Utopien wahr werden lassen: der Komponist Michael Wertmüller

Die Musik des Komponisten Michael Wertmüller klingt anarchisch, virtuos und hochenergetisch. Von der kürzesten Komposition bis zum immersiven raumumspannenden Musiktheater verschränkt er in seinen Werken Ansätze aus Jazz und zeitgenössischer Musik: immer dramatisch, intensiv und mit voller Wucht. Ein Porträt von Gabrielle Weber.

Porträt Michael Wertmüller zVg. Michael Wertmüller

Gabrielle Weber
Ich liebe einfach das Verrückte und verrückt zu spielen. Ich mag Virtuosität“, so Michael Wertmüller im Gespräch. Das Extrem ist für Michael Wertmüller die Norm. Seine radikalen, Genregrenzen sprengenden Werke sind hochkomplex. Meist verweben sie minutiös notierte zeitgenössische Musik mit Jazz, Pop, Rock und Improvisation. 

Der Schlagzeuger und der Komponist

Der Schlagzeuger Wertmüller spielte zunächst in verschiedenen Fusion-Bands. Von da an verlief der Weg zum Komponieren organisch: Die Musik die er spielen wollte, musste zuerst erfunden werden und so begann er sukzessive, Stücke für seine Bands selbst zu komponieren: „Es war ein Mix zwischen Jazz, Rock, Death Metal und Hardcore. Aus heutiger Sicht ein wildes Durcheinander, das gebändigt werden wollte und gebändigt werden musste“, meint Wertmüller.

Seine Auftritte als Schlagzeuger wie auch seine ersten Kompositionen sind geballte hochkonzentrierte Wucht. In „check_in_swiss“ improvisiert Wertmüller bei einem Soundcheck für die Band Full Blast ein dreiminütiges Solo in durchgängig hoher Intensität.


Michael Wertmüller, Schlagzeugsolo check-in-swiss, 2001.

Als Schlagzeuger, zuerst im Berner Sinfonieorchester, später im Concertgebouw Orchester in Amsterdam, faszinierten Wertmüller Intensität, Kraft und Dramatik des klassischen Orchesterapparats. „Es war ein Riesen-Genuss mitten in diesem Orchesterapparat mit zu verfolgen, wie die Instrumente miteinander kommunizieren, wie dieses Geflecht der Kompositionen zusammenhängt. Das hat mich ganz brennend interessiert.“ Konsequent verlagerte sich Wertmüller dann ab 1995 durch ein Kompositionsstudium bei Dieter Schnebel an der Hochschule der Künste in Berlin ganz aufs klassische Komponieren.

Michael Wertmüller der Perkussionist © Francesca Pfeffer

Gegensätze zusammenführen

Parallel tourte er laufend mit Bands weiter, zum Beispiel mit dem ausstrahlenden Jazz-Saxofonisten Peter Brötzmann und dem Bassisten Marino Pliakas im Trio Full Blast weltweit bis zu Brötzmanns Tod im Juni 2023. „Das Unterwegssein, das Spielen im Jazzkontext ist immer ein wahnsinnig wichtiger Einfluss gewesen. Und gleichzeitig ist die Komposition oder die im weiteren Sinne klassische Musik ein starker Einfluss, wenn ich spiele.“

Peter Brötzmann gilt durch sein energisches Spiel als radikaler Jazz-Innovator und war nebst Dieter Schnebel die prägende Persönlichkeit für Wertmüllers Komponieren. Ich kannte Brötzmann seit ich 22 alt war, noch vor meinem Studium bei Schnebel. Er hat mich quasi mitgezogen und mitgenommen.“

 


Michael Wertmüller, antagonisme contrôlé, Uraufführungs-Konzert  6.4.2014,  WDR-Funkhaus Köln. Peter Brötzmann (Saxophon), Marino Pliakas (E-Bass), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Ensemble Musikfabrik, Leitung Christian Eggen.

„Die freie Form des Jazz und die ganz strenge serielle Musik: Das ist ein Riesen-Spagat und das beeinflusst sich gegenseitig wahnsinnig stark.“ Wertmüllers „klassisches“ Komponieren führt beide Musikgenres zusammen. Für Peter Brötzmann als Solisten komponierte Wertmüller drei Werke, in denen er Brötzmanns Improvisationen in komponierte Partituren für Neue Musik-Ensembles einband. „Das machte Brötzmann sonst nie. Es war für mich eine Ehre und zeigte, dass er die Verbindung von beidem respektiert und ästimiert hat“.
In antagonisme contrôlé für drei Solisten, Brötzmann, Pliakas und Schlagzeugsolo, und das Ensemble Musikfabrik, setzt Wertmüller mit improvisierten Soli von Brötzmann und Pliakas einen Kontrapunkt zum streng ausnotierten Satz des 19köpfig-besetzten Kölner Ensemble Musikfabrik. Es geht ihm darum, zwei gegensätzliche Welten in eine Form zusammenzuführen, den freien Geist des Jazz und serielles klassisches Komponieren, so dass beide ihren Charakter behalten.

