Alles was unser Menschengeschlecht ausmacht..

Der Basler Komponist Roland Moser erhielt einen der Schweizer Musikpreise des Bundesamts für Kultur. Sein ehemaliger Kompositionsstudent Burkhard Kinzler, mittlerweile selbst arrivierter Komponist und Theoriedozent in Zürich, gibt Einblick in Mosers in Denken und Schaffen.

 

Roland Moser ©Louis Moser zVg Roland Moser

 

Burkhard Kinzler
Als ich – ein junger, kirchenmusikalisch geprägter angehender Komponist – 1992 zum ersten Mal von Heidelberg nach Basel zu meinem Unterricht bei Roland Moser fuhr, konnte ich noch nicht ahnen, wie prägend, ja entscheidend für mein Leben diese Stunden für mich werden würden. Ich war gespannt, aber auch skeptisch: ich kannte meinen zukünftigen Lehrer bisher überhaupt nicht, hatte eigentlich zu Kelterborn gewollt, von dem ich ein paar Stücke gesungen hatte, bei diesem war aber kein Studienplatz frei. «Kannst es ja mal versuchen bei Moser», dachte ich mir, «und wenn’s nicht funkt, hörst du halt wieder auf».

Nach der ersten Lektion war dieser Gedanke wie weggewischt – es hatte gefunkt. Roland Moser hat mir die Augen geöffnet, sein Blick auf alte wie auf neue Musik war eine Offenbarung für mich. Dieser Mann kannte ALLES. Und ein derart eigenständiges, so kompromissloses wie konkret an der Partitur orientiertes musikalisches Denken war mir vorher noch nicht begegnet.

Seine Gabe, meine kompositorischen Versuche zu lesen, sich in sie hineinzudenken und dann Fragen zu stellen, habe ich je länger je mehr bewundert. Sie hat mich um Quantensprünge vorwärts gebracht. Seine Fragen entlarvten mehr als einmal das nicht zu Ende Gedachte auf liebevoll-diskrete Weise.

Das muss auch anderen so gegangen sein, und so ist es kein Wunder, dass der Löwenanteil meiner Theoriedozierenden-Kollegen nur schon an der ZHdK* aus Rolands Schule kommt.

 

Roland Moser ©Louis Moser zVg Roland Moser

 

Keine Note Musik hatte ich von Roland Moser gekannt, also begann ich bald einmal, Stücke von ihm aufzutreiben (das war damals deutlich schwieriger als heute), sie zu studieren und auch aufzuführen, zunächst mit meinem kleinen Ensemble für neue Musik und im Rahmen meiner Professur in Mannheim. Bspw. die so präzise formulierten wie hintergründig humorigen Stücke seines «Kabinetts mit Vierteltönen» für 2 Klaviere haben mich wie auch meine damaligen Studierenden bezaubert.

Roland hat mir später einmal im Spass vorgehalten, dass ich fast ausschliesslich seine «Gelegenheitswerke» zur Aufführung bringen würde. Um dann gleichzeitig anzudeuten, dass diese Stücke, scheinbar nur Randprodukte, auf verwickelte Weise eine durchaus wesentliche Rolle in seinem – inzwischen eindrücklich umfassenden – Oeuvre spielen.

Ein gutes Beispiel hierfür sind seine «Quatre cadres harmoniques» für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, deren erster Satz für Altflöte und Bassklarinette solo für mich so etwas wie ein heimliches Zentrum von Roland Mosers Schaffen darstellt.

Nicht umsonst verwendet er dieses sparsame, auf eine Partiturseite passende Zweieinhalbminutenstück auch in anderen Kompositionen, etwa in «Kleine Differenzen über einen Grund» für Bläserquintett (6. Satz). Auch hier erscheint es als Ausgangspunkt und gedankliche Mitte.

 


Roland Moser, Kleine Differenzen über einen Grund für Bläserquintett, Ensemble Contrechamps 2005, Eigenproduktion SRG

 

Wie komme ich zu dieser Einschätzung?
Nun, anhand dieser wenigen Töne lassen sich wesentliche Denk- und Klangrichtungen von Roland Mosers Musik aufzeigen: Da wäre zunächst die strenge, ungeschwätzige Sparsamkeit: kein Ton zu viel, keinerlei «Zierrat», jeder Klang präzise gehört und genau an dem Ort, wo es ihn braucht.

