Durch Musik eins werden mit der Natur

Toshio Hosokawa ist der bekannteste japanische Komponist und diese Saison Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Hosokawa verbindet in seiner Tonsprache die westliche neue Musik mit traditioneller japanischer Musik. Moritz Weber unterhielt sich mit dem Komponisten.

 

Moritz Weber
Vor drei Jahren komponierte Toshio Hosokawa im Auftrag des Pianisten Rudolf Buchbinder eine Variation über den berühmten Walzer von Diabelli in C-Dur, über welchen einst Beethoven seine monumentalen 33 Veränderungen komponiert hatte. «Ich liebe Klavierklänge», sagt Hosokawa im Gespräch, «aber in diesem Walzer hat es sehr viele Töne». Seine Variation klingt denn auch wie in Zeitlupe, er lässt einzelnen Tönen viel Zeit, um sich zu entfalten. Wegen des langsamen Tempos sei das Stück typisch für ihn, sagt der japanische Komponist, und sogar die tonalen Elemente passten zu seiner Musiksprache, denn in den letzten 2 bis 3 Jahren habe er sich wieder mehr für tonale Musik interessiert, «und ich möchte in Zukunft auch tonale Musik komponieren.»

 

Über das Studium in Deutschland zur traditionellen japanischen Musik

Zu seiner eigenen Klangsprache, die fernöstliche und westliche Ästhetik verbindet, fand er über einen Umweg. «Meine Familie war sehr japanisch», sagt er. Mit einem Ikebana-Meister als Grossvater, der auch Nō-Gesang und die Teezermonie liebte, und einer Mutter, die immer Koto spielte, war ihm das dann doch etwas «zu viel». Für ihn waren die traditionellen japanischen Künste damals altmodisch, «langweilig» gar.

Da er sich als Klavierstudent insbesondere für das klassisch-romantische Repertoire begeisterte, wie für die späten Klaviersonaten von Beethoven, ging Hosokawa nach Deutschland, um bei Isang Yun (in Berlin) und Klaus Huber (in Freiburg i. B.) Komposition zu studieren.

 


Klaus Huber, Kompositionsprofessor von Toshio Hosokawa mit seinem fernöstlich inspirierten Stück Plainte – Lieber spaltet mein Herz, Contrechamps 2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Am Meta-Musikfestival im Berlin der 1970er-Jahre wurde neue Musik aus Europa mit traditioneller Musik aus aller Welt kombiniert. György Ligeti mit indonesischer Gamelanmusik, Karlheinz Stockhausens Mantra mit Tempelmusik aus Japan. Dort hörte und erlebte Hosokawa von Europa aus die Musik seiner Heimat ganz anders und entdeckte ihre Schönheit. Gemischt mit Heimweh und dank der Ermunterung seiner Lehrer begann Hosokawa in seinem Stil die fernöstliche Klangsprache und Philosophie mit der europäischen zu verschmelzen.

 

Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik

Ein wichtiger Unterschied zwischen europäischer und japanischer Musik sei, dass letztere keine absolute Musik sei, sondern immer als Atmosphäre oder Hintergrund für bestimmte Ereignisse wie Zeremonien oder Tänze. Sie sei an einen Ort gebunden. Die europäische Musik hingegen sei eine Architektur, die an den unterschiedlichsten Orten gespielt werden könne, so wie man eine Skulptur oder ein Gemälde irgendwo hin transportieren kann, so Hosokawa.

 

Portrait Toshio Hosokawa © KazIshikawa zVg. Tonhalle-Orchester Zürich

 

«In der japanischen Musiktradition ist der Einzelton sehr wichtig. Ich sage immer, unsere Musik sei eine Kaligraphie in Zeit und Raum, und eine musikalische Linie ist wie ein Pinselstrich, mit Anfang und Ende». Die Töne seien vertikale Ereignisse, wie ein kalligraphischer Pinselstrich auf einem weissen Papier. Ganz im Gegensatz zu den zu Motiven verbundenen Tongruppen der westlichen Musik, z.B. das berühmte «ta-ta-ta-taaaaaa» aus Beethovens 5. Sinfonie, singt Hosokawa vor.

