Formen aus Klang und Stein

Cécile Marti ist Komponistin und Steinbildhauerin. Beiden Tätigkeiten gleichermaßen nachgehen zu können gehört für sie zu einem ausgewogenen Leben. Am 3. April 2023 wird ihr Akkordeonquartett Spectra im Rahmen eines Konzerts der Société de musique contemporaine Lausanne uraufgeführt.

 

Die Komponistin und Steinbildhauerin Cécile Marti. © Martin Messmer

 

Friederike Kenneweg
“Ich komme gerne ganz aus der Stille, und ich versuche, mir diese Stille möglichst den halben Tag zu bewahren”, sagt Cécile Marti, als wir uns mittags zu einem Gespräch per Videokonferenz treffen. Der Morgen und der Vormittag sind bei ihr für gewöhnlich dem Komponieren vorbehalten. “Damals, als ich zum Komponieren kam, wuchs das aus der absoluten Stille heraus. Dieses Erlebnis suche ich alle Tage wieder auf.”

 

Aus der Stille zur Komposition

Den Weg aus der Stille zurück zum Klang hatte Cécile Marti suchen müssen, nachdem ein Schicksalsschlag sie ereilt hatte. Denn zunächst schwebte der musikbegeisterten jungen Frau eine ganz andere Karriere vor: Sie wollte Violinistin werden.
“Ich habe mein ganzes Leben nur auf die Geige ausgerichtet, von Kind auf gab es für mich nur die Geige und nur den Geigenberuf.”
Doch als sie während ihres Studiums einen Hirnschlag erlitt, der ihr das Geigenspiel verunmöglichte, erfolgte eine lange Zeit des Loslassens.

“Da musste ich durch tiefe Welten steigen und mir das Leben von Grund auf neu denken und erfinden und gestalten.”

 

Erfolg mit bubble trip

Aus diesem Prozess heraus entdeckte sie das Komponieren als Möglichkeit, sich weiterhin musikalisch ausdrücken zu können, wenn auch auf eine ganz neue Weise. Bei Dieter Ammann,  Georg Friedrich Haas und Julian Anderson studierte sie Komposition und konnte schon bald erste Erfolge verzeichnen – zum Beispiel mit ihrem Orchesterwerk bubble trip (2004/2007), mit dem sie 2009 den internationalen Kompositionswettbewerb im Rahmen der 9. Weimarer Frühjahrstage für zeitgenössische Musik gewann.

 


In der Schweiz wurde Cécile Martis bubble trip im Jahr 2010 vom Luzerner Sinfonieorchester erstmalig aufgeführt.

 

Vierteltöne mit dem Akkordeon

Gerade hat Cécile Marti das Werk Spectra für vier Akkordeons abgeschlossen, das Anfang April vom Ensemble Xamp uraufgeführt werden soll. Das Besondere: zwei der Akkordeons des Ensembles sind so gebaut, das sie Vierteltöne spielen können. Cécile Marti hat diese Gelegenheit genutzt, um sich, wie schon in vorangegangenen Werken, mit Naturtonspektren auseinanderzusetzen.

 


Auch in Dancing Spectra für Sextett aus dem Jahr 2018 nahm Cécile Marti bereits Naturtonspektren zum Ausgangspunkt. Hier: für eine sehr tänzerische Komposition, Aufnahme: ensemble für neue musik zürich,

 

Nachmittags die Steine

Ihre Nachmittage widmet Cécile Marti der Steinbildhauerei, die sie zeitgleich mit ihrer Hinwendung zur Komposition für sich entdeckte.
Das visuelle Gestalten lag in ihrer Familie: Ihr Vater arbeitete als Graphiker und fertigte unentwegt Zeichnungen und Skizzen an, und bei ihrer Mutter, einer Keramikerin, konnte sie häufig den Entstehungsprozess der Werkstücke aus Ton mitverfolgen. “Ich bin da quasi in ihrer Werkstatt aufgewachsen und durfte miterleben, wie sie Gefäße formte, und wie diese dann gebrannt wurden und in allen Form- und Farbvarianten aus dem Brennofen kamen. Das war immer sehr aufregend.”

