Cécile Olshausen
Es ist ein mutiges Festival. Ein innovatives. Ein Festival für neue Hörerfahrungen jenseits des Mainstreams, das ear we are. 1999 in Biel gegründet als Bühne für die freie Improvisation, ist es heute zum international beachteten Festival für Jetzt-Musik geworden. Das Publikum dankt es dem risikofreudigen Festival-Kuratorium und erscheint jeweils zahlreich in der Alten Juragarage am Rande der Bieler Altstadt. Es kommt mit offenen Ohren und der Lust, Unbekanntes zu entdecken: ear we are!
Das Festival ear we are ist wie ein gut sortierter Buchladen, wo man – nebst den Bestsellern – Literatur von unbekannten Schriftstellerinnen und Dichtern vorfindet und sich genau diese Lektüre mitnimmt in vollem Vertrauen auf die kluge Vorauswahl der Buchhändlerin. So bringt auch das Kuratorium von ear we are alle zwei Jahre Musikerinnen und Musiker nach Biel, die manchmal bekannte Cracks, oft aber auch Geheimtipps sind. Die vier künstlerischen Leiter des Festivals sind Martin Schütz, Hans Koch, Christian Müller und Gaudenz Badrutt; alle vier ausgewiesene Künstler der freien Improvisation, die dieses Genre in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit ihren eigenen Interventionen weiterentwickelt und in die Zukunft geführt haben.
Martin Schütz, Cellist und einer der Co-Kuratoren des Festivals: Solo, live Dezember 2019, zVg. Martin Schütz
Ihre Programmarbeit für das Festival ear we are ist ein wesentlicher und wertvoller Prozess: da wird viel Musik zusammen angehört, diskutiert, verworfen, neu bewertet. Das Kuratorium sucht nach kreativen Musikerinnen und Musikern, die Wagnisse eingehen, mit dem Risiko spielen, die im besten Sinne des Wortes improvisieren, also nicht immer schon im Voraus genau wissen, wohin sie der eingeschlagene Weg, die einmal angeschlagenen Töne führen werden. Solchen Kunstschaffenden bietet ear we are einen kreativen Raum. Und so wird jeweils während dreier Tage über musikalische Stilgrenzen hinweg experimentiert und laboriert. In einem dafür passenden Ort: nämlich einer Fabrikhalle, die extra für das Festival leergeräumt wird, die Alte Juragarage, erbaut 1928 im Bauhausstil. Ein spezieller Ort für spezielle Musik. Für Improvisation, aber auch für Konzept-Musik und Komposition. Eben: für Jetzt-Musik.
Es ist durchaus kein Zufall, dass ein solch innovatives Musik-Festival so erfolgreich in Biel gedeihen konnte. Denn in Biel ist die Szene der freien Improvisation besonders lebendig. Überhaupt hat die sogenannte «Freie Improvisation» in der Schweiz eine lange Tradition. Es war Anfang der 70er-Jahre, als sich eine ganze Reihe junger Musikerinnen und Musiker eine neue Musik erfand. Jene, die vom Jazz herkamen, wollten nicht mehr Standards und Grooves spielen und sogar der Free Jazz war ihnen ein zu enges Korsett; und jene, die von der Klassik herkamen, wollten nicht mehr akkurat notierte Partituren voller Geräusche und Spezialeffekte stundenlang einüben und nachspielen, sondern sie wollten selbst erfinderisch werden. So entstand die frei improvisierte Musik, und sie entwickelte sich in keinem Land so schnell wie in der Schweiz. Es gab Subventionen und neue Festivals, die Musikschaffenden organisierten sich, und bald schon wurden sie zu grossen internationalen Festivals eingeladen. Längst ist die freie Improvisation auch Teil des institutionellen Ausbildungsprogramms der Musikhochschulen geworden.