 

Nō-Theater und Gagaku-Musik

«In den Stücken des traditionellen japanischen Nō-Theaters aus dem 12. oder 13. Jahrhundert geht es um Seelenheilung, und dieser Gedanke ist auch sehr wichtig für mich», sagt Hosokawa: «Die Verstorbenen kommen zurück, erzählen vom Jenseits, heilen ihre Seelen durch Tanz und Gesang und kehren dann zurück ins Reich der Toten». Musikalisch ist der «Kalligraphie-Gesang» prägend, wie auch das Schlagzeug: Heftige Schläge, welche die Zeit quasi vertikal durchschneiden. Es werden nicht grosse horizontale Räume eröffnet, sondern die Impulse sind für sich selbst Ereignisse. Darauf weise er auch immer hin, wenn er mit Musiker:innen an seinen Stücken arbeite, wie diese Saison als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. «Diese heftigen vertikalen Einschnitte, sie sind stärker als normale Einsätze, auch die plötzlichen Änderungen in der Dynamik. Ich sage immer: Denken sie beim Spielen, sie malen eine Kalligraphie. Denken sie nicht zu formal, sondern dass jeder Moment ein wichtigster Moment ist, jeder Moment eine Ewigkeit.»

 

 


Toshio Hosokawa, Ferne Landschaft III – Seascapes of Fukuyama (1996), Basel Sinfonietta, Dirigent Baldur Brönnimann 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hosokawa gefallen auch die mikrotonalen Färbungen, welche bei der Gestaltung von Tönen im Nō-Theater wichtig sind. «Um die Zentraltöne herum gibt es immer kleine Veränderungen, und diese möchte ich hören, denn sie machen die Töne lebendig». Auch hier singt er im Interview einen langgezogenen Ton vor und zeichnet dazu mit der Hand in der Luft den Tonverlauf nach.

 

Der Mutterakkord der Shô

Die etwa 500 Jahre ältere und ursprünglich aus China und Korea stammende japanischen Gagaku-Musik ist eine zeremonielle Hofmusik. Der Klang der japanischen Mundorgel Shô ist hier omnipräsent. Er symbolisiert im Hintergrund die Ewigkeit, während darüber Melodieinstrumente wie Hichiriki oder die Drachenflöte Ryūteki klangliche Kalligraphien «zeichnen».

Mit der Shô sei es auch möglich, den Atem und kreisende Zeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Hosokawa nennt das den «Mutterakkord», und er hat diverse Stücke für oder mit Shô geschrieben. Auch diese Kreisläufe seien für ihn sehr wichtig, wie auch der Gedanke, dass Gagaku eher eine kosmische Musik ist als eine menschlich-emotionale.

 

Naturkatastrophen als Opernstoff

Toshio Hosokawa ist mit seiner einzigartigen Tonsprache und seinen Kompositionen in allen Gattungen weltberühmt geworden. Viele seiner Werke drehen sich um Naturkatastrophen wie um das verheerende Tohoku-Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima. «Mein Ziel ist es, durch Musik und durchs Komponieren eins zu werden mit der Natur. Eigentlich ist die japanische Natur sehr schön mit ihren Jahreszeiten, aber sie ist nicht immer freundlich zu den Menschen. Diese Tatsache habe ich erfahren als der Tsunami kam, und ich begann, ganz anders über Natur nachzudenken. Mit meiner vierten Oper Stilles Meer wollte ich ein Klagelied für die Opfer dieses einschneidenden Ereignisses oder ein Requiem für die Toten schreiben.» Nicht nur die Urgewalt hat Hosokawa darin auskomponiert, sondern die schrecklichen Bilder des Verlusts, wie Kinderschuhe oder Spielzeug, welche in den Überschwemmungsgebieten treiben.

 


Toshio Hosokawa, die Oper Stilles Meer ist für Toshio Hosokawa ein Klagelied an die Opfer des Tsunami von 2011, UA Staatsoper Hamburg 2016

 

 

Momentan komponiert Hosokawa seine sechste Oper, auch sie wird sich wieder um Naturkatastrophen drehen. Eine junges Paar, ein Japaner und ein Flüchtling aus der Ukraine, besucht darin verwüstete Orte, verschiedene «Höllen» im Sinne von Dantes Inferno, wo sie die Auswirkungen der Naturkatastrophen sehen, so Hosokawa. Die Oper soll in der Spielzeit 2025/26 uraufgeführt werden.