Heute bringt sie selbst die Form aus dem harten Stein hervor – ein Prozess, der immer wieder aufs Neue eine Herausforderung darstellt und große Konzentration erfordert.

 

Prozesse und Verläufe in Stein und in Klang

Die Wechselwirkung zwischen den Kunstformen, denen sich Cécile Marti tagtäglich widmet, finden auch Eingang in ihr Werk. In Five stages of a sculpture (2019) für Ensemble und zwei Solobratschen zum Beispiel stehen fünf Musiksätze fünf verschiedenen Entstehungsstufen einer Steinskulptur gegenüber. Das Ensemble versinnbildlicht die Materialität des Steins, dem nach und nach die Bratschenstimmen eine neue Form verleihen.

 


Five Stages of a Sculpture von Cécile Marti, gespielt vom Ensemble Multilatérale.

 

Water Crystals aus dem Jahr 2020 nimmt die verschiedenen Strukturen von Wasserkristallen zum Ausgangspunkt, die der Forscher Masuro Emoto in den 1990er Jahren an unterschiedlichen Ecken der Welt fotografiert hatte. Violine und Klavier setzen sich musikalisch in zwölf aphoristischen Miniaturen mit den sechseckigen Kristallstrukturen auseinander. Zwölf Skulpturen aus weißem Marmor nehmen das gleiche Thema räumlich-visuell in den Blick.

 


Cécile Marti, Water Cristals for violin and piano, 2020, Video 2021 ©Martin Messmer

 

Cécile Marti hat mit ihren beiden Tätigkeitsfeldern etwas gefunden, das sie  erfüllt. “Das ist einfach etwas so Wundervolles, und ich möchte dieses aufregende Erlebnis weitergeben können, weiter schenken können”, sagt sie. Denn Formen und Gestalten – das hat auch etwas Selbstermächtigendes.

“Es geht mir um die Form und das Formen unseres Lebens. Unserem Leben Gestalt geben, unserem Leben Form schenken. Auch im Sinn von selber das Leben denken, selber das Leben gestalten von innen heraus, das selbstbestimmte Gestalten unserer Leben von Grund auf.”
Friederike Kenneweg

 

Konzert: 3. April 2023, 19:00/20:15; Société de musique contemporaine Lausanne, Haute Ecole de Musique de Lausanne (HEMU)| Utopia 1 | Rue de la Grotte 2 | 1003 Lausanne: Das Ensemble Xamp spielt Werke von Cécile Marti und anderen Komponist:innen.

Cécile MartiSteinskulpturen von Cécile MartiDieter AmmannJulian AndersonGeorg Friedrich HaasEnsemble MultilatéraleLuzerner SinfonieorchesterEnsemble Xamp

Neo Profile:
Cécile MartiDieter AmmannGeorg Friedrich HaasLuzerner SinfonieorchesterSMC Lausanne

 

Von Schwärmen, Glocken und Insekten

Michael Pelzel ist Composer in Residence beim diesjährigen Musikfestival Bern. Zahlreiche Uraufführungen zeigen die Bandbreite seines kompositorischen Schaffens. Zudem ist er als Interpret an der Orgel und im Gespräch zu erleben. Ein Portrait von Friederike Kenneweg.

 

Portrait Michael Pelzel zVg Michael Pelzel

 

Friederike Kenneweg
Als ich mit Michael Pelzel Mitte Juli 2021 einen Telefontermin für ein Interview ausmachen möchte, ist er gar nicht so ohne Weiteres zu erreichen. Und das hat einen guten Grund: auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Stücke, die von ihm als Composer in Residence beim Musikfestival Bern zur Uraufführung gelangen sollen. „Das geht gerade Schlag auf Schlag“, erzählt er mir, als es dann doch endlich mit einem Gespräch klappt. Das Stück, das gerade vor ihm liegt, als wir miteinander telefonieren, heißt Aus 133 Fenstern. Obwohl „Composer in Residence“ in Bern nicht bedeutet, dass man tatsächlich für eine längere Zeit vor Ort sein muss, haben die Gegebenheiten am Festivalort Michael Pelzel zu einer besonderen Raumkomposition inspiriert.

