Eigenwilliger Avantgardist aus Zullwil: Der Komponist Hermann Meier

Hermann Meier (1906-2002) war Dorfschullehrer in Zullwil im Schwarzbubenland und hatte fünf Kinder zu ernähren. Trotzdem fand er immer die Zeit, um an seinen ungewöhnlichen Kompositionen zu arbeiten – wenn auch erstmal nur für die Schublade, weil größere Erfolge und Aufführungen zu seinen Lebzeiten ausblieben. Die Musikwissenschaftlerin Dr. Michelle Ziegler hat seinen Nachlass erforscht. Ein Gespräch mit Friederike Kenneweg.

 

Ausschnitt aus dem grafischen Plan von Hermann Meier für sein Stück für zwei Klaviere HMV44 aus dem Jahr 1958. Vergilbtes Papier mit Linien, darauf mit Buntstift in rot, schwarz und blau eingetragene Flächen-
Ein Ausschnitt des graphischen Plans zu einem Klavierstück von Hermann Meier aus dem Jahr 1958 (HMV44). “Mondriane” nannte Meier diese Pläne, die er seit den 1950er Jahren erstellte, bevor er die Werke in Notenschrift ausarbeitete. Der Nachlass des Komponisten ruht seit 2009 in der Paul Sacher Stiftung – und damit auch eine Vielzahl dieser Graphiken, eingerollt und in Kartons verstaut. © Paul Sacher Stiftung.

 

Friederike Kenneweg
“Angefangen hat es damit, dass ich 2011 erstmals Musik von Hermann Meier im Konzert gehört habe”, erinnert sich Michelle Ziegler, “und das hat mich gleich fasziniert.” Damals spielten Tamriko Kordzaia und Dominik Blum die Dreizehn Stücke für zwei Klaviere von Hermann Meier aus dem Jahr 1959. “Das sind dreizehn voneinander abgetrennte Abschnitte von sehr unterschiedlichem Charakter. Ich habe mich damals schon mit der Umsetzung von bildnerischen Vorstellungen in Musik beschäftigt, und das fand ich hier konsequent umgesetzt.”

 

 


In den Dreizehn Stücken für zwei Klaviere offenbart sich der Facettenreichtum von Hermann Meiers Musik, der laut und direkt, aber auch zart und manchmal humorvoll klingen kann. Tamriko Kordzaia, Dominik Blum, Konzert vom 19.Mai 2011, Museum für Gestaltung Zürich, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Als Michelle Ziegler hörte, der Nachlass dieses Komponisten läge noch weitgehend unerforscht in der Paul Sacher Stiftung und es gäbe dort allerhand graphische Pläne zu entdecken, hatte sie ihr Dissertationsprojekt gefunden. “Das war dann am Ende auch der Schwerpunkt meines Projekts: Meiers Klaviermusik und seine bildliche Notation.”

 

 Die Musikwissenschaftlerin Michelle Ziegler bei einer Führung durch die Ausstellung "Mondrian-Musik. Die graphischen Welten des Komponisten Hermann Meier". © Daniel Allenbach/HKB
Michelle Ziegler bei einer Führung durch die Ausstellung ‘Mondrian-Musik. Die graphischen Welten des Komponisten Hermann Meier’ (Kunstmuseum Solothurn, Oktober 2017 – Februar 2018) © Daniel Allenbach/HKB.

 

Aufzeichnungen in Schulheften

Um die Notizen von Hermann Meier lesen zu können, lernte Michelle Ziegler sogar eigens eine bestimmte Stenografie-Schrift. Denn in dieser Form hielt Meier, der als Primarschullehrer unbegrenzt Zugang zu Schulheften hatte, unentwegt seine Gedanken fest: zur Musik, zur zeitgenössischen Kunst und zum Fortgang seiner Arbeit. “Man kann ihn geradezu als graphoman bezeichnen”, sagt Michelle Ziegler. Mit der Vielzahl an Heften, Plänen und Noten, die heute in der Paul Sacher Stiftung ruhen, könne man sich noch ein ganzes Leben lang beschäftigen.

 

Quer zum Musikbetrieb seiner Zeit

Dass Hermann Meier trotz der stetigen Produktivität zu seinen Lebzeiten nur wenig Anerkennung erfuhr, hat mit seinem eigenwilligen kompositorischen Weg zu tun. Schon seit den 1930er Jahren beschäftigte er sich im Selbststudium mit der Zwölftonmusik und fand mit Wladimir Vogel nach dem Zweiten Weltkrieg auch zunächst einen wohlwollenden Lehrer. Doch er verabschiedete sich mehr und mehr davon, fand erst einen umso radikaleren Umgang mit dem seriellen Komponieren und ging schließlich, inspiriert von der Bildenden Kunst um Piet Mondrian und Hans Arp, zur Arbeit mit Klangflächen über. Seit 1955 arbeitete Meier mit graphischen Plänen, in denen er visuell die Struktur skizzierte, die er später in Notenschrift ausformulierte.

Mit seiner Art zu Komponieren stieß er damals auf Unverständnis. Obwohl er sich um Aufführungsmöglichkeiten bemühte, erhielt er nur Absagen. Er komponierte zwar unbeirrt weiter, aber für die Schublade.

 

Der Komponist Hermann Meier 1979 in Yverdon am Klavier.
Hermann Meier 1979 in Yverdon. © Privat

 

Klang als Leinwand

Eine zentrale Rolle im Werk Meiers, der selbst ein sehr guter Pianist war, spielen Tasteninstrumente. Das Klavierstück von Hermann Meier, das Michelle Ziegler besonders schätzt, ist das Stück für zwei Klaviere aus dem Jahr 1958 (Hermann-Meier-Verzeichnis HMV 44).