 

Innere und äussere Ruhe

Um seine innere Ruhe zu finden, geht Hosokawa gerne in den Wald oder ans Meer in der Nähe seines Wohnortes in Nagano. Er meditiert auch täglich, still sitzend und nichts tuend für ein paar Minuten. Eine Kraftquelle für seine kontemplative Zustandsmusik, welche durchsetzt ist von eruptiven Ausbrüchen.

Seine Musik soll auch für das Publikum ein Ort der Kontemplation sein, ein Ort des Gebets. «In Japan gibt es sehr viele geschnitzte Holzstatuen von anonymen Künstler:innen, bei welchen die Menschen beten. Ich möchte, dass meine Musik eine ähnliche Bedeutung hat. Sie kann die Menschen vielleicht nicht retten, aber irgendwie schützen.»

Die Spiritualität spielt auch in seinen jüngsten Werken eine Rolle: Ceremony für Flöte und Orchester (UA 2022) und Prayer für Violine und Orchester (UA 2023).

 

Das Soloinstrument sei auch in diesen beiden Stücken wie ein Schamane, ein Vermittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits, so Hosokawa, er empfange und höre die Urkraft Ki (気). «Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Komponieren, nicht als ein Ausdruck eines Menschen oder seines Egos, sondern als Empfangen von dem, was schon da ist; die Urkraft der Klänge, den bald lieblichen, bald dramatischen Fluss der Töne. «Das Orchester repräsentiert dabei die Natur. Diese ist also in und um das Soloinstrument bzw. den Schamanen. Er kommuniziert mit ihr, trägt Konflikte aus, und soll zum Schluss zu einer Harmonie mit ihr findet».

Hosokawa sieht sich als ein Vertoner dieser Urkraft, und sagt: «auch ich möchte ein Schamane werden» – wenn er es nicht schon ist.

Wenn er mit Orchestern oder Musiker:innen seine Werke einstudiert, wie jetzt während seiner Zeit als Creative Chair des Tonhalle Orchesters Zürich, sei es vor allem das Zeitgefühl, woran man manchmal etwas mehr arbeiten müsse.
Moritz Weber

Tonhalle-Orchester Zürich: Toshio Hosokawa, Creative Chair, Saison 2022/23
Konzerte: Sonntag, 26.3. Kammermusik
Mittwoch, 29.3.23: Meditation to the victims of Tsunami für Orchester.

 

Rudolf Buchbinder, Isang Yun, Klaus Huber, Shô, Hichiriki, Ryūteki, Gamelan, Karlheinz Stockhausen, Gagaku, György Ligeti, Koto, Metamusikfestival Berlin

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 22.3.23, 20h, 25.3.23, 21h: Musikschamane und Vertoner der Urkraft, Autor Moritz Weber

Neo-Profile:
Toshio Hosokawa, Tonhalle-Orchester Zürich, Klaus Huber

 

Grösstmögliche Freiheit – Ligetis Atmosphères neu interpretiert

«Tuns contemporans», Biennale für Neue Musik Graubünden, findet vom 29.3. bis zum 2.4. zum dritten Mal statt. Mit Motto «100 Jahre Ligeti» beleuchtet es den wegweisenden Komponisten auch aus heutiger Sicht. Atmosphères, Ligetis monumentales Orchesterwerk bekannt aus Kubriks «Space Odyssee 2001», kommt im Theater Chur als raumumspannende Klanginstallation zur Neuinterpretation. Ein Gespräch mit Martina Mutzner, Initiatorin und künstlerische Leiterin des Projekts.