Aus der Vielzahl der Fenster, die vom Kulturzentrum PROGR auf den dortigen Innenhof hinausgehen, wird das Publikum mit Glocken, Triangeln, Lotosflöten und Okarinas beschallt. Die Ausführenden: Kinder und Jugendliche. Auch wenn die angestrebte stolze Zahl von 133 Musizierenden nicht ganz erreicht werden sollte: zweifellos erwartet die Zuhörenden hier ein einzigartiges Raum- und Klangereignis.

 

Probe zur Uraufführung von Aus 133 Fenstern für 133 Musizierende, UA im Progr am Musikfestival Bern ©Martin Bichsel / zVg Musikfestival Bern

 

Das Stück ist genau auskomponiert. Dass die Laienmusiker*innen es unter den besonderen räumlichen Umständen schaffen werden, auch wirklich immer synchron miteinander zu spielen, erwartet Michael Pelzel aber nicht. „Das schaffen auch Profis nicht, immer genau gleichzeitig auf die Schlaginstrumente zu treffen“, sagt Pelzel. Doch es ist genau dieser klangliche Effekt der Unschärfe, der den Komponisten besonders interessiert. „Komponisten sind ja immer auf der Suche nach neuen, unerhörten Klängen. Und diese gewissermaßen chorisch eingesetzten Metallschlaginstrumente, die sind in der Musik meiner Meinung nach absolut noch nicht ausgereizt.“

 

“Mikro-Arpeggien”

 

Pelzels Faszination für Metallschlaginstrumente kommt im Rahmen des Festivals an mehreren Stellen zur Geltung. Zum Beispiel in der Komposition Glissomaniac für zwei Klaviere und zwei Perkussionisten. Hier sind es Röhrenglocken, die solche Unschärfen hervorbringen, wenn die beiden Schlagzeuger und die Klaviere unisono miteinander spielen. „Mikro-Arpeggien“ nennt Michael Pelzel das, was dabei entsteht. „Das ist ein bisschen wie bei einem Fluss-Delta. Es bilden sich viele kleine Nebenarme, die jeweils einen etwas anderen Verlauf nehmen, aber alle haben eine gemeinsame Richtung. Alle strömen zum Meer.“

 


Vokalensemble und Perkussion kombinierte Michael Pelzel bereits 2019 im Stück  Hagzusa zum Galsterei, uraufgeführt vom SWR-Vokalensemble am Festival Eclat Stuttgart 2019

 

Auch in der Vokalkomposition La Luna für acht Sänger und Schlagzeug setzt Michael Pelzel auf diesen Effekt. Nicht nur der Schlagzeuger nutzt hier Perkussionsinstrumente, sondern auch die acht Sänger*innen bringen verschieden große Triangeln zum Einsatz. Durch die minimale zeitliche Verschiebung beim Anschlag entstehen immer wieder  unterschiedlich dimensionierte Metallklangwolken, die nie ganz vorhersehbar sind.

La Luna ist ein Auftragswerk für das KlangForum Heidelberg, das im Rahmen der Werkreihe „Sternbild: Mensch“ des Ensembles entstand und eigentlich schon an anderer Stelle zur Uraufführung gelangen sollte. Doch wie so häufig stand die Corona-Pandemie dem entgegen.

Uraufgeführt wurde das Werk zwar schon, aber bislang nur in digitaler Form. Die „analoge“ Uraufführung vor körperlich anwesendem Publikum wird nun in Bern stattfinden können: eine besondere Sternstunde im Rahmen des Konzertes mit dem Titel Ferne Lichterschwärme.

