Dakota Wayne, Welcome to the Radio!, UA Basel 2022, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Auch diesen Auftritt im Radio betrachtet Svetlana Maraš vor dem Hintergrund der Tradition: „Das hilft den Studierenden, die Bedeutung des Radios für die elektronische Musik zu verstehen. Auch wenn das Radio als Medium etwas in den Hintergrund getreten ist: wenn man fürs Radio komponiert, fügt das etwas zur Musik hinzu. Verändert die Form, die Dramaturgie, die Materialauswahl… Ich bin froh, dass wir dieses Jahr diese Erfahrung machen und zusammen daran arbeiten können.“
Friederike Kenneweg

 

Erwähnte Sendungen SRF 2 Kultur:
Classical and Jazz Talents: 26. Juni bis zum 3. Juli 2022: Schwerpunktwoche zum musikalischen Nachwuchs: Vollständiges Programm als pdf

Neue Musik im Konzert, 29.6.22: Classical and Jazz Talents – Live aus dem SRF-Auditorium, Redaktion Annina Salis: Livekonzert Neue elektronische Musik mit den Studierenden von Svetlana Maraš – Elektronisches Studio Basel.

7.-9. Juli 2022: Heroines of Sound Festival im Radialsystem Berlin
Dort kommt in einem Konzert am 8. Juli 2022 um 20 Uhr im Radialsystem Berlin  das Scherzo per oscillatori für Minimoog von Svetlana Maraš, gespielt von Sebastian Berweck, zur Uraufführung.

Svetlana Maraš, Dakota Wayne, Sebastian Berweck, Elektronisches Studio Basel, FHNW Basel

Über das Elektronische Studio des Radios Belgrad, Podcast über Ljudmila Frajt

neo-profile:
Svetlana Maraš, Elektronisches Studio Basel,  Tim Shatnyy, Dakota Wayne, Anton Kiefer, Cyrill Jauslin, Louis Keller, Isaac Blumfield, Janik Pokorny, Minh Phi  Guillod

 

Ein Pilzgeflecht aus Klängen und Beziehungen

Vom 18. bis zum 27. März 2022 findet in Berlin das Festival MaerzMusik statt. Ein Schwerpunkt widmet sich dem Werk von Éliane Radigue anlässlich des 90sten Geburtstags der Komponistin. Friederike Kenneweg sprach mit dem französisch-schweizerischen Musiker François J. Bonnet. Er ist als Klangregisseur für die Aufführungen des elektronischen Gesamtwerks von Radigue am Festival verantwortlich.

 

Schwarzweissbild von den abstrakten Verbindungslinien eines Pilzmyzels
Das Art Work zum Programm der Maerzmusik 2022

 

Friederike Kenneweg
Das Kuratoren-Team aus Berno Odo Polzer und Kamila Metwaly nimmt bei der Programmgestaltung des Festivals 2022 die sichtbaren und unsichtbaren Beziehungen in den Blick, die uns alle, in der Musik und darüber hinaus, zusammen halten. Als Metapher dafür dient ihnen ein Phänomen aus der Natur: das Myzel der Pilze. Sichtbar sind vor allem die Fruchtkörper, die wir landläufig Pilze nennen. Doch zum Pilz gehören auch die teils über große Flächen im Untergrund hinweg verlaufenden, vielgestaltigen Verflechtungen des Myzelliums. Der Einfluss, den diese Verbindungen auf ihre Umwelt haben, ist auch der Wissenschaft zu einem großen Teil noch ein Rätsel.

Ein solch unüberschaubares Netz aus Verbindungen bildet auch das Festivalgeschehen selbst, das sich durch Bezirke, Wohnungen, Cafés, Kneipen und Veranstaltungsorte zieht und so unterschiedliche Orte wie die Philharmonie im Tiergarten, das Zeiss-Großplanetarium in Prenzlauer Berg und das Kulturquartier silent green im Wedding miteinander verbindet.

 

Die Komponistin Éliane Radigue wird 2022 90 Jahre alt. Foto: Éleonore Huisse

 

Das Bild des untergründigen Geflechts passt auch zur Musik von Éliane Radigue, deren elektronisches Gesamtwerk live im Rahmen der Maerzmusik präsentiert wird. Denn diese wirkt zunächst wie eine unendliche, geradezu statische Klangfläche, obwohl sich untergründig im musikalischen Geschehen feine Veränderungen vollziehen.