“Das ist für mich ein umwerfendes Stück. Ich kann es mir immer wieder anhören und höre immer wieder andere Dinge.”

 

 


Im Stück für zwei Klaviere HMV 44 aus dem Jahr 1958, hier gespielt von Tamriko Kordzaia und Dominik Blum, experimentiert Hermann Meier mit den drei Strukturelementen Punkte, Striche und Flächen. Diese werden gegeneinander gesetzt, überlagern sich, werden übereinander geschichtet.

 

 

Ausschnitt aus dem graphischen Plan zu dem Stück für zwei Klaviere HMV44 von Hermann Meier aus dem Jahr 1958. Auf vergilbten Karopapier sind schwarze, blaue und rote Flächen eingezeichnet, mit Bleistift Anmerkungen des Komponisten verzeichnet. © Paul-Sacher-Stiftung, Basel
Ausschnitt aus dem graphischen Plan zum Stück für zwei Klaviere HMV 44. In dem frühen Plan sind die drei Formelemente Punkte, Striche und Flächen in verschiedenen Farben ausgedrückt: Punkte rot, Striche blau und Flächen schwarz. © Paul-Sacher-Stiftung, Basel

 

Späte Anerkennung: ‘Klangschichten’

Dass Meiers Bemühungen um Aufführung seiner Werke nicht fruchten wollten, liegt auch daran, dass sie für die damaligen Instrumentalist:innen zu schwierig waren. So nimmt es nicht wunder, dass Meier sich der elektronischen Musik zuwandte. Und tatsächlich gelang es ihm, 1976 und damit im Alter von siebzig Jahren, im Experimentalstudio des SWF sein erstes Werk für Tonband Klangschichten zu realisieren – mit dem er im Dezember des gleichen Jahres einen Preis gewann.

 

Im Alter ein neuer Stil

Ab 1984 Jahren war es der Pianist und Komponist Urs Peter Schneider, der sich für Hermann Meiers Musik interessierte und einige seiner Werke im Rahmen der Konzertreihe “Neue Horizonte Bern” zur Uraufführung brachte.

 


Mit der späten Möglichkeit, seine Instrumentalstücke aufgeführt zu erleben, entwickelte Hermann Meier einmal mehr einen neuen Stil. Diesen entdeckt Michelle Ziegler zum Beispiel im Klavierstück für Urs Peter Schneider aus dem Jahr 1987, hier gespielt von Gilles Grimaître. Konzert HKB Bern 2017, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

“Das Rhythmische und das Element der Dauer werden dann sehr wichtig. Da war er schon über achtzig und hat sein Komponieren noch einmal ziemlich verändert, einfach weil ihn etwas anderes noch mehr fasziniert hat.”

Unterdessen hat das Werk Hermann Meiers doch noch einiges an Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahr 2018 gelangte beispielsweise Meiers Stück für großes Orchester und Klavier vierhändig aus dem Jahr 1965 bei den Donaueschinger Musiktagen zur Uraufführung. Solche Konzerte freuen Michelle Ziegler besonders.
“Mir ist wichtig, dass die Musik von Hermann Meier nicht nur Papier bleibt, sondern dass sie unbedingt auch gehört werden soll.”
Friederike Kenneweg

 

Die Paul Sacher Stiftung hat den Nachlass von Hermann Meier geordnet, zu einem großen Teil restauriert und ein Werkverzeichnis angelegt.

Der Komponist und Fagottist Marc Kilchenmann hat die Noten als Faksimile-Ausgabe im aart Verlag zugänglich gemacht.

Der Pianist Dominik Blum hat sämtliche Werke für Klavier Solo von Hermann Meier ab 1948 vollständig eingespielt.

Michelle Ziegler veröffentlichte den Band Musikalische Geometrie. Die bildlichen Modelle und Arbeitsmittel im Klavierwerk Hermann Meiers im Verlag Peter Lang, Bern und gab gemeinsam mit Heidy Zimmermann und Roman Brotbek den Katalog zur Ausstellung Mondrian-Musik. Die graphischen Welten des Komponisten Hermann Meier im Chronos Verlag, Zürich heraus.

Webseite Hermann Meier, Paul Sacher Stiftung, Aart Verlag, Michelle Ziegler

 

Sendung SRF Kultur:
Kontext, 10.1.2018: Hermann Meier, ein lang verkannter Musikpionier, Autor Moritz Weber

neo-profile:
Hermann Meier, Urs Peter Schneider, Gilles Grimaître, Tamriko Kordzaia, Dominik Blum, Marc Kilchenmann

Welle um Welle

Friedemann Dupelius
„Ein Orchester ist kein Kammerensemble. Es hat so eine gewisse Trägheit, die man erstmal überwinden muss, um all seine Instrumente, all seine Klänge zu aktivieren“, sagt Kevin Juillerat. Zwar ist der franko-schweizer Komponist kein Physiker, doch mit den Eigenschaften und Behandlungsmöglichkeiten von Schallwellen kennt er sich ganz gut aus. Davon zeugen die grauen Akustik-Dämmer an den Wänden seiner aktuellen Residenz im Pariser Elektronik-Paradies IRCAM, von wo aus er über sein Stück Waves spricht. Es ist seine erste Komposition für die große Orchester-Besetzung und wird am 16.1.2022 beim 3. Abo-Konzert der Jubiläums-Saison der Basel Sinfonietta uraufgeführt.