Verschiedene Klangkörper verbinden

Die Zusammenführung gegensätzlicher klanglicher Welten verbindet Wertmüller mit der Band Steamboat Switzerland: Seit seiner Gründung 1995 verschränkt das Trio, bestehend aus Marino Pliakas, E-Bass, Lucas Niggli, Perkussion, und Dominik Blum, Hammond-Orgel, seinerseits Jazz, Rock, Metal und Improvisation mit zeitgenössischer Musik. In den eigenen Konzerten kombiniert die Band jeweils komponierte kurze Stücke in modularer Art mit Improvisationen. Michael Wertmüller wurde seit den ersten Begegnungen in den neunziger Jahren zu so etwas wie einem Hauskomponisten der Band. „Steamboat ist die radikalste Band, die Noten spielen kann, die ich überhaupt kenne. So kann ich auch wie ein Verrückter komponieren und es wird dann auch so gespielt: in einer unglaublichen Radikalität, was natürlich grandios ist für mich“, meint Wertmüller über seine selbstbezeichnete Lieblingsband.

Später bezog Wertmüller das Trio in zahlreiche seiner grossen Musikprojekte ein, oft in Verbindung mit klassischen Klangkörpern. „Steamboat ist eigentlich ein wahnsinniger Motor, ein Generator. Diese Präzision, wie sie Material spielen. Das inspiriert definitiv auch ein klassisches Orchester“, so Wertmüller.


Michael Wertmüller, discorde für Hammond-Orgel, E-Bass, Drum Set und Ensemble, Uraufführung Donaueschinger Musiktage 15.10.2016, Steamboat Switzerland, Klangforum Wien, Dirigent Titus Engel.

In discorde, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2016, spielt das Trio zusammen mit dem Klangforum Wien, dirigiert von Titus Engel. Wertmüller inszeniert hier eine eigentlichen «battle» der unterschiedlichen Musikgenres. Es geht ihm aber nicht um den Gegensatz, sondern um das Gemeinsame: „Sie waren der Motor in dem ganzen Gefüge. Das war ein Zug, der voll in die gleiche Richtung fuhr.“

 

Moderne Dramen – Utopien

„Ich habe nicht den Anspruch, Stile zu vereinen. Ich habe eher das Gefühl, dass die Stile sich im Laufe meines Lebens komplett vermischt haben. Eigentlich ist es auch eine dramatische Angelegenheit, wenn sich das so vermengt. Für mich ist es ein modernes Drama.“

Das dramatische Vermengen von Gegensätzen setzt Wertmüller ab 2013 in fünf internationalen Musiktheaterproduktionen um, bisher am konsequentesten in der experimentellen Oper D.I.E für die Ruhrtriennale 2021, wo auch das Szenische und der Raum integriert werden. In einer ausgedienten Industriehalle, der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord, ist das Publikum im Zentrum platziert, umgeben von einem Rundum-Laufsteg, der Steamboat, einem Streichquartett, einer Punkband, einer Rapperin, einer Conferencière und klassischen Sänger:Innen als Bühne dient. Verlebendigte holografische Musikvisualisierungen und vergrösserte Skizzen des Bildenden Künstlers Albert Oehlen umhüllen das Ganze. Zu D.I.E. produzierte Michael Wertmüller eine exklusive, limitierte Vinylauskoppelung, zusammen mit Albert Oehlen, der das Cover gestaltete: Das Album Im Schwung mit der Sängerin Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 


Michael Wertmüller / Albert Oehlen, Im Schwung, Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 

Ich habe manchmal Vorstellungen von einer Musik, die man so noch nicht kennt oder die so noch nicht gegeben hat. Für mich hängt Kunst auch in großen Teilen mit Utopien zusammen und ich versuche in diesen Bereich zu kommen, wo Utopie vielleicht auch Realität werden kann.“
Gabrielle Weber

 

Sonderband Musik-Konzepte Michael Wertmüller, edition text+kritik, Hg. Ulrich Tadday, Dezember 2024.