 

28. Mai 2023: 100. Geburtstag György Ligeti

Gyoergy Ligeti, Februar 1992 Stadttheater Bern ©Alessandro della Valle

 

Gabrielle Weber
Wenn ein Schlüsselwerk der musikalischen Avantgarde unerwartet grosse Verbreitung fand, dann sicherlich Atmosphères von György Ligeti. Stanley Kubriks Weltraumepos «Space Odyssee 2001» von 1968 trug dazu bei, dass Ligetis eindrückliches Orchesterwerk, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 1961, weltweit berühmt ist: im Film begleitet es eine fast zehnminütige Kamerafahrt durch abstrakt-verfliessende Weltraum-Farbfelder, die zum Fortschrittlichsten gehören, was 1968 an Kamera- und Tricktechnik möglich war. Oder war es umgekehrt: begleitet das Bild die Musik?

 

Klangfarbenflächenkomposition

 

Atmosphères, Ligetis mikropolyphones 87-stimmiges Orchesterwerk verschaffte ihm bereits davor in Fachkreisen den grossen Durchbruch. Sein neuer kompositorischer Ansatz, bei dem Klangfarben und -flächen strukturelle Elemente ablösen, wurde mit Begeisterung aufgenommen: bei der Uraufführung in Donaueschingen wurde es auf Wunsch des Publikums gleich zweimal gespielt. Mit Kubrik hingegen stand Ligeti jahrelang im Rechtsstreit, da dieser Atmosphèreszunächst ohne den Komponisten anzufragen und ohne ihn zu entgelten verwendete.

 


György Ligeti, Atmosphères, Sinfonieorchester Basel, 2015, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Das Churer Vermittlungsprojekt nimmt die Idee des Komponierens mit Klangfarbenflächen wie auch den Bekanntheitsgrad des Werks zum Ausgangspunkt. In einer immersiven partizipativen Konzert-klanginstallation ersteht Ligetis Atmosphères neu, interpretiert durch 81 Stimmgruppen: über ein halbes Jahr entwickelten Schulklassen, semiprofessionelle Musiker:innen und Laien, die Mitglieder zwischen 7 und 77 Jahren alt, ihre eigenen Klangflächen. In Workshops, begleitet von Musiker:innen des Churer ensemble ö! und der Kammerphilharmonie Graubünden, entstanden so die einzelnen Schichten eines grossen Gesamtklangs.

In diesen kann man nun während des ganzen Festivals im Innenbereich des Theaters Chur, übertragen über ein Lautsprechersystem und eingebettet in eine Lichtszenografie à la Kubrik, eintauchen.

 

Apparitions für Orchester (1958/59) ist eines der ersten Werke, in denen György Ligeti mit Klangflächen komponierte, Aufnahme mit der Basel Sinfonietta unter Johannes Kalitzke, 2003, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ligetis Idee der grösstmöglichen kompositorischen Freiheit habe den Ausschlag zur Wahl dieses Vermittlungsprojekts gegeben, so Martina Mutzner, die Projektverantwortliche.

«György Ligeti hat mit Atmosphères ein Stück geschrieben, das sich gegen die damals gängigen Kompositionsdogmen wendete. Atmosphères steht stellvertretend für einen freigeistigen Umgang mit künstlerischem Material und im übertragenen Sinne auch mit dem Menschen“. Es gebe kein richtig oder falsch. Deshalb sei es so geeignet für ein partizipatives Projekt mit Laien-Musiker:innen.

 

Inventarisieren und Botanisieren

Sie seien einen „umgekehrten Weg gegangen“. Zuerst hätten sie, inspiriert von Atmosphères, improvisiert, Klänge entwickelt und aufgezeichnet. «Wir sammelten die Klangflächen. Es war wie ein Inventarisieren oder Botanisieren“, meint Mutzner. David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter der Biennale, erstellte dann aus den Einspielungen Partituren für Instrumentalparts. Flöten-, Harfen- und Streichergruppen ergänzen nun die vokalen und geräuschhaften Klangflächen zu den vorgegebenen 87-Stimmen Ligetis.

Entstanden ist eine kompositorische Assoziation zu Ligetis Klangflächenkomposition im weitesten Sinne, und damit etwas komplett Neues: dies passe zum Konzept der Biennale mit Ligeti im Zentrum, der mit Mentorinnen und Schülerinnen in Beziehung gesetzt werde. An den vier grossen Konzerten im Theater Chur stehen u.a. Werke von Béla Bartók und Sándor Veress, Komponisten die Ligeti prägten, aber auch von Detlef Müller-Siemens, Michael Jarrell oder Alberto Posadas, die er wiederum prägte, sowie Uraufführungen im Dialog mit Ligetis Oeuvre.