Mit Trägheit hat deren Geschichte jedoch wenig zu tun. 1980 gründeten enthusiastische Musiker:innen ein Orchester, das mit seinem ausschließlichen Fokus auf zeitgenössische Musik bis heute einzigartig geblieben ist. Ebenfalls bis heute ist die Basel Sinfonietta selbstverwaltet und basisdemokratisch organisiert. Den Vorstand bilden aus dem Ensemble heraus gewählte Orchestermitglieder, und auch die Programmkommission setzt sich aus solchen zusammen. Mit dazu gehört Daniela Martin, seit September 2020 Geschäftsführerin der Basel Sinfonietta, die konstatiert: „Von seinem freien Spirit ausgehend, ist das Orchester in der professionellen Musikszene inzwischen fest verankert.“

 

Basel Sinfonietta ©Archiv Basel Sinfonietta: Die Basel Sinfonietta präsentiert Musik gern in thematischen Konzerten. Legendär war das Programm „Sport und Musik“ unter der Leitung von Mark Fitz-Gerald im September 1989.

 

Zweifelsohne war das 40. Jahr zugleich das Schwierigste im Bestehen der Basel Sinfonietta. Anstatt einer großen Jubiläumsfeier herrschten Unsicherheit, Distanz zum Publikum und zwischen den Musiker:innen. Plötzlich mussten Abstände zwischen den Pulten eingehalten werden, was auch akustische Folgen hatte – das viel zitierte Distancing bekommt eine hörbare Qualität, wenn die Musiker:innen im Raum auseinander gerissen werden. Mit der nicht minder schwierigen Rückkehr zur normalen Aufstellung ist auch das Publikum in die Konzerte der Basel Sinfonietta zurückgekehrt, und das mit einer erfreulichen Nachricht: Die Zahl der Abonnent:innen hat sich über die Zeiten von Lockdown und Streaming-Konzerten vergrößert. So kann das leicht verspätete Jubiläum „40+1“ in dieser Saison vor einer angewachsenen Gemeinde an Fans und Neugierigen zelebriert werden. Daniela Martin ist begeistert vom Basler Publikum: „Die Leute lassen sich auf die Musik ein. In den Konzerten herrscht eine dichte Atmosphäre, eine spürbare Begeisterung. Man ist nicht zum Kritisieren da, sondern um mit offenen Ohren der neuen und neuesten Musik zu begegnen.“

 


Isabel Klaus, Dried – Für Orchester, UA Basel Sinfonietta 2007, Eigenproduktion SRG/SSR: Zum Kernverständnis der Basel Sinfonietta gehört es, junge Schweizer Komponist*innen eine Plattform zu bieten. Vor Kevin Juillerat haben schon viele andere davon profitiert, etwa Isabel Klaus mit ihrem Stück Dried.
Schaut ein Orchester für zeitgenössische Musik bei einem Jubiläum eher zurück oder nach vorne? Daniela Martin sagt: „Beides. Vor allem aber blicken wir ins Heute und in die Zukunft. Welche gesellschaftlichen Perspektiven und Utopien können wir in unseren Programmen beleuchten?“ In dieser besonderen Spielzeit setzt sich die Basel Sinfonietta unter anderem mit Fragen der Migration und dem Verhältnis westlicher zu non-europäischer Musik auseinander. Im Oktober war bspw. das bolivianische Orquestra Experimental de Instrumentos Nativos zu Gast, um mit der Basel Sinfonietta ein interkontinentales Programm mit Musik südamerikanischer und Schweizer Komponist:innen zu spielen.

 

Roberto Gerhard, Sinfonie Nr. 4 „New York“ (UA 1967), Basel Sinfonietta 2003, Eigenproduktion SRG/SSR: Migration prägte das Leben des aus Olten stammenden Komponisten Roberto Gerhard. Bereits 2003 spielte die Basel Sinfonietta mit Johannes Kalitzke seine 4. Sinfonie ein, die Erste erklingt im Konzert am 16. Januar.

 

 

Das Konzert am 16.1.2022 im Stadtcasino Basel läuft unter dem Motto „Schwerkraft Migration“. Sowohl äußerliche als auch innere Migrationsbewegungen sind dabei impliziert – erstere etwa bei Roberto Gerhard. Der 1970 verstorbene Komponist wurde in Katalonien geboren, hat familiäre Wurzeln in Olten und schrieb seine Musik vom britischen Exil aus. Er ist mit seiner 1. Sinfonie von 1952/53 vertreten. Bei Hèctor Parra geht die Reise nach innen und ins all-umfassende Außen zugleich – sein Stück InFALL von 2011 handelt von Schwerkraft und kosmologischen Meditationen über die menschliche Existenz.

 

Mit dem Stück Waves, einem Kompositionsauftrag an Kevin Juillerat, setzt die Basel Sinfonietta ihre Mission fort, jungen Schweizer Komponist:innen eine Plattform zu bieten – gerade auch solche, die wie Juillerat, noch nie für Orchester geschrieben haben. Ob dieser sich mit der Aufgabe unter Druck gesetzt fühlt? „Ich würde es eher als Herausforderung beschreiben. Auch wenn ich viel mit Einflüssen der elektronischen oder Rockmusik arbeite, so habe ich mich auch immer der sinfonischen Tradition verbunden gefühlt. Mich erschreckt das nicht. Das Orchester ist ein großartiges Instrument.“

 

 

Portrait Kevin Juillerat © Didier Jordan / Archiv Basel Sinfonietta

 

Damit verrät der Komponist und Saxofonist mit Jahrgang 1987 zugleich seinen Zugriff auf den sinfonischen Klangkörper. Er betrachtet ihn als ein großes Meta-Instrument, mit dem sich durch Kombination und langsame Prozesse neue Klangfarben erzeugen lassen. Dabei bezieht er auch Techniken aus der elektronischen Musik mit ein, etwa die Ringmodulation – eine simple Form der Klangsynthese, bei der sich zwei Klangsignale manipulieren und ein drittes, neues erzeugen lassen.