 

Keine  “Just-Intonation-Sauce” – kein spektralistisches Spektakel

Dann die Beschäftigung mit der Obertonreihe, die bei Roland Moser nicht einfach zu einer “Just-Intonation-Sauce” oder einem “spektralistischen Spektakel” führt; Mosers Nachdenken über die Konflikte zwischen (natürlicher) Physik und (temperierter) Kultur erzeugt Klänge, in denen dieser Konflikt zum Erlebnis wird. Die Kontrapunktik der beiden Instrumente in diesem Satz ist derart angelegt, dass buchstäblich jeder Zusammenklang in einem Teiltonverhältnis steht; gleichzeitig sind die Interpret*Innen dazu angehalten, ihre Intonation eben nicht anzupassen, sondern in der gleichstufigen Temperatur zu verbleiben. So erscheint die Natur-Klanglichkeit als Chimäre, die wie mit den Händen (bzw. den Ohren) zu greifen scheint und sich doch nur als Fata Morgana herausstellt.

Damit das alles im Ohr der Zuhörenden passieren kann, braucht es die Geduld und die Fähigkeit zur Langsamkeit des Komponisten. Beides hat Roland Moser zur Genüge.

Unbedingt zu erwähnen ist auch die rhythmisch ungebundene, aber gestisch immer eindeutige Art der Dauern-Notation, die Roland Moser bei seinem Freund György Kurtag gelernt hat.

All die genannten Grund-Bedingungen führen zu einem – nur zweistimmigen – Stück von ungeheurer Konzentriertheit und einer unmittelbar aus der Klangkonzeption entstehenden Ausdruckskraft, die ihresgleichen sucht.

 

Partiturseite «Quatre cadres harmoniques», erster Satz für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier: für Burkhard Kinzler ‘ein heimliches Zentrum von Roland Mosers Schaffen’

 

Das “Romantik-Projekt”

Nun wäre es absolut ungerechtfertigt, Roland Mosers weitgespanntes Oeuvre auf dieses «Stücklein», wie er selbst es wohl nennen würde, zu reduzieren. Es gibt grosse, sein gesamtes kompositorisches Leben bestimmende Projekte wie etwa das «Romantik-Projekt». Zu einer Zeit, als die romantische Dichtung gegenüber spät- und post-expressionistischen Ausdrucksweisen bei den meisten seiner Zeitgenossen als vorgestrig galt, beschäftigte Roland Moser sich unbeirrt mit Dichtern wie Heine und vor allem Brentano. Er schaffte es, dieser scheinbar so lieblichen Sprache ihr anarchisches Potenzial abzulauschen und eine eigene, neuartige Klanglichkeit dafür zu finden.

In diesen Zusammenhang gehört auch die permanente Auseinandersetzung mit der Musik Franz Liszts und vor allem Franz Schuberts, zu der Roland Tiefgründiges zu sagen weiss und auf die er in seinem eigenen Werk immer wieder reagiert hat. Etwa in den «Echoräumen» nach Schuberts Trauermusik oder in der Bearbeitung des Andante h-moll für fragmentarisches Orchester.

 


Roland Moser,  Echoraum nach Schuberts Trauermusik (Nonett D79) für Kammerorchester, Kammerorchester Basel, 2018, Eigenproduktion SRG

 

Hier zeigt sich auch Mosers Verhältnis zum Orchester, das er selbst als «gebrochen» bezeichnet hat – und doch war es ihm möglich, so gewichtige Werke wie «WAL – für schweres Orchester» zu schreiben.

 


Roland Moser,  WAL für schweres Orchester mit 5 Saxophonen (1980/83), Basel Sinfonietta und Xasax Saxophonquartett, Eigenproduktion SRG

 

Auch seine grosse Oper «Avatar» kreist ums Romantisch-Phantastische, wie auch auf ganz andere Weise sein zweites Bühnenwerk «Rahel und Pauline», welches das Kunststück fertigbringt, einen Briefwechsel (zwischen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel) zur Szene zu bringen, also lebendig zu machen.