 

Sich auf eine andere Wahrnehmung einlassen

 

Wer zu den Konzerten kommt, sollte sich ganz auf die Wahrnehmung dieser feinen Veränderungen der  Stücke einlassen, empfiehlt der Klangregisseur François J. Bonnet. Dann könne sich für die Zuhörer:innen ein ganz neuer Erfahrungshorizont öffnen. Es sind ganze 17 Veranstaltungen, die Bonnet zu betreuen hat. Sie decken die Werke der Komponistin von 1971 bis zum Jahr 2000 ab. François J. Bonnet, der unter dem Namen Kassel Jaeger auch selbst Musik macht, ist der heutige Direktor des INA GRM (Institut national de l’audiovisuel / Groupe de Recherches Musicales). Damit steht er der heutigen Variante der legendären Institution vor, die Pierre Henry und Pierre Schaeffer, die Gründerväter der „musique concrète“, in den 1940er Jahren ins Leben gerufen haben. Auch Radigue arbeitete lange Zeit mit Schaeffer und Henry zusammen. Heute ist ihr Name vor allem mit ihrer Arbeit mit dem ARP 2500 Synthesizer verbunden, mit dem sie in den 1970er Jahren als eine der ersten arbeiten konnte.

 

François J. Bonnet. Ein bärtiger Mann im blauen Pullover vor einer Mauer aus brüchigem Stein. Foto: Éléanore Huisse
François J. Bonnet ist der Klangregisseur bei der Aufführung des elektronischen Gesamtwerks von Éliane Radigue im Rahmen des Festivals Maerzmusik 2022. © Éléanore Huisse

 

Dass François J. Bonnet sich heute so gut mit den Stücken von Radigue auskennt, liegt daran, dass er mit ihr gemeinsam eine umfangreiche Edition ihrer elektronischen Werke herausgab. Daraus entwickelte sich ein enges Vertrauensverhältnis, und er hat ein genaues Gespür dafür, wie die Komponistin arbeitet und was ihr bei jeder einzelnen Komposition wichtig ist.

 

Die unterschätzte Bedeutung der Klangregie

Heute entscheidet Bonnet für jeden Veranstaltungsort neu, wie die Abspielposition aussehen soll, filtert bestimmte Frequenzen heraus oder betont sie während der Aufführung – ganz nach den Erfordernissen des Raumes. Auch wenn die Werke als Aufnahmen fertig gemischt sind, hebt er während der Aufführung bestimmte Stellen noch an oder verleiht ihnen einen gewissen Glanz. Dieses Einwirken kann dazu führen, dass ein und dasselbe Stück an einem anderen Ort ganz anders klingt. Einmal sei sogar Éliane Radigue nach dem Konzert zu ihm gekommen und habe gesagt, so wie heute habe sie ihr Stück selbst zum ersten Mal gehört.

 

Akustische Musik, mündlich überliefert

Nach der langen Periode der Arbeit mit dem Synthesizer wandte sich Éliane Radigue in ihrem Spätwerk ab dem Jahr 2000 der rein akustischen Musik zu, die sie mit ihren jeweiligen „Musiker-Kompliz:innen“ erarbeitete. Occam Océan entstand im Jahr 2015 in Zusammenarbeit mit dem Ensemble ONCEIM (l’Orchestre de Nouvelles Créations, Expérimentations et Improvisation Musicales) aus Paris.

 


Éliane Radigue, Occam Occéan, Uraufführung 26.9.2015, Festival CRAK Paris

 

Das Besondere: es gibt keine Verschriftlichung des Orchesterwerks, sondern das Stück wird nur mündlich und über das Hören überliefert. In einem weiteren gemeinsamen Übertragungsprozess gibt das Ensemble ONCEIM die Komposition an das Klangforum Wien weiter und bringt Occam Océan in einer gemeinsamen Aufführung im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie zu Gehör.

 

Furche, Rille, Spur

Im Rahmen dieses Konzerts wird das Ensemble ONCEIM auch Sillon für 27 improvisierende Musiker*innen von Patricia Bosshard aus dem Jahr 2018 aufführen. Sillon, das bedeutet Furche, Rille, Spur. In dem repetitiven Stück geht es um Bewegungen von der individuellen Stimme hin zum Gesamtklang, und um Verbindungslinien zwischen den Instrumentengruppen durch das musikalische Material, Timbre und Sound.

 

Auch in Patricia Bosshards Foumiliere mit dem Orchestre du Grand Eustache aus dem Jahr 2018 steht eher gemeinsames Praktizieren und Hören als um Verschriftlichung im Zentrum.