 

Kevin Juillerat, Le vent d’orages lointains – for piano and strings, Camerata Ataremac / Gilles Grimaitre 2018, Eigenproduktion SRG/SSR: Klangfarben-Schichtungen und sich langsam verändernde Texturen finden sich auch in Kevin Juillerats Stück „Le vent d’orages lointains“ für Klavier und Streicher von 2018.

 

„In meinen letzten elektroakustischen Stücken habe ich viel mit Texturen gearbeitet, die sich langsam verändern. Das wollte ich auch mit dem Orchester umsetzen. So gibt es gegen Ende des Stücks einen Drone, also einen sehr lang gehaltenen Ton, der mit den Mitteln der Ringmodulation in seinem Spektrum verändert wird.“ Konkret setzt Juillerat zu dieser Modulation Töne auf den Drone, die sich aus der Kernzelle seines Stücks ergeben: Sechs Tönen, die sich aus den Buchstaben B-A-S-E-L und SI für Sinfonietta ergeben. „Ich habe viel an Klangfarben gearbeitet, die immer in Veränderung begriffen sind. Dabei habe ich versucht, die einzelnen Instrumente in ihrer Wiedererkennbarkeit zu verschleiern. Es geht ganz um die Farben“, betont Juillerat.

 

Diese Eigenschaft seiner Musik war es auch, die Baldur Brönnimann beeindruckte, als er ein Stück Juillerats mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne aufführte. So schlug ihn der Principal Conductor der Basel Sinfonietta für das Auftragswerk vor, das am 16. Januar seine ersten Wellen vor dem Basler Publikum schlagen wird. So träge, wie es ein Orchester braucht, um so richtig in Wallung zu geraten – und, wenn es dann so weit ist, so behende, wie die Basel Sinfonietta auch die nächsten 40+1 Jahre angehen möchte.
Friedemann Dupelius

 

Die Basel Sinfonietta stellt auf ihrem neo.mx3-Profil eine grosse Auswahl aus ihrem Audio- und Videoarchiv zur Verfügung.

Basel Sinfonietta: Saison 40+1:
die kommenden Konzerte

 

IRCAM, Roberto Gerhard, Daniela Martin, Hèctor Parra, Baldur Brönnimann, Orquestra Experimental de Instrumentos NativosOrchestre de Chambre de Lausanne

 

neo-profiles:
Kevin Juillerat, Basel Sinfonietta, Isabel Klaus, Gilles Grimaitre

 

un projet est avant tout une rencontre..

Der Genfer Komponist, Interpret und Kurator Alexandre Babel erhielt einen der Schweizer Musikpreise des Bundesamts für Kultur 2021. Am 17. September findet die feierliche Preisübergabe in Lugano statt. Im Gespräch erzählt Babel was er unter Komposition und Kuration versteht und wie er diese Tätigkeiten verwebt.

 

Portrait Alexandre Babel © Felix Brueggemann 2021

 

Gabrielle Weber
Alexandre Babel, Perkussionist, Komponist und Kurator, bewegt sich auf Avantgarde-Konzertbühnen, an Jazzfestivals, in Galerien und an Kunstbiennalen. Zwischen Berlin und Genf verbindet er klassische Avantgardemusik, Klangkunst, experimentelle Improvisation und Performance.

Es gebe so viele Arten zu komponieren, wie es Komponierende gebe, sagt Alexandre Babel. Komponieren umschreibt er deshalb lieber mit “Organisation von Klängen in Zeit und Raum”. Diesem Kompositionsverständnis sei auch das Kuratieren nahe. “Auch hier geht es darum, dass man existierende Klangobjekte an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in Bewegung bringt und diese Objekte dann mit anderen Objekten in Verbindung setzt”.

Komponieren und Kuratieren: das sind für Babel verschiedene Seiten ein und derselben Tätigkeit. Babel kreiert, konzipiert, inszeniert, vernetzt und interpretiert.

Alexandre Babel, 1980 in Genf geboren, fand durch seinen ersten Schlagzeuglehrer in Genf zunächst zum Jazz. Anschliessend spezialisierte er sich in New York bei Jazzlegenden wie Joey Baron oder Jeff Hirshfield weiter und spielte in verschiedenen Formationen. „Am Jazz faszinierte mich nicht nur die Ästhetik, sondern vielmehr wie Musiker miteinander umgingen, um Musik zu kreieren. Das Mischen von Repertoire und Improvisation: das war für mich die Basis des Musikmachens“.

Gleichzeitig angezogen von der klassischen musikalischen Avantgarde, wechselte er bald zum klassischen Schlagzeug und fand, zurück in Europa, zur Komposition. John Cage, Morton Feldman, Alvin Lucier, Heiner Goebbels oder Helmut Lachenmann waren dann für Babels kompositorischen Weg wegweisend.

Bereits in ersten Stücken wie music for small audiences für kleine Trommel solo, setzt er sich dabei insbesondere auch mit der Rolle des Interpreten auseinander. “Mit Music for small audiences begann eine eigentliche Liebesgeschichte mit der kleinen Trommel”, meint Babel.

 


In einem seiner ersten Stücke, ‘music for small audiences’ erkundet Alexandre Babel neue Klänge für kleine Trommel solo und rückt die Rolle der Perkussion im Musikbetrieb in den Fokus.