So vieles gäbe es noch zu sagen über Roland Mosers Werk und Wirken. Roland Mosers Kosmos hat Berührungs- und Anregungspunkte in der gesamten menschlichen Geschichte – hierin manifestiert sich seine zutiefst humane, menschenfreundliche Haltung. Sein Werk ist Ausdruck einer tiefen, gleichzeitig kritischen wie von Zuneigung geprägten Auseinandersetzung und Kommunikation mit dem Menschen und allem, was unser Menschengeschlecht ausmacht.
Burkhard Kinzler

 

Roland Moser am Komponieren ©Louis Moser zVg Roland Moser

 

*Theorie-Dozierende ZHdK u.a.: Felix Baumann, Kaspar Ewald, Mathias Steinauer, Felix Profos, Bruno Karrer, Lars Heusser

Das Romantik-Projekt wird dieses Jahr fortgeführt mit einer Uraufführung zu den letzten symphonischen Dichtungen Schuberts, aufgeführt durch das KOB unter der Leitung von Heinz Holliger.

24. Juli 2021, Lübeck, Schleswig-Holstein Musikfestival: Uraufführung dreisätzige Fassung der letzten symphonischen Skizzen von Franz Schubert (D 936A) von Roland Moser. 
Kammerorchester Basel, Leitung Heinz Holliger.
Weitere Daten/Orte:
15.8. Stadtcasino Basel

21. August, Festival Les Jardins musicaux, Rondchâtel Villiers bei Biel/Bienne:  Uraufführung «Die Europäerin», Musiktheater von Roland Moser, nach dem Mikrogrammm 400 von Robert Walser; mit Leila Pfister, Niklaus Kost, Jürg Kienberger, Conrad Steinmann (BAK-Preisträger 2021), Alessandro d’Amico, Helena Winkelman

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Weitere Daten/Orte:
18. September: Festival Rümlingen 2021, Musiktheater#3
29./30. Januar 2022: Basel Gare du Nord

Im Sommer 2021 erscheint eine neue CD mit Cello-Soli und Duos mit Klavier, Violine, Oboe d’amore, Blockflöte mit: Katharina Gohl Moser, Anton Kernjak, Helena Winkelman, Matthias Arter und Conrad Steinmann.

Detlev Müller-Siemens, György Kurtág, Felix Baumann, Bruno Karrer, Lars Heusser, Leila Pfister, Katharina Gohl Moser, Jürg Kienberger

 

Neo Profile
Roland Moser, Burkhard Kinzler, Kammerorchester Basel, Festival Les jardins musicauxHeinz Holliger, Kaspar, Neue Musik Rümlingen, Mathias Steinauer, Felix Profos, Matthias Arter, Helena Winkelman, Basel Sinfonietta, Anton Kernjak,  Xasax Saxophonquartett

 

Concerts à l’aube: Nichts für Morgenmuffel

 

Ensemble Batida @ Les aubes musicales Genève ©zVg Batida

 

Gabrielle Weber
Den Sonnenaufgang, direkt am Genfersee erleben, dazu Live-Musik open air: was gibt es Schöneres? Die ‘Musiques à l’aube‘ in Lausanne und ‘les aubes musicales‘ in Genf, zwei open air-Konzertreihen laden Frühaufsteher und Frühaufsteherinnen zum frühmorgendlichen Konzertgenuss. ‘Vivre la musique’ – das könnte als Motto über dem Sommer in der Romandie stehen.

Die Lausanner ‘musiques à aubes’ gibt es seit 2017. Jeweils samstags, frühmorgens um 6h, treffen sich da am zentralen Stadthafen ‘jetée de la Compagnie’ Kenner, Liebhaberinnen und Neugierige zum einzigartigen Tagesbeginn mit Live-Musik.