 

Musikalische Spuren wie in Sillon werden sich ausgehend vom Festival MaerzMusik auch durch die Menschen ziehen, durch die Stadt, durch die Welt – die Musik als Myzel, das uns alle auf die eine oder andere Art miteinander verbindet.
Friederike Kenneweg

 

Berno Odo Polzer, Kamila MetwalyZeiss-Großplanetarium Berlinsilent green Kulturquartier Berlin, Philharmonie BerlinOccam Océan, Pierre Henry, Pierre Schaefer, INA GRMEnsemble ONCEIM, Klangforum Wien

MaerzMusik 18.3.-27.3. 2022

Ausgewählte / erwähnte Konzerte:
21.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 1: Trilogie de la Mort I. Kyema (1988)

22.3.2022 Zeiss-Grossplanetarium: Éliane Radigue: The Electronic Works 4: Adnos (1974)

23.3.2022 Philharmonie Berlin: Occam Océan, Klangforum Wien und Ensemble ONCEIM

 

neo-profiles:
François J. Bonnet, Patricia Bosshard

 

“partage de l’écoute”

Archipel, das Genfer Festival für zeitgenössische Musik, findet statt: live on stream vom 16. bis zum 25.April. Archipel sous surveillance, das Festival-Web-TV, bringt das Festival live ins Zuhause des Publikums.

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

Gabrielle Weber
2020 war in mancher Hinsicht ein besonderes Jahr für das legendäre Genfer Festival. Nach langjähriger Intendanz des Musikwissenschaftler Marc Texier trat ein neues Intendantenduo an. Marie Jeanson -sie stammt aus der experimentellen und improvisierten Musik- und Denis Schuler -er ist Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide- wollen das Festival umkrempeln.

Das neue Intendantenduo erklärte mir im letzten Frühjahr, kurz vor dem geplanten Start, seine Vision des idealen Festivals. In einer eintägigen Carte Blanche sollte diese Vision exemplarisch umgesetzt werden.

Das Festival fiel als eines der ersten dem ersten Lockdown zum Opfer.
Dieses Jahr findet es online statt.

 

 So präsentierten Marie Jeanson und Denis Schuler sich und ihre eintägige Carte blanche, geplant für ihre erste Festivalausgabe 2020. Video Genf März 2020 ©neo.mx3

 

Die Vision von Jeanson und Schuler hörte sich an wie ein Fünf-Punkte-Plan: wie steht es nun damit? Was wurde -trotz Pandemie und Streaming- umgesetzt? Ich nahm unser Gespräch nochmals hervor… Ein Abgleich zeigt die Schnittmenge:

 

Der fünf-Punkte-Plan von 2020 – das Festival 2021: ein Vergleich

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

2020: Alles ist eine Einheit – Musik und Leben gehören zusammen. Die Carte Blanche sollte einen ganzen Tag dauern, alles an einem Ort stattfinden -in der maison communale de Plainpalais-, und Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gelegenheiten zum Austausch im Zentrum stehen. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, sagt Schuler.

2021: Umgesetzt ist die Einheit von Leben und Musik in Archipel sous surveillance’. Das experimentelle Festival-Web-TV begleitet on- &backstage hautnah vor Ort und bringt das Festival ins Wohnzimmer des Publikums, täglich von 12h-00h. Das Publikum lebt -wenn es möchte- mit dem Festival.. 

  

Archipel sous surveillance ©zVg Festival Archipel

 

‘cohérence poétique’

2020: Das Festival will sich in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, sagt Jeanson.

2021: Vier Klanginstallationen bespielen vier Räume der Maison communale de Plainpalais. Sie sind während des ganzen Festivals online begehbar. Das charakteristische, historische Festivalstammhaus ersteht online neu und bildet einen durchgängigen poetischen Raum zwischen Fiktion und Realität.. 

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

‘faire exister la création’

2020: Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht (mehr) mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, sagt Schuler. Dem Intendantenduo geht es aber darum, “die Kreation lebendig zu erhalten”. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht.

2021: Komposition und Improvisation begegnen sich an vielen Konzerten. Bspw. die Improvisatorin Shuyue Zhao und das Basler Ensemble neuverBand. Zhao hinterfragt in ihren Performances die Rolle der Interpretin und arbeitet mit Live-Elektronik, noise und Improvisation. Werke u.a. von Sofia Gubaidulina oder Junghae Lee, interpretiert vom Ensemble neuverBand, bilden zusammen mit Zhaos Improvisationen ein neues Ganzes.

 


Shuyue Zhao: noise fragments, 2019

 

‘partage de l’écoute’

2020: Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen, in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille nahekomme. “An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit”.