 

Interpret – Improvisator – Komponist

 

Als Schlagzeuger ist Babel heute vielgleisig unterwegs: als feiner leiser Improvisator, als lauter experimenteller Drummer bspw. mit der Band „Sudden infant“ im Duo mit Joke Lanz oder als Interpret zeitgenössischen Schlagzeugrepertoires in diversen Formationen.

Gleichzeitig komponiert und kuratiert er und entwickelt Projekte für eigene Formationen wie bspw. das Berliner Kollektiv Radial, zusammen mit der Videokünstlerin Mio Chareteau.

„Musikmachen sehe ich als mehrere Prozesse. Der erste ist das ‚Denken‘ von Musik, also das Komponieren, dann die Übermittlung an jemanden, der die Musik realisiert, und zuletzt das Aufführen für ein Publikum: mich faszinieren alle diese Prozesse“, meint Babel.

Alle seine Tätigkeiten verbindet das Zusammendenken von Kreation und Interpretation und auch ein Interesse am Visuellen, am Raum und am Performativen.

 

“Was möchte ich sehen und was möchte ich hören..”

 

Komponieren beginnt für Babel immer mit einer Begegnung oder ist gar eine Begegnung. So entstehen Babels Kompositionen meistens konkret für Musikschaffende.

Die InterpretInnen hat er dabei immer vor Augen und lässt sich -nicht zuletzt- auch durch ihre Bewegungen, ihre Gesten beim Spiel inspirieren. Im Stück The way down für das Duo Orion bspw. ging Babel vom gemeinsamen Musizierens des Duos aus und inszenierte dieses akustisch und auch performativ.

 

Alexandre Babel, The way down pour violoncelle et piano, Duo Orion (Gilles Grimaître, piano, Elas Dorbath, Cello) 2020

 

 

«Am Anfang eines Projekts stelle ich mir die Frage: ‘Was möchte ich sehen und was möchte ich hören’: Das Visuelle ist für mich genauso wichtig wie das Klangliche. Das Duo Orion hat bspw. eine besondere Körperlichkeit beim Musizieren. Ich entwickelte für das Duo ein Stück, in dem die Gesten fast sportlich sind. Es entstand fast ein Tanz oder eine Choreografie», sagt Babel.

 

Kuratieren als permanenter Dialog

 

In idealer Weise seien seine drei Tätigkeiten, Komposition, Interpretation und Kuration in der künstlerischen Leitung des Festival les amplitudes (La-Chaux-de-Fonds, Herbst 2020) zusammengekommen, sagt Babel. „Ich hatte hier die Chance alle meine Aspekte innerhalb eines Objekts -das Festival und gleichzeitig die Stadt La Chaux-de-Fonds – zu verbinden: Ich dachte das Festival als eine Riesen-Komposition aus einzelnen Teilen – einer Kunstausstellung, Liveperformances, Drum Sets und Kompositionen für den Raum. Daraus bildete sich eine neue Einheit“.

Seit 2013 leitet Babel das Perkussionsensemble Eklekto Geneva Percussion Center. Es besteht aus zirka 20 MusikerInnen in loser Zusammensetzung. “Eklekto bietet für mich eine Gelegenheit, ungewöhnliche Perkussionssituationen zu entwickeln”. Alle Projekte entstehen in engem Austausch und Zusammenarbeit mit den Komponierenden und den MusikerInnen. “Kuratieren ist ein permanenter Dialog mit den beteiligten Musikschaffenden”.

 

Aufmerksames Hören

 

Pauline Olivero’s Stück Earth ears, ein sog ‘Sonic Ritual‘ von 1989 für freie Besetzung, sei charakteristisch für sein Verständnis von Kuratieren, meint Babel: „Die Musiker spielen nach dem Gehör. Es gibt keine geschriebene Partitur. Man muss sich selbst und auch dem ganzen Ensemble zuhören und darauf reagieren. Im Stück geht’s um Klang, um Raum und ums aufmerksame Zuhören: das ist für mich die Basis des Musikmachens”, sagt Babel.

 


Pauline Oliveros’ ‘Earth ears’, ein ‘Sonic Ritual’ und offen zu interpretierendes Stück von 1989, ist charakteristisch für Babels Ansatz des Kuratierens.

 

Wichtig ist für Babel zudem sein grosses Perkussionsensemble mit 15 Schlagzeugern aus dem Eklekto-Pool. „Wir haben klare Regeln: wir spielen auswendig und es wird nicht dirigiert: das Spielen ohne Leader schafft eine enorme Energie und Präsenz und eröffnet gleichzeitig neue Kommunikationswege, fast schon auf radikale Weise“.

 

Choeur mixte’ reflektiert das klassische Setting von Kammermusik und rückt zugleicht das oft unterschätzte klassische Orchester-instrument ‘kleine Trommel’ in ein neues solistisches Licht. Eine weitere Liebeserklärung an die kleine Trommel.

 

Im Stück ‘choeur mixte’ für 15 kleine Trommeln, spielen die Perkussionisten ihre Instrumente stehend, zu einem Keil formiert, im Lichtspot auf leerer Bühne. Sie agieren stark aufeinander bezogen: das Stück strahlt eine Kraft als Gruppe und gleichzeitig Eigenverantwortung der einzelnen InterpretInnen aus.