 

Michael Jarrell, music for a while pour orchestre 1995, ensemble contrechamps, Dirigent Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ihre Leidenschaft für Neue Musik und deren Vermittlung bringt Mutzner ins Projekt ein: „Atmosphères wählten wir auch, da es durch Stanley Kubricks Space Odyssey Eingang in die Populärkultur gefunden hat. Viele Leute haben es schon gehört, aber wissen nicht, was es ist.“ Von den Mitwirkenden und auch den Ensembleleitenden, hätten einige noch kaum mit zeitgenössischer Musik zu tun gehabt. „Die Aufnahmen klangen schlussendlich so, als würden sie regelmässig in einem Ensemble für zeitgenössische Musik proben. Die Musizierenden waren in diesem vielbeschworenen Flow, und das überträgt sich auf die Zuhörenden“, so Mutzner.

Konsequente Öffnung von Neuer Musik

Die konsequente Öffnung von Neuer Musik für ein breiteres Publikum ist generelles Anliegen der Churer Biennale. Fanden die Konzerte pandemiebedingt 2021 nur online statt, so wird auch diese Ausgabe gesamthaft online live-gestreamt. Zudem setzt sich die «tuns contemporans» auch nachhaltig für eine ausgewogenere Gendermischung im Klassikbetrieb und für eine Erneuerung des Orchesterrepertoires ein: 2021 fand erstmals ein «Call for Scores for ladies only!» statt, aus dem drei Uraufführungen von Komponistinnen hervorgingen. Auch diese Ausgabe kommen drei neue Stücke zur Uraufführung. Gewählt wurden aus 78 eingereichten Werken Los tiempos del alma für kleines Ensemble der kürzlich verstorbenen jungen argentinischen Komponistin Patricia Martinez (*1973-2022), von Areum Lee (*1989) aus Korea leer für grosses Ensemble und la via isoscele della sera für Streichorchester der Italienerin Caterina di Cecca (*1984).

 

Oscar Bianchi, Contingency für Ensemble (2017), aufgezeichnet mit dem Ensemble der Lucerne Festival Alumni, dirigiert von Baldur Brönnimann, 2020, Eigenproduktion SRG SSR.

 

Die Zusammenarbeit mit dem Orchestra della Svizzera Italiana im Konzert am Samstagabend – u.a. kommt von Oscar Bianchi Exordium von 2015 zur Aufführung – und die Verpflichtung von Mario Venzago als Gastdirigent oder das Abschlusskonzert mit dem Ensemble Vocal Origen, im roten Turm zuoberst auf dem Julierpass, garantieren dieser dritten Festivalausgabe Synergien und eine Öffnung der Neuen Musik über das Lokale hinaus.
Gabrielle Weber

 

Roter Turm auf dem Julierpass © Benjamin Hofer

 

Tuns contemporans – Biennale für Neue Musik Graubünden 2023
Atmosphères: partizipatives generationenübergreifendes Konzertprojekt: Teilnehmende –Profimusiker*innen, passionierte semiprofessionelle Musiker*innen, Musikschüler*innen und begeisterte Laien

 

György Ligeti, Detlev Müller-Siemens, Alberto Posadas, Béla Bartók, Sándor Veress, Origen Festival Cultural, Mario Venzago, Caterina di Cecca, Areum Lee, Patricia Martinez, Martina Mutzner: Musiksalon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 24.5.2023: György Ligeti 100: Autor Michael Kunkel
neoblog, 7.4.2021: tuns contemporans 2021 – Graubünden trifft Welt, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
György Ligeti, tuns contemporans, Ensemble ö!, Kammerphilharmonie Graubünden, David Sontòn Caflisch, Oscar Bianchi, Michael Jarrell, Ensemble Vocal Origen

Yello – Gesamt-Kunstprojekt erhält Grand Prix Musik 2022

Yello – das legendäre Schweizer Elektropop-Duo erhält den Schweizer Grand Prix Musik 2022. Seit mehr als vierzig Jahren und 14 gemeinsamen Alben strahlt das Duo aus Boris Blank, dem Klangtüftler, und Dieter Meier, dem Frontmann mit sonoriger Stimme, von der Schweiz aus in die Welt.