Die Reihe wurde von vier Jazzliebhaberinnen gegründet und fokussierte in den ersten Jahren mit zunächst fünf Konzerten ganz auf Jazz. Dieses Jahr ist das Programm breiter gefasst und es stehen zehn Konzerte an: “Der Live-Moment ohne Zwang und ohne Grenzen, für ein Publikum mit neugierigen Gourmet-Ohren” soll im Zentrum stehen, meinen dazu die Kuratorinnen. Das Programm variiert diese Saison zwischen Jazz, Improvisation, experimenteller Moderne, Elektroakustik und Rock. Ganz selbstverständlich stehen da Solo-Konzerte der Pianisten Nik Bärtsch oder Cédric Pescia neben Auftritten von Louis Jucker oder Evelinn Trouble.

Am 10. Juli ist bspw. der Zürcher Pianist Nik Bärtsch zu hören. Allein am Konzertflügel spielt er Stücke aus seiner neuen CD ‚Entendre‘. Sie kam im März 2021* heraus und versammelt von Bärtsch so bezeichnete “Module”, solo interpretiert von ihm am Klavier. Die “Module” sind über die Jahre entstandene, variabel zu interpretierende, repetitive minimale Stückvorgaben – Bärtsch spielt sie auch immer wieder mit seiner Band Ronin. Zwischen Komposition und Improvisation erstehen sie mit jeder Live-Performance neu und anders.

 


Nik Bärtsch & Ronin, Modul 58, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

Zu hören ist auch der Lausanner Pianist Cédric Pescia. Er spielt am 31. Juli auf einem präpariertem Klavier die ‘Sonatas and Interludes’ von John Cage (1946-48). Bestückt mit Objekten aus Holz, Metall oder Plastik zwischen den Saiten wird das Klavier hier zum kleinen Perkussionsemble.

 

Cédric Pescia ©zVg Musiques à l’aube Lausanne 

 

Eine akustische Oase inmitten von Lärm und Asphalt – im heissesten Monat August

 

Auch in der Stadt Genf gibt es eine eigene Reihe für Frühaufsteher, Les Aubes musicales, jeweils sonntags um 6h früh. Mitten in der Stadt, im Stadtbad ‚jetée des paquis‘ seit 2007, präsentiert sie sich als frühmorgendliches Fenster zur Welt. Sie ist eine akustische Oase inmitten von Lärm und Asphalt, im heissesten Monat August.

Auch hier ist die stilistische Offenheit charakteristisch. Auch hier geht es ums gemeinsame Erleben. “Die Reihe ist etwas Einzigartiges, mit nichts zu Vergleichendes. Da geht es um den magischen Moment zwischen Dunkelheit und Licht”, sagt Marie Jeanson, Co-Leiterin der Reihe und nun auch Intendantin des Neue Musik-Festival Archipel Genève.

Das Genfer Neue Musik-Ensemble Contrechamps eröffnet mit seinem Auftritt an ‚Les Aubes musicales‘ jeweils die Saison. Auch für Serge Vuille, den künstlerischen Leiter von Contrechamps, ist das immer “ein magisches Ereignis”. Dieses Jahr spielt Contrechamps am 22. August Gérard Griseys ‚Prologue‘ von 1976, dazu das Stück ‚Mantiq-al-Tayr‘ von Geneviève Calame, entstanden 1973, sowie Claude Debussys ‘Sonate’ von 1915.

 

Seong-Whan Lee, Là où les eaux se mêlent, Contrechamps, création 2021, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Geneviève Calame, die 1993 verstorbene Genfer Komponistin, widmete sich insbesondere der Kombination von Elektronik mit akustischen Instrumenten oder der elektroakustischen Musik. Nach Studien in den USA, Paris und Stockholm begründete sie in Genf das ‚Studio de musique électronique, Vidéo et d’informatique‘ mit, und komponierte zahlreiche -immer noch wenig bekannte Stücke – für klassisches Orchester, Synthesizer oder audiovisuelle Installationen.

Beide Reihen verschreiben sich lokalen, aber international ausstrahlenden Musikschaffenden. Und beide verstehen zeitgenössisches Musikschaffen umfassend und offen.