 

Musik ohne Klang

 

Aktuell arbeitet Babel u.a. an einem Kompositionsauftrag für die Kunstbiennale Venedig 2022. Zusammen mit der Schweiz-basierten franco-marokkanische Bildenden Künstlerin Latifa Echakhch gestaltet er den Schweizer Pavillon. Babel sieht sich dabei mit einer speziellen Herausforderung konfrontiert: Echakhch wünschte sich von Babel eine Komposition ohne realen Klang. „Das ist für mich eine wichtige und besondere Aufgabe: durch den gemeinsamen Kreationsprozess nähern wir uns Lösungen an, wie Musik ohne Klang klingen kann“, sagt Babel. Momentan entstehen dafür kurze Musikstücke, die die Basis bilden für die finale Musik der Stille.
Gabrielle Weber

 

Portrait Alexandre Babel ©Felix Brueggemann (2021)

 

Am Freitag, 17. September 2021, findet die feierliche Preisverleihung im Lugano Arte e Cultura (LAC) in Lugano statt. Am Wochenende treten einige der PreisträgerInnen im Rahmen des Longlake Festival Lugano auf.
Der diesjährige Grand Prix musique ging an Stephan Eicher. Die weiteren PreisträgerInnen: Alexandre Babel, Chiara Banchini, Yilian Canizares, Viviane Chassot, Tom Gabriel Fischer, Jürg Frey, Lionel Friedli, Louis Jucker, Christine Lauterburg, Roland Moser, Roli Mosimann, Conrad Steinmann, Manuel Troller, Nils Wogram.

 

Konzerte Alexandre Babel:
Sonntag, 19.9.21, 10:30h Studio Foce, LAC:
Alexandre Babel e Niton +ROM visuals

23.4.-27.11.2022 Biennale Arte Venezia:
Alexandre Babel & Latifa Echakhch @Swiss Pavillon

Joke Lanz, Joey BaronJeff Hirshfield, Pauline Oliveros, Biennale Arte 2022, John Cage, Morton Feldman, Alvin Lucier, Heiner Goebbels, Helmut Lachenmann, Latifa EchakhchKollektiv Radial, Mio Chareteau, Elsa Dorbath

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
in: Musikmagazin, 18./19.9.21: Alexandre Babel – Träger BAK-Musikpreis 2021 im Gespräch mit Gabrielle Weber, Redaktion Annelis Berger

Musik unserer Zeit, 16.6.21: Alexandre Babel – Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber

neoblog, 14.10.2020: La ville – une composition géante, Text Anya Leveillé

 

Neo-Profiles:
Alexandre Babel, Les amplitudes, Eklekto Geneva Percussion Center, Duo Orion, Gilles Grimaître

 

 

Hyper Hyper!

Gabrielle Weber
Hyper Hyper!? Hyper Duo beherrscht die Kunst des Steigerns bis zum Exzess. Das Duo mit dem Pianisten Gilles Grimaitre und dem Schlagzeuger Julien Mégroz setzt konsequent auf Energie, Rhythmus und Satire. Grenzen scheint es für sie keine zu geben, weder zwischen Musikstilen noch Aufführungskontexten. Spielerisch und humorvoll unterwandert Hyper Duo gängige Vorstellungen und bewegt sich dabei zwischen klassischer Avantgarde und Pop-Rock. Im Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel- kommt nun das neue Programm Hyper Grid zur Uraufführung.

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 07 octobre 2020. HyperDuo, séance vinyl 01

 

Die beiden Romands bezeichnen ihr Hyper Duo als ‚experimentelle Band‘. Julien Mégroz stammt aus Lausanne und spezialisierte sich nach dem dortigen Studium in Basel an der FHNW auf zeitgenössische Musik. Gilles Grimaitre kommt aus Genf, studierte an der HKB in Bern und war anschliessend Stipendiat der internationalen Ensemble Moderne Akademie in Frankfurt. Beide bezeichnen sich auch als Performer, Improvisatoren, Komponisten oder Projekterfinder.

Stil- und Genre-Grenzen zu überwinden und den Horizont zu erweitern ist das Zentrale ihres Duos, immer auch in enger Zusammenarbeit mit weiteren Kunst- und Musikschaffenden. Energiegeladen und humorvoll bewegt sich Hyper Duo zwischen traditioneller Komposition aus der klassischen Avantgarde, rockiger Elektro-Energie und absurder Poesie. Inspiration und einen Fundus an Werken beziehen sie dabei gleichermassen aus der E- und der U-Musik.

Neue Stücke für Ihre Besetzung und Klassiker der Moderne, ergänzt mit experimenteller Elektronik, Video oder auch Objekten, bilden den musikalischen Kern.  Die Kompositionen stammen von sinnesverwandten Musikschaffenden oder auch von ihnen selbst.

Bereits mehrere Hyper-Programme belegen den unkonventionellen Zugang zum traditionellen Konzertformat. Sie tragen Titel wie Hyper Cut, Hyper Stuck, Hyper Fuzz oder Hyper Rift.

 


Hyper Rift, Trailer ©Musikfestival Bern 2020

 

Hyper Rift bspw. war eine durch seismographische Daten gesteuerte Licht- und Soundinstallation am Musikfestival Bern 2020. Im Innenraum der Monbijoubrücke machte das Duo in einer Liveperformance zusammen mit dem Videokünstler Pascal Meury tektonische Verschiebungen hör- und erfahrbar. Dabei reizte es mit Perkussion und Synthesizer auch das gerade noch erträgliche Lautstärkenlimit aus.

In Hyper Temper, einem Trioprogramm mit dem Perkussionisten Miguel Angel Garcia Martin, hinterfragten die beiden das Instrument Konzertflügel auf seine Rolle im Musikbetrieb, der Musikgeschichte, aber auch als Objekt im Alltag. Im ‘pièce d’ameublement‘ von Cathy van Eck wurde er zum Zierpflanzen-tragenden Möbel und damit zum Sinnbild für bürgerliches Wohnen im 19.Jahrhundert.