 

Portrait Yello zVg. Yello ©Helen Sobiralski

 

Gabrielle Weber
Der rhythmisch-groovige Sound und Wortschöpfungen wie «Oh Yeah» oder «Claro que si» prägen eine ganze Generation in den Achtzigern Aufgewachsener. Und noch heute, vierzig Jahre später, nehmen Yellos Rhythmen, ihre Wort- und Bildkreationen ungebrochen ein. Und das, auch wenn sie sich scheinbar fast nicht veränderten – aber eben nur fast.

1981 – im Video zu The evening’s young formen sich tanzende bunte Leuchtstäbchen zum Schriftzug Yello. Ein Gesicht in Nahaufnahme -ein junger Mann: Boris Blank- von vorn, von der Seite, sein Ganzkörper im Schattenspiel, rasche Schnitte, verschiedene Perspektiven, starke Farben, dann Dieter Meier am Mikrofon, wechselnde monochrome Farben im Hintergrund. Alles wird übermalt, verfliesst und beginnt wieder von vorn. Überblendungen, Schnitte, Licht- und Farbspiel. Der Klang rhythmisch vielfältig, dazu Sprechgesang auf einer Tonhöhe. Ein audiovisuelles Kunstprodukt, das die Möglichkeiten des Mediums musikalisch und visuell experimentell ausschöpft aber nicht überfrachtet: einfach, spielerisch leicht, elegant, selbstbewusst und selbstironisch.

 


Yello: The young, Video 1981

 

So präsentiert sich Yello – und bleibt dabei – die Rollenverteilung konstant: Blank kreiert die Klanglandschaften aus Samples und rhythmischen Pattern, und Meier steht fürs Visuelle und die Stimme. Er sei Dilettant, habe nie etwas Artistisches gelernt, alles sei reiner Zufall, sagt Meier gern, und Blank wiederum bezeichnet sich als Klangmaler und versieht seine Samples liebevoll mit individuellen Namen.

Präsentiert sich das Video zu The evenings young noch hausgemacht, so ist das Video zu Bostich von 1984, dem Song, der Yello auf Vinyl-Maxisingle als „natural born hit“ zuoberst in die weltweiten Hitparaden katapultierte, etwas ausgefeilter: Blank und Meier sind wieder die Protagonisten, dazu kommen diesmal rhythmisch tanzende Geräte und Maschinenteile. Ganz leicht kommt es daher, mit einem touch von Underground.

 


Yelllo: Bostich, Video 1984

 

In die Achtziger fällt auch die Gründung von Music Television, MTV, in New York: mit seinen 50 regionalen Ablegern festigt der neue Verbreitungskanal zahlreiche Popkarrieren. Yellos audiovisueller Ausrichtung kommt das neue Medium ganz natürlich entgegen. Das Duo nutzt es zukunftsweisend nicht «nur» für Musikvideos, sondern spinnt dort auch gezielt humorvoll-subversiv skurrile Geschichten, wie bspw. in der Performance Dr. Van Steiner von 1994, wo Blank als Urwaldforscher, interviewt von Meier, seine Sounds vom unter dem Tisch versteckten Keyboard einspielt und mimisch imitiert.

 


Yello Video@MTV: Dr. Van Steiner, 1994

 

Die Videos sind Kult, umso mehr als sich Yello -im Gegensatz zu vielen anderen Bands- gezielt Live-Konzerten entzieht: nach wenigen frühen ersten Auftritten, noch im Trio mit Carlos Perón, Gründungsmitglied, in Zürich, und einem ersten legendären Auftritt 1984 im DJ-Club Roxy in New York, machte sich Yello bis 2016 rar: zum Album toy gab’s dann erst wieder Live-Gross-Auftritte im Berliner Kraftwerk zusammen mit einem Bläserensemble. Sie wurden zum ausverkauften Grosserfolg.