Bewundernswert unkompliziert ist in der Romandie der Umgang mit Musikgenres – Barrieren sind kaum zu spüren, weder bei den Veranstaltern noch beim Publikum.

Das gemeinsame Erleben und die Offenheit für Unbekanntes stehen im Vordergrund.

Musik ist Leben und Lebensgenuss, Sinnlichkeit und Poesie: Dafür steht man in Lausanne und Genf auch gerne früh auf.
Gabrielle Weber

 

Nik Bärtsch ©zVg Musiques à l’aube Lausanne

Nik Bärtsch: Entendre, ECM, März 2021

 

Musiques à l’aube, Lausanne, Konzerte samstags um 6h, 26. Juni – 28. August, Ort: ‘La Jetée de la Compagnie & Le Minimum’. Bei schlechtem Wetter: Verschiebedatum jeweils folgender Sonntag, Entscheid am Vorabend.

Les Aubes musicales, Genève, Konzerte sonntags um 6h, 1. – 29.August, Ort: bain des Paquis. Bei schlechtem Wetter inhouse im: l’Abri

Festival de la Cité de Lausanne, 6.-11.7., Konzerte ganze Stadt, rund um die Uhr

 

Sendungen SRF 2 Kultur
Klangfenster, 20.6.21: Nik Bärtsch, Entendre, Redaktion Cécile Olshausen

Jazz & World aktuell, 16.3.21: Mehr als die Summe, Nik Bärtsch im Interview, Redaktion Roman Hošek

Blick in die Feuilletons, musique à l’aube, 13.7.21 (min 00:18), autor Gabrielle Weber

neo-profiles:
Nik Bärtsch, Contrechamps, Ensemble Batida, Festival Archipel

“partage de l’écoute”

Archipel, das Genfer Festival für zeitgenössische Musik, findet statt: live on stream vom 16. bis zum 25.April. Archipel sous surveillance, das Festival-Web-TV, bringt das Festival live ins Zuhause des Publikums.

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

Gabrielle Weber
2020 war in mancher Hinsicht ein besonderes Jahr für das legendäre Genfer Festival. Nach langjähriger Intendanz des Musikwissenschaftler Marc Texier trat ein neues Intendantenduo an. Marie Jeanson -sie stammt aus der experimentellen und improvisierten Musik- und Denis Schuler -er ist Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide- wollen das Festival umkrempeln.

Das neue Intendantenduo erklärte mir im letzten Frühjahr, kurz vor dem geplanten Start, seine Vision des idealen Festivals. In einer eintägigen Carte Blanche sollte diese Vision exemplarisch umgesetzt werden.

Das Festival fiel als eines der ersten dem ersten Lockdown zum Opfer.
Dieses Jahr findet es online statt.

 

 So präsentierten Marie Jeanson und Denis Schuler sich und ihre eintägige Carte blanche, geplant für ihre erste Festivalausgabe 2020. Video Genf März 2020 ©neo.mx3

 

Die Vision von Jeanson und Schuler hörte sich an wie ein Fünf-Punkte-Plan: wie steht es nun damit? Was wurde -trotz Pandemie und Streaming- umgesetzt? Ich nahm unser Gespräch nochmals hervor… Ein Abgleich zeigt die Schnittmenge:

 

Der fünf-Punkte-Plan von 2020 – das Festival 2021: ein Vergleich

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

2020: Alles ist eine Einheit – Musik und Leben gehören zusammen. Die Carte Blanche sollte einen ganzen Tag dauern, alles an einem Ort stattfinden -in der maison communale de Plainpalais-, und Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gelegenheiten zum Austausch im Zentrum stehen. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, sagt Schuler.

2021: Umgesetzt ist die Einheit von Leben und Musik in Archipel sous surveillance’. Das experimentelle Festival-Web-TV begleitet on- &backstage hautnah vor Ort und bringt das Festival ins Wohnzimmer des Publikums, täglich von 12h-00h. Das Publikum lebt -wenn es möchte- mit dem Festival.. 

  

Archipel sous surveillance ©zVg Festival Archipel

 

‘cohérence poétique’

2020: Das Festival will sich in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, sagt Jeanson.