E- und U-Musik zusammenführen

In Hyper Grid nun treten die beiden wieder an ihren Kerninstrumenten – verstärktem Klavier, Drumset und Elektronik – auf und knüpfen dabei an die Vorgängerprojekte Hyper Fuzz und Hyper Cut an.

Hyper Cut ergänzte Drumset, Klavier und Elektronik humorvoll mit Video, Stimme und Objekten in neuen Werken von u.a. Simon Steen-Andersen, Sarah Nemtsov oder Wolfgang Heiniger.

 


Hyper Duo: Hyper Cut, Simon Steen-Andersen, difficulties putting it into practice, Video ©Hyper Duo

 

Das Projekt Hyper Fuzz hingegen verband neue, explizit groovige Stücke und Klassiker der Moderne mit Bezug zu Pop, Rock und Jazz, ergänzt mit elektronischen Interludes vom jungen Schweizer Klangerfinder Cyrill Lim. Da hörte man Werke von Frank Zappa, der selbst in ästhetischen Gesamtprojekten E- und U-Musik zusammenführte, neben Musik von Stockhausen oder dem jungen Lausanner Komponisten Nicolas von Ritter. Das Programm kam sowohl in klassischen Konzertsälen und -festivals als auch in Rock- und Jazzclubs zur Aufführung.

 


Hyper Duo / Hyper Fuzz @Taktlos Festival Zürich 2018, Video ©Hyper Duo

 

 

Im neuen Projekt vertieft Hyper Duo die Zusammenarbeit mit zwei Musikschaffenden.

Der serbische Komponist Marko Nikodijevic wirkt in seiner Uraufführung grid/index [ I ] für das Hyper Duo selbst an der Elektronik mit. Nikodijevic arbeitet in seinen Stücken gern mit der Fusion von traditionellen Instrumenten mit digitalen Klängen und setzt Verfahren aus Techno und Pop ein. Grid / index [ I ] geht auf ein gleichnamiges Werk des Künstler Carsten Nicolai zurück, eine riesige Sammlung an Zeichnungen zweidimensionaler Gitter und Muster. Nikodijevic übersetzt die Referenz in einfache rhythmische und melodische Muster, die an den sogenannten ‘Minimal-Techno’ der 90er Jahre erinnern.

 

Portrait Kevin Juillerat © zVg Kevin Juillerat

 

 

Kevin Juillerat, Komponist aus Lausanne, bezieht sich in seinem Werk L’Être-On auf Nikodijevic. Sein Stück basiert auf einem Text des surrealen Dichters Antonin Artaud aus einer von ihm in den 40er Jahren selbst produzierten Radiosendung. Juillerat untersucht darin die Analogie zwischen Poesie und Klang und schafft ein rhythmisches, Elektronik-versehenes, halbstündiges ‘Mini-Oratorium’.

 


Kevin Juillerat, le vent d’orages lointains, for piano and strings, UA 2018

 

Experimentell sind sie unterwegs, die zwei Romands, und subversiv witzig, aber auch musikalisch-poetisch sind ihre Programme allemal. Davon kann man sich in ihren zahlreichen Videos überzeugen. Ob Hyper Hyper noch gesteigert werden kann, davon überzeugt man sich am besten live im neuen Programm Hyper Grid, am 2.6. im Gare du Nord und ab November an weiteren Orten. Zumal nun nach so langer Zeit wieder live Konzerte möglich sind.
Gabrielle Weber

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 21 novembre 2020. HyperDuo, séance vinyl 02

 

Der Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel lädt in Fokus Romandie über drei Saisons Ensembles aus der Romandie ein. Hyper Grid ist das dritte und letzte Romandie-Programm dieser ersten Saison.

Im Programm kommen die neuen Werke «L’Être-On» für verstärktes Klavier, Schlagzeug, Stimme und Effekt-Pedale von Kevin Juillerat sowie «grid/index [ I ]» für Drumset, Klavier und Electronica von Marko Nikodijevic zur Uraufführung.

Concerts
2.6. 21 Gare du Nord Basel
4.11.21 IGNM Zürich
17.12.21 Salle Farel, Bienne

Indigne de nous , das erste Studioalbum von Hyper Duo wird am 5. Juni 2021 bei Everest Records veröffentlicht.

Marko Nikodijevic, Frank Zappa, Karlheinz Stockhausen, Carsten Nicolai, Antonin Artaud, Sarah Nemtsov, Wolfgang HeinigerMiguel Angel Garcia Martin

 

neo-Profiles:
HYPER DUOKevin Juillerat, Gilles Grimaitre, Julien Mégroz, Cathy van Eck, Simon Steen-Andersen, Cyrill Lim, Nicolas von Ritter, Gare du Nord

“..spielen bis wir umfallen..”

 

Portrait Urs Peter Schneider ©Aart-Version lagr

Im Rahmen von Focus Contemporary feiert das Musikpodium der Stadt Zürich  den 80. Geburtstag von Urs Peter Schneider.
Hommage an ein ‘querköpfiges Unikat’ von Thomas Meyer:

Die 60er Jahre waren eine höchst bewegte Zeit für die Musik. Die Formen lösten sich auf. Konzepte, Happenings, Performances, Aleatorik und Improvisation traten an die Stelle fix auskomponierter Werke. Während bald jedoch viele wieder zum althergebrachten Handwerk zurückkehrten, verschrieb sich eine Gruppe hierzulande hartnäckig dieser Offenheit: das Ensemble Neue Horizonte Bern, gegründet 1968 und bis heute unverdrossen bestehend. «Wir werden», so sagte ein Ensemblemitglied einmal im Gespräch, «spielen, bis wir umfallen.» Ohne sie gäbe es wohl keine Cage-Tradition in der Schweiz und auch wenig Konzeptmusik auf enger Flur.