 


Michael Pelzel, La Luna, KlangForum Heidelberg, ‘Uraufnahme’ online Juni 2021

 

In Kombination mit Pelzels Stück La Luna stehen auch Orchesterwerke von Georg Friedrich Haas (geboren 1953) und György Ligeti (1923-2006) auf dem Programm. Pelzels Kompositionen werden auch bei den anderen Konzerten gemeinsam mit Werken von Haas und Ligeti präsentiert. Wohl weil eine gewisse Verwandtschaft zwischen den drei Komponisten besteht. Ähnlich wie Ligeti schätzt Pelzel vertrackte Mikrorhythmen. Mit Georg Friedrich Haas teilt Pelzel die Leidenschaft für Mikrotöne. Dementsprechend kommt ihm die Kombination seiner Werke mit diesen beiden Größen durchaus entgegen: „Zwischen Georg Friedrich Haas, der mein geschätzter Lehrer war, und György Ligeti, der für mich in vielerlei Hinsicht eine wichtige musikalischen Bezugsgröße ist, fühle ich mich sehr wohl.“

 


Michael Pelzel, in memoriam György Ligeti, für Ensemble 2018: vertrackte Mikrorhythmen verbindet das Schaffen von György Ligeti und Michael Pelzel, Eigenproduktion SRG

 

György Ligeti spielt für Michael Pelzel auch in seiner Funktion als Organist eine wichtige Rolle. Bei dem Orgelkonzert mit Michael Pelzel im Rahmen des Festivals steht dementsprechend das Orgelwerk Harmonies von György Ligeti aus dem Jahr 1967 auf dem Programm. Die Komposition ...stream of debris… von Michael Pelzel, die er hier selbst uraufführen wird, sieht er  in derselben Traditionslinie. „Ein bisschen ist das auch wie eine Hommage an Ligeti. Ligeti hat in seiner Orgelmusik viel mit Clustern gearbeitet. Wenn ich selber auf der Orgel improvisiere, gehe ich auch von solchen Clustern aus, versuche dabei aber, das nicht einfach zu wiederholen, sondern Ligetis Ansatz für die heutige Zeit weiter zu entwickeln.“

Zum Festivalmotto „schwärme“ passend als „schwärmerisches Stück“ im Programm angekündigt ist Streamed Polyphonyfür Streicher, das von der CAMERATA BERN uraufgeführt werden wird. „Schwärmerisch stimmt eigentlich nicht“, sagt Pelzel, als ich ihn danach frage. Vielmehr habe er beim Komponieren an drei Insekten gedacht, die um eine Lichtquelle herumschwirren.

Darum spielt bei diesem Stück die Verteilung der Musiker*innen im Raum eine wichtige Rolle. Diese ermöglicht, dass auch der Streicherklang im Raum umherschwirrt. Auch wenn der Titel der Komposition die Assoziation mit Insekten nicht mehr nahelegt: vielleicht ist beim Konzert der CAMERATA BERN dieses Schwärmen und Schwirren für die Zuhörer*innen trotzdem noch erkennbar.
Friederike Kenneweg

 

Michael Pelzel © Manuela Theobald / zVg Musikfestival Bern

 

Das diesjährige Musikfestival Bern findet vom 1. bis zum 5. September unter dem Motto “schwärme” statt. Zu hören sind Werke und Uraufführungen von u.a. Salvatore Sciarrino, Fritz Hauser, Jürg Frey, Johanna Schwarzl, Hans Eugen Frischknecht, Pierre-André Bovey, Thomas Kessler oder Jean-Luc Darbellay.

Donnerstag, 26. August, 19 Uhr: Michael Pelzel zu Gast in „Sprechstunden für neue Musik“, einer Reihe von Zoom-Veranstaltungen des Musikfestival Bern. Hier geht es um ein informelles Kennenlernen und ins Gespräch kommen mit dem Komponisten, mit Hörbeispielen. Teilnahme kostenlos, Anmeldung erwünscht an Tobias Reber.
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Uraufführungen von Michael Pelzel:
Aus 133 Fenstern, Mittwoch, 1.9. 17h
Streamed Polyphony, in Konzert: Open the Spaces, Mittwoch, .1.9. 19h
Glissomania, in Konzert: Durch unausdenkliche Wälder, Freitag, 3.9. 21h
La Luna, in Konzert: Ferne Lichterschwärme, Samstag, 4.9. 19h
Harmonies / ...stream of debris… in Konzert: Con Passione, Sonntag, 5.9. 17h

Neo-Profiles:
Musikfestival Bern, Michael Pelzel, Camerata BernGyörgy Ligeti, Georg Friedrich Haas, Thomas Kessler, Jürg Frey, Jean-Luc Darbellay, Fritz Hauser, Pierre-André Bovey