Am 25.1.25 erlebt Wertmüllers nächste Oper die Uraufführung:
Israel in München, Uraufführung 25.1.25 Staatsoper Hannover.

Peter Brötzmann, Dieter Schnebel, Albert Oehlen, Christina Daletska, Marino Pliakas

Sendungen SRF 2 Kultur
Musik unserer Zeit, 18.12.2024: Michael Wertmüller und das Trio Steamboat Switzerland, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neue Musik im Konzert, 18.12.2024: Michael Wertmüller im Konzert, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neoblog, 3.10.2020: Michael Wertmüller: “..der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”, Autorin Gabrielle Weber.

neoprofiles
Michael Wertmüller, Steamboat Switzerland, Lucas Niggli, Dominik Blum, Titus Engel

Enno Poppe: Composer in Residence @Lucerne Festival 2023

Enno Poppe gilt als einer der originellsten Komponisten unserer Zeit. Die Musik des 55-Jährigen ist hochkomplex und dennoch äusserst attraktiv für die Ohren und oft spannend wie ein Krimi. Enno Poppe ist diesjähriger composer-in-residence am Lucerne Festival. Dort wird u.a. sein Werk Fett zu hören sein und das Orchesterstück Prozession. Annelis Berger hat den Komponisten getroffen.

Annelis Berger
Er ist ein Stadtmensch durch und durch: «Das Leben auf dem Land wäre mir zu kompliziert. Ich wohne sehr gerne in der Stadt, wo ich jederzeit einen Liter Milch kaufen kann, ohne viel überlegen zu müssen. Was nicht heisst, dass ich nicht auch gerne mal auf einen Berg steige oder in einen See springe». Dafür wird er in Luzern leider keine Zeit haben: «Man schafft es nicht, das weiss ich vom letzten Mal, als ich mit der Academy gearbeitet habe. Ich betreue dort rund 100 junge Menschen, die alle gierig und hungrig nach Wissen sind; die wollen von morgens bis abends arbeiten und Dinge erleben, da kann ich hinterher nicht noch auf einen Berg steigen».

 

Portrait Enno Poppe © Ricordi: Harald-Hoffmann

 

Poppe selber hat in Berlin Komposition und Dirigieren studiert, lebt bis heute in der deutschen Hauptstadt und arbeitet in ganz Europa mit den wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik. Ich treffe den Komponisten in Zürich, wo er eben mit dem Ensemble Collegium Novum Zürich geprobt hat. Ein hochsommerlicher Spätnachmittag, Poppe konnte gerade noch ein Bier trinken vor dem Interview. Wir reden zuerst darüber, was seine Musik ausmacht.

«Ich mag intensive Musik, ich mag es, wenn ich die Hörer*innen mitnehme. Und ich mag expressive Musik. Aber ich muss eine neue Form von Expressivität suchen, Expressivität darf nicht nur behauptet sein, nicht aufgestülpt oder sentimental. ich kann nicht die Expressivität einer Bruckner-Sinfonie nehmen, ich muss eine finden, die mit der heutigen Zeit etwas zu tun hat, und mit den Mitteln, die heute da sind. Es ist nicht einfach ein Suchen nach neuen Klängen, sondern die Suche nach einer neuen Expressivität. Das ist etwas, was mich permanent beschäftigt.»

Exemplarisch dafür steht das Stück Prozession. «Das Werk ist eigentlich ein einziger Wachstumsprozess», meint Poppe. «Es beginnt mit einzelnen Tönen, daraus entstehen Melodien, daraus Akkorde, die ballen sich zusammen zu choralartigen Stellen, und das Stück schaukelt sich immer weiter auf, wird immer intensiver. Formal sind es neun grosse Steigerungswellen, die sechste ist die grösste, dann baut es langsam wieder ab. Jeder einzelne Musiker im Ensemble hat hier eine Solostimme und führt dann jeweils einen Teil an, bis dann der nächste Teil mit dem nächsten Soloinstrument kommt.»

 

Enno Poppe, Prozession, 2015/20, Ensemble Musikfabrik Köln, Dirigent Enno Poppe, Ensemblefestival for Contemporary Music 2020, Leipzig Kölner Philharmonie Nov. 22nd, 2020

 

Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Werk war für Poppe die katholische Prozession «Semana Santa» in Sevilla, die jedes Jahr in der Karwoche stattfindet. «Die laufen sieben Tage lang durch die Stadt, 24 Stunden am Stück mit Blaskapellen und Trommeln, da ist die Basler Fasnacht ein Klacks dagegen. Diese spanische Prozessionsmusik hat mit dem Stück einen tiefen Zusammenhang, ohne dass ich sie direkt zitiere.»