Ensemble Neue Horizonte Bern

Schweizer Cage-Tradition

In diesem Kollektiv aus KomponistInnen und InterpretInnen nimmt einer seit Beginn die besondere Position des Spiritus rector ein: Urs Peter Schneider, der heuer seinen Achtzigsten feiert, geboren in Bern, heute in Biel lebend und fröhlich weiter schaffend mit Kompositionen, Texten, Gebilden und Konzepten. Ihm zu Ehren veranstaltet das Musikpodium Zürich im Rahmen von Focus Contemporary ein Konzert: Dominik Blum spielt Klavierstücke von ihm, vom Neue-Horizonte-Kollegen Peter Streiff sowie von Hermann Meier, für dessen fast vergessenes Werk sich Schneider nachhaltig eingesetzt hat. Ausserdem singt der Chor vokativ zürich neben dem „Chorbuch“ von 1977 die neuen „Engelszungenreden“. Der Titel verweist darauf, dass Schneiders Musik auch gern ins Spirituelle hinaufgreift.


Hermann Meier, Klavierstück für Urs Peter Schneider, HMV 99, 1987

Komponist/Pianist/Interpret/Performer/Pädagoge in einem, ist Schneider eines dieser querköpfigen Unikate, wie es sie gerade auch in der Schweiz nicht selten gibt. Seine Musik zu beschreiben ist nicht leicht, weil sie so vielfältig sein kann, denn häufig ändert er die Verfahrensweise. Schneider arbeitet gern mit Strategien. Im Kern folgt er dabei jenen seriellen Techniken, in denen seine Musik ihre Wurzeln hat. So tüftelt er oft lange und gründlichst an den Permutationen von Tönen, Instrumenten, Lautstärken etc., bis sie endlich aufgehen. Und er entwickelt dafür eine sehr eigene, radikale Beharrlichkeitsgestik.


Urs Peter Schneider, ‘Getrost, ein leiser Abschied’ für zwei Traversflöten und Bassblockflöte, 2015

Radikale Beharrlichkeitsgestik

Es bleibt allerdings nicht bei den Tönen. Vielmehr wendet er solche Strategien auch auf Worte an, auf Graphiken und theatralische Handlungen, ja irgendwie auf alles, was sein Schaffen umgibt, bis hin zu den Datierungen, Widmungen. Auch die Konzertprogramme sind – eine wichtige Qualität überhaupt der Neuen Horizonte – komponiert. „Die Bestandteile einer Darbietung relativieren, ergänzen, kommentieren sich gegenseitig in ausgeklügelter Weise.“ Ebenso fügt er, wenn er Bücher oder CDs herausgibt, seine Stücke nicht einfach lose aneinander, sondern stellt aus dem gesamten Schaffen eine neue Konstellation her. Denn dieser Stratege ist besessen davon, Ordnungen herzustellen.

Urs Peter Schneider: meridian-1-atemwende ©aart-verlag

Alles wird dabei gedreht und gewendet. Ständig entdeckt/erfindet er neue Verfahren. Er ist eigentlich ein Verfahrenskomponist und damit der konzeptuellen Musik sehr nahe. Dieser Gattung widmete er 2016 das Buch «Konzeptuelle Musik – Eine kommentierte Anthologie», ein exemplarisches und unverzichtbares Kompendium.

Die Spontaneität dieser offenen Formen wirkt wohl auch als Korrektiv zur Strenge. Zuweilen könnte ja in diesen Verfahrensweisen die Lebendigkeit und Biegsamkeit verloren gehen und die Ordnung in sich selber versanden. Doch gerade dann geschieht oft Überraschendes. Denn die Werke Schneiders kennen Witz, ja Heiterkeit. Zuweilen an ungewohnter Stelle, gelegentlich mit wohltuender Selbstironie.
Thomas Meyer

Hermann Meier, Stück für grosses Orchester und drei Klaviere, 1964, HMV 60 ©Privatbesitz

Das Festival Focus Contemporary Zürich findet vom 27. November bis zum 1. Dezember statt: In fünf Konzerten präsentieren die Zürcher Veranstalter Tonhalle Zürich, Collegium Novum Zürich, Zürcher Hochschule der Künste und Musikpodium Zürich gemeinsam eine Auswahl zwischen jungem experimentellem Musikschaffen und Altmeistern, an Orten wie der Tonhalle Maag, dem ZKO-Haus oder dem Musikclub Mehrspur der ZHdK.

Focus Contemporary Zürich, 27. 11.- 1. 12, Konzerte:
27.11., 20h ZHdK, Musikklub Mehrspur: Y-Band: Werke von Matthieu Shlomowitz, Alexander Schubert
28.11., 19:30h Musikpodium Zürich, ZKO-Haus: Urs Peter Schneider zum Achtzigsten: Werke von Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Peter Streiff
29.11., 19:30h Tonhalle Orchester, Tonhalle Maag: Heinz Holliger zum Achtzigsten: Werke von Heinz Holliger und Bernd Alois Zimmermann
30.11., 20h Collegium Novum Zürich, Tonhalle Maag: Werke von Sergej Newski (UA), Heinz Holliger, Isabel Mundry und Mark Andre
1. 12., 11h ZHdK, Studierende der ZHdK: Werke von Heinz Holliger, Mauro Hertig, Karin Wetzel, Micha Seidenberg, Stephanie Haensler

Musikpodium ZürichAart-Verlag

Neo-profilesZürcher Hochschule der Künste, Collegium Novum Zürich, Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Heinz HolligerPeter Streiff, Stephanie Haensler, Karin Wetzel, Gilles GrimaitreDominik Blum