2021: die salons d’écoute finden etwas anders statt: CDs können zwar nicht mitgebracht werden. Aber jeden Mittag um 12h gibt es sogenannte ‘partages d’écoute’ an denen ein*e Komponist*in seine/ihre Hörschätze (mit)teilt. Bspw. lassen sich da gemeinsam mit dem Komponisten Jürg Frey oder der Komponistin-Sängerin Cassandra Miller ihre Trouvaillen entdecken.

 

Rencontres à l’improviste – Unverhoffte Begegnungen

2020: Musikschaffende, die sich vorher nicht kannten, werden von den Kuratoren zusammengeführt. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass das Publikum überrascht wird”, meint Schuler.

2021:  Insub.distances#1-8  verlinkt remote Musikschaffende. Cyril Bondy, der Leiter des Genfer Insub Meta Orchestra und d’Incise, Träger eines Schweizer Musikpreises 2019, initiierte das Projekt für Archipel’21. Dabei komponierten vier Genfer und vier internationale Komponierende je ein Stück für ein Duo: im harten Genfer Lockdown, von September bis Dezember 2020. Alle haben Nähe und Distanz zum Thema. Die Stücke wurden remote geprobt, eingespielt und online gestellt. Nun sind sie alle verteilt übers ganze Festival zu hören.


Insub Meta-Orchestra / Cyril Bondi & d’incise: 27times, 2016

 

Erstaunlich, wie passgenau sich Marie Jeansons und Denis Schulers im Kleinen angelegte Festivalvision nun im Grossen wiederfindet. Und das trotz Pandemie und Streaming.
Gabrielle Weber

 

Festival Archipel Teaser 2021

 

Das Genfer Festival Archipel findet vom Freitag, 16. bis zum Sonntag, 25. April statt. An zehn Tagen treten internationale Interpret*Innen und Ensembles wie Ensemble Ictus, Collegium Novum Zürich, ensemble Contrechamps, Eva Reiter mit Werken von u.a. Clara Iannotta, Alvin Lucier, Jürg Frey, Helmuth Lachenmann, Eliane Radigue, Cassandra Miller, Morton Feldman, John Cage oder Kanako Abe auf. Alle Konzerte sind per Stream kostenlos zugänglich.

Archipel sous surveillance sendet täglich von 12h-24h durchgehend von allen Austragungsorten, back- und onstage. Beteiligt sind die Genfer Filmcrew Dav tv und das alternative Fernsehen neokinok.tv.

 

Sendungen:
RTS:
Le festival Archipel met à l’honneur les musiques experimentales
SRF 2 Kultur:

neoblog, 12.3.2020Ma rencontre avec le future – ANNULÉ, Gabrielle Weber im Gespräch mit dem Intendantenduo Jeanson/Schuler.

Neo-Profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, Jürg Frey, Insub Metha Orchestra, Ensemble Batida, Ensemble Contrechamps, Patricia Bosshard, d’Incise

Reibung erzeugt Wärme – Marianthi Papalexandri-Alexandri am Festival “ZeitRäume Basel”, 13.-22. September 2019

Marianthi Papalexandri-Alexandri

Theresa Beyer
Im Hof des Basler Kunstmuseums zeigt das Festival «ZeitRäume» eine begeh- und bespielbare Klangskulptur. Mit ihrem geheimnisvollen Röhren-Instrument «Untitled VII» leistet die Komponistin und Klangkünstlerin Marianthi Papalexandri-Alexandri ihren Beitrag zur grossen Gemeinschaftsarbeit. Ein Besuch in ihrem Atelier in Wald im Zürcher Oberland.

Früher wurden in diesen grossen, hellen Fabrikräumen Textilien gewebt. Heute wohnen und arbeiten hier Marianthi Papalexandri-Alexandri und der kinetische Künstler Pe Lang. Ihr Loft ist ein Laboratorium voller Maschinen, Elektronik und mechanischen Objekten.

Hinten auf einer Werkbank legt Pe Lang einen Kippschalter um: auf einer schwarzen Pappe beginnt sich eine Scheibe zu drehen, Marianthi holt verschieden grosse Stricknadeln hervor und steckt sie in die Pappe. Mit dieser Geste wird das Objekt zum Instrument: Immer wenn die kleinen Schläuche, die von der Scheibe abstehen, die Nadeln streifen, erklingen feine Glockentöne. Zum Werk «Resonators» wächst das Ganze an, wenn mehrere Performer*innen an mehreren Maschinen nach einem bestimmten Muster Nadeln in die Pappe stecken. Die Konzeption solcher Klang-Settings ist der Kern von Marianthis und Pe Langs Arbeit.