 

Prozession ist ein Werk, das beim Hören einen Sog entwickelt, da es tatsächlich immer dichter und dichter wird. Und dem kann man sich kaum entziehen, es vermittelt auch das Gefühl von Hartnäckigkeit: vor dieser Musik gibt’s kein Entrinnen, ihre Expressivität ist sehr direkt.

Ein kompositorisches Mittel für die Expressivität findet Enno Popp im Glissando und im Vibrato. Das zeigt sich sehr schön in Wald von 2010 für vier Streichquartette. Seit vielen Jahren beschäftige sich Enno Poppe mit dem «bewegten» Ton, u.a. auch inspiriert von der asiatischen Tradition von Tönen, die immer in Bewegung sind, das heisst, man hört nie zweimal den gleichen Ton, der Musiker, die Musikerin intoniert ihn jedes Mal anders. Damit hat Enno Poppe oft gearbeitet. «Bei Wald rutscht jeder Ton ständig, bewegt sich nach oben und unten, hin und her. In den verschiedensten Geschwindigkeiten. Das ist wiederum ungemein expressiv. Weil jeder einzelne Ton beseelt wird.»

 


Auch im Ensemblewerk Scherben beschäftigt sich Enno Poppe mit dem “bewegten” Ton, in der Aufnahme mit dem Collegium Novum Zürich, Dirigent: Enno Poppe, 2008, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Enno Poppe redet bereitwillig über seine Musik. Selten gibt es Komponisten, die dies so unverkrampft und entspannt tun. Das macht ein Treffen mit ihm sehr angenehm.

Und natürlich möchte ich mit Enno Poppe auch noch über das Werk Fett reden, einer der Höhepunkte am Lucerne Festival, dirigiert von Susanna Mälkki im grossen Saal des KKL: «Das Stück IST tatsächlich fett! Sonst dürfte es nicht so heissen», meint er schmunzelnd. In dieser Komposition verzichtet Poppe komplett auf Melodien und Themen und alles andere, was klassischerweise Sinfonik auszeichnet. Akkordballungen haben ihn hier interessiert – zunächst nur viertönige Akkorde, die immer grösser werden. «Gegen Ende haben wir 40-50-tönige Akkorde! Und zwar nicht nur Oktaven, sondern das sind mikrotonale Ballungen.»

 


Enno Poppe, Fett (2018/19): Helsinki Philharmonic Orchestra, Dirigentin Susanne Mälkki, UA 10.5.2019, Helsinki Music Center

 

Zum Schluss geht’s im Gespräch um die Arbeitsweise des Komponisten.  Das Arbeiten, sprich komponieren und dirigieren, mache ihm eigentlich immer Spass. Sonst würde er es gar nicht machen. Und manchmal, wenn er für ein neues Werk eine Tür aufstosse in eine neue klangliche Welt – so wie bei Fett die mikrotonalen Ballungen – dann sei es für ihn sehr einfach, weil er sich sehr schnell in der neuen Welt zurechtfinde. «Fett ging unheimlich schnell. Ich war so richtig in Schwung. Es war unberührtes Gelände, und das belebt mich immer, ich kann dann manchmal sehr rasch arbeiten. Für Fett habe ich zirka zehn Wochen gebraucht, mir ist es eigentlich ein Rätsel, warum es so schnell ging, weil da ja unglaublich viele Töne drin sind in diesem Werk.» Eine Leichtigkeit ist da zu spüren – und gerade das zeichnet Enno Poppes Musik auch aus: sie ist komplex und vielschichtig, aber nie sperrig. Und sie nimmt den Hörer mit auf eine Reise durch eine Welt, die nie stillsteht.
Annelis Berger

 

LUCERNE FESTIVAL, Sommerfestival 2023: Das Ensemble Intercontemporain interpretiert Werke des Composer in Residence, Enno Poppe; mit Enno Poppe als Dirigent. Luzern, 13.08.2023 © LUCERNE FESTIVAL / Priska Ketterer

 

Enno Poppe am Lucerne Festival 2023

Susanna Mälkki, Ensemble Musikfabrik

Sendungen SRF 2 Kultur:
Künste im Gespräch, 3.8.2023, Enno Poppe, Composer in Residence am Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger.

Musik unserer Zeit, 13.9.2023, Enno Poppe im Portrait, Redaktion Annelis Berger.

Neo-Profile:
Enno PoppeLucerne Festival Contemporary, Collegium Novum Zürich