Improvisation – kollektiv geprägte Kunst
Die freie Improvisation ist eine kollektiv geprägte Kunst; man spielt zusammen, die gemeinsamen Auftritte sind nicht nur musikalische, sondern auch soziale Begegnungen, man gibt aufeinander acht, leiht sich ein Ohr. Diese Kunst des Aufeinander-Hörens ist durchaus ein Qualitätskriterium: Wer nicht hören kann, was die andern spielen oder singen, wer ausschliesslich seine eigene Partitur im Kopf verfolgt, erweist sich letztlich als schlechter Improvisator. Aus all diesen musikalisch-ästhetischen und psychosozialen Prämissen ist ein spezifisches Musikgenre entstanden, das sich durchaus beschreiben lässt: Musikalische Bögen aus dem Nichts ins Nichts, eruptive Momente, das Vermeiden von «normalem» Singen oder Spielen, dafür viele Geräusche, die aus der Stimme heraus erforscht und an den Instrumenten erfunden werden, überraschende Spielmittel wie Stricknadeln, Bürsten oder Drähte, oft auch zahlreiche elektronische Hilfsmittel; und vor allem: die Musik wird aus dem Moment heraus entwickelt, nichts ist vorgeschrieben. Und doch sind dies alles Abmachungen, die natürlich auch eingeübt, gelehrt und gelernt werden. Das kann dazu führen, dass die beabsichtigten Neuerungen und Aufbrüche der improvisierten Musik manchmal etwas vorhersehbar werden und sich die freie Improvisation in ihrer eigenen Freiheit begrenzt.
Doch in der Uhrenstadt Biel werden die Zeiger immer wieder auf Jetztzeit gestellt, auch in der freien Improvisation. Dazu trägt das Festival ear we are viel bei, nicht zuletzt, weil es Musikschaffende aus der ganzen Welt einlädt, die ihre spezifischen Erfahrungen und Hintergründe mit einbringen. Gerade die Ausgabe von 2022, die eigentlich letztes Jahr hätte stattfinden sollen und wegen Corona verschoben wurde, zeigt deutlich, wie sehr sich die Genre-Grenzen auflösen und individuell geprägte Fragestellungen und Experimente im Zentrum stehen.
Da ist zum Beispiel die Schweizer Vokalistin Dorothea Schürch: Ihre Stimme ist ihr Mittelpunkt, ihr Klanglabor, ihr Forschungswerkzeug; dabei kreiert sie ihre Soundlandschaften ganz ohne elektronische Transformationen. Über Stimmexperimente der 1950er Jahre hat sie jüngst eine Dissertation geschrieben.
Ensemble 6ix mit Dorothea Schürch, Improvisationen zu Dieter Roth, Kunsthaus Zug 27.11.2014, Eigenproduktion SRG/SSR
Auch die britische Trompeterin, Flügelhornistin und Komponistin Charlotte Keeffe fokussiert auf ihr Instrument. Sie beobachtet fasziniert, wie Maler ihr Werk auf der Leinwand kreieren. So erkundet auch sie in ihren pointierten Improvisationen Farben und Formen und versteht ihr Instrument als eine Art „Klangpinsel“. Oder da sind die betörenden Töne des Australiers Oren Ambarchi zu entdecken. Der in Sydney geborene Musiker, ursprünglich brillanter Schlagzeuger in Freejazz-Bands, hinterfragt die sogenannt professionelle «Beherrschung» eines Instruments: Ohne je eine Unterrichtsstunde genossen zu haben, nimmt er sich die Freiheit und entfaltet auf der Gitarre mit diversen Utensilien seine surreale Musikwelt. Und die amerikanische Dichterin, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin Moor Mother setzt eurozentristischen Traditionen, afroamerikanische Kultur und gesellschaftskritischen Rap entgegen: Da werden ganz konkrete politische Positionen laut, die so explizit in der freien Improvisation selten zu hören sind.
Also: Ohren auf für ear we are 2022!
Cécile Olshausen
Das aktuelle Programm von earweare, 3.-5.2.22, kann sich coronabedingt kurzfristig ändern.
Hans Koch, Christian Müller, Gaudenz Badrutt, Charlotte Keeffe, Oren Ambarchi, Moor Mother
Sendung SRF2 Kultur:
Musik unserer Zeit / Neue Musik im Konzert 2.3.2022:
Ohne Ohrwürmer! Das Bieler Festival earweare, Redaktion Cécile Olshausen
Musik unserer Zeit, 13.10.2021: Vinyl – Hype, Retro Kult, Gespräch mit Oren Ambarchy, Redaktion Gabrielle Weber
neo-Profile:
Martin Schütz, Dorothea Schürch, Florian Stoffner