Marianthi Papalexandri-Alexandri und Pe Lang: Modular No.3

Langwierige Materialforschung

Hinter jedem Detail dieser Klangobjekte stecken unzählige Materialtests – auch bei «Untitled VII», das am Zeiträume Festival von der grossen Klangskulptur «Rohrwerk/Fabrique Sonore» einverleibt wird. Im Atelier zeigt Pe Lang den Prototyp: «Die 24 Röhren des Klangkörpers sind aus durchsichtigem Acryl, ein Material, das einen warmen Klang ermöglicht. Jede Röhre ist mit einer TPE Folie überzogen, durch die wir eine Nylonschnur gespannt haben. Und die Rädchen aus Baumwollhartgewebe vorne an den kleinen Elektromotoren sind mit einer Art Kolophonium bestrichen. Durch die erhöhte Reibung wird der Ton erzeugt».

Visualisierung Rohrwerk Fabrique sonore© Made in

Pe Lang knipst die kleinen Motoren des Röhren-Instruments an und ein durchgehender Ton entsteht: komplex, organisch und schön – eine eigenständige Klangskulptur mit Potenzial zu einer Komposition. Um diese zu entfalten, schlüpft Pe Lang in die Rolle des Performers: langsam verändert er die Geschwindigkeiten der Motoren, die Spannung der Nylonschnur und die Position der Klammern, die daran befestigt sind. Der Klang reagiert sofort – mal erinnert er an einen modularen Synthesizer, mal an eine obertonreiche Orgel, mal an die mäandernden Drones von Eliane Radigue oder La Monte Young.

Die Behutsamkeit, mit der dieses Instrument gespielt werden muss, vergleicht Marianthi mit einer japanischen Teezeremonie: «Obwohl hinter jeder Geste grösste Berechnung steckt, wirkt es nach aussen mühelos und leicht. Alle Bewegung folgen einem natürlichen Flow.»

Marianthi Papalexandri-Alexandri: Untitled II (Vorläufer von Untitled VII)

Der Charme des Unperfekten

Im Klangflow von „Untitled II“ mischt noch etwas mit: das Material an sich. „Die Spannung der Membran lässt mit der Zeit nach, das Kolophonium reibt sich ab und die Motoren eiern leicht“, sagt Pe Lang, «Diese Ungenauigkeiten haben wir bewusst eingebaut.» Das Röhren-Instrument, das vorgibt clean, minimalistisch und kontrollierbar zu sein, ist eben gerade keine perfekte Maschine.

Auch deswegen bewegen sich die Klangskulpturen und Kompositionen von Marianthi und Pe Lang immer in einem Zwischenraum. Zwischen genau und ungenau. Zwischen Objekt und Performance. Zwischen mechanisch und elektronisch. Und wenn sie das Atelier in Wald verlassen, landen sie irgendwo zwischen Galerie und Konzertsaal.

Aber wer komponiert hier eigentlich: Die Komponistin, der Performer, oder das Instrument selbst? Genau diese Kategorien versucht Marianthi mit ihren Klangskulpturen aufzulösen. «Ich will Komponist*in, Performer*in und Instrument auf Augenhöhe bringen und so auch Autorschaft hinterfragen». Wer da also genau am Werk ist, hängt immer von der Perspektive ab.
Theresa Beyer

Marianthi Paplexandri-Alexandri: Untitled VI

Die diesjährige Festivalausgabe von «Zeiträume – Biennale für neue Musik und Architektur» in Basel ist mit 30 Projekten die bisher grösste. Vom 15. bis 21. September ist im Innenhof des Kunstmuseum der 45 Meter hohe Klangturm «Rohrwerk/Fabrique sonore» zu erleben. Marianthi Papalexandri-Alexandri ist eine von sechs Komponist*innen und vier Musiker*innen, die diese Mischung aus Pavillon und Musikinstrument zum Klingen bringt.

Am 20. September findet am Festival Zeiträume zudem die Übergabe des diesjährigen Schweizer Musikpreises an u.a. Cod.act, Michael Jarrell, Pierre Favre, Laurent Peter (d’incise) oder das Kammerorchester Basel statt.

Zeiträume – Biennale für neue Musik und Architektur, Marianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang

neo-profiles: ZeitRäume BaselMarianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang, Kammerorchester Basel, Michael Jarrell, Pierre Favre, d’incise / tresque

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Marianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang: 11.September, 20h, Wiederholung 14.September, 20h;
Passage: Cod.act -Maschinenmusik aus La Chaux-de-Fonds: 20. September, 20h; Kontext, 20. September