2021: Vier Klanginstallationen bespielen vier Räume der Maison communale de Plainpalais. Sie sind während des ganzen Festivals online begehbar. Das charakteristische, historische Festivalstammhaus ersteht online neu und bildet einen durchgängigen poetischen Raum zwischen Fiktion und Realität.. 

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

‘faire exister la création’

2020: Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht (mehr) mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, sagt Schuler. Dem Intendantenduo geht es aber darum, “die Kreation lebendig zu erhalten”. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht.

2021: Komposition und Improvisation begegnen sich an vielen Konzerten. Bspw. die Improvisatorin Shuyue Zhao und das Basler Ensemble neuverBand. Zhao hinterfragt in ihren Performances die Rolle der Interpretin und arbeitet mit Live-Elektronik, noise und Improvisation. Werke u.a. von Sofia Gubaidulina oder Junghae Lee, interpretiert vom Ensemble neuverBand, bilden zusammen mit Zhaos Improvisationen ein neues Ganzes.

 


Shuyue Zhao: noise fragments, 2019

 

‘partage de l’écoute’

2020: Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen, in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille nahekomme. “An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit”.

2021: die salons d’écoute finden etwas anders statt: CDs können zwar nicht mitgebracht werden. Aber jeden Mittag um 12h gibt es sogenannte ‘partages d’écoute’ an denen ein*e Komponist*in seine/ihre Hörschätze (mit)teilt. Bspw. lassen sich da gemeinsam mit dem Komponisten Jürg Frey oder der Komponistin-Sängerin Cassandra Miller ihre Trouvaillen entdecken.

 

Rencontres à l’improviste – Unverhoffte Begegnungen

2020: Musikschaffende, die sich vorher nicht kannten, werden von den Kuratoren zusammengeführt. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass das Publikum überrascht wird”, meint Schuler.

2021:  Insub.distances#1-8  verlinkt remote Musikschaffende. Cyril Bondy, der Leiter des Genfer Insub Meta Orchestra und d’Incise, Träger eines Schweizer Musikpreises 2019, initiierte das Projekt für Archipel’21. Dabei komponierten vier Genfer und vier internationale Komponierende je ein Stück für ein Duo: im harten Genfer Lockdown, von September bis Dezember 2020. Alle haben Nähe und Distanz zum Thema. Die Stücke wurden remote geprobt, eingespielt und online gestellt. Nun sind sie alle verteilt übers ganze Festival zu hören.


Insub Meta-Orchestra / Cyril Bondi & d’incise: 27times, 2016

 

Erstaunlich, wie passgenau sich Marie Jeansons und Denis Schulers im Kleinen angelegte Festivalvision nun im Grossen wiederfindet. Und das trotz Pandemie und Streaming.
Gabrielle Weber

 

Festival Archipel Teaser 2021

 

Das Genfer Festival Archipel findet vom Freitag, 16. bis zum Sonntag, 25. April statt. An zehn Tagen treten internationale Interpret*Innen und Ensembles wie Ensemble Ictus, Collegium Novum Zürich, ensemble Contrechamps, Eva Reiter mit Werken von u.a. Clara Iannotta, Alvin Lucier, Jürg Frey, Helmuth Lachenmann, Eliane Radigue, Cassandra Miller, Morton Feldman, John Cage oder Kanako Abe auf. Alle Konzerte sind per Stream kostenlos zugänglich.

Archipel sous surveillance sendet täglich von 12h-24h durchgehend von allen Austragungsorten, back- und onstage. Beteiligt sind die Genfer Filmcrew Dav tv und das alternative Fernsehen neokinok.tv.

 

Sendungen:
RTS:
Le festival Archipel met à l’honneur les musiques experimentales
SRF 2 Kultur:

neoblog, 12.3.2020Ma rencontre avec le future – ANNULÉ, Gabrielle Weber im Gespräch mit dem Intendantenduo Jeanson/Schuler.

Neo-Profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, Jürg Frey, Insub Metha Orchestra, Ensemble Batida, Ensemble Contrechamps, Patricia Bosshard, d’Incise