Dass Yello, auch durchs neue Medium, das Label Schweizer Export-Pop-Band erhält, wird dem Duo kaum gerecht. Denn Yello ist genauso sehr Kunstprojekt, das sich allen gängigen Kategorisierungen entzieht. Blank und Meier bewegen sich davor einzeln in experimentelleren Szenen. Meier in der Performancekunst: Mit absurden Aktionen zieht er in den siebziger Jahren in Zürich und New York oder 1972 an der Documenta in Kassel Aufmerksamkeit auf sich und vertritt die Schweiz 1971 im New Yorker Museum of Modern art an der Show Swiss Avantgarde. Die Subversion nimmt er ins Musikprojekt Yello mit. Blank, Elektronikpionier und Samplevirtuose, bewegt sich vor Yello im experimentellen Zürcher und Londoner Elektro-Underground und orientiert sich an Jazz-und Neue Musiklegenden wie John Coltrane, Pierre Boulez und György Ligeti. Den Innovationsgeist transportiert er in seine Yello-Klanggemälde, in die Meier sich mit seiner tiefen Stimme einklinkt.

 

Preise aus unterschiedlichen Ecken

Die Preise, die das Duo über die Jahre erhält, kommen folgerichtig aus unterschiedlichen Ecken, 1997 der Kunstpreis der Stadt Zürich, 2010 der Swiss music award für das Album touch yello, 2014 der Echopreis zu 35Jahren Yello, um nur ein paar zu nennen. Und im dicken Jubliäums-Printband „Oh Yeah!“, herausgegeben 2021 mit einfachem schwarz-weissen Cover in der Edition Patrick Frey, blickt Yello kunstvoll auf die gemeinsame 40jährige, musikalisch wie visuell durchkonzipierte Geschichte zurück.

In den Musikprojekten, die Blank und Meier parallel zu Yello verfolgen, leben die beiden weitere Seiten von sich aus. Meier setzt die Stimme in seiner 2012 gegründeten Band Out of chaos anders ein und entwickelt Stücke auch selbst, Blank integriert in seine eigenen Projekte weitere Stimmen und gräbt mit anderem Fokus in seiner reichen Soundlibrary. 2014 bspw. arbeitete er fürs Album Convergence eng mit der Sängerin Malia zusammen. Oder für Electrified im selben Jahr rezyklierte und digitalisierte er alte analoge Stücke aus der Prä-Yello-Ära für eine limitierte Special edition mit allen über die Jahre bespielten Formaten – Vinyl, DVD, CD, Kassette, in Kombination mit z.T. eigenen Videos. Mit den heutigen digitalen Tools experimentiert er genauso gern optisch wie auch akustisch.

Ausgeklügelte, eingängige Rhythmen und Soundscapes, verbunden mit knackigem Text und farbenfrohen, unaufwändig daherkommenden Visuals, zusammengemischt mit subversiver Ironie und leichter Eleganz. Diesen Ton, dieses Bild behalten Yello während 14 gemeinsamen Alben bei. Und sukzessive macht sich das Duo neue technische tools zu eigen und spielt mit den Mitteln der Digitalisierung.

 


Yello, Wabaduba, point, Video 2020

 

2020: In Wabaduba auf dem bislang letzten, dem 14. Album point, tanzen Meier und Blank synchron: nunmehr beide um die siebzig Jahre alt, in einfacher computeranimierter, an ihnen vorbeiziehender schwarz-weisser Sci-Fi-Grossstadtkulisse, Meier im Anzug und Blank im James Bond-schwarzen Rollkragenlook mit Sonnenbrille. Die Welt zieht vorbei – Meier und Blank bleiben – und überraschen uns immer wieder.

Zu der von Blank selbst entwickelten und erst vor ein paar Jahren lancierten App, Yellofire, mit der jeder und jede Yello-ähnliche Sounds generieren kann, meint Meier: «Damit gibt’s nun vielleicht Liveauftritte – wir haben ja noch zirka weitere 30 Jahre vor uns».

Sie sind cool und sie bleiben sich treu, die beiden Herren. Eine Marke, die sich sanft mit der Zeit verändert, alle medialen Entwicklungen gekonnt ausschöpft und dennoch immer unverkennbar bleibt: das macht Yello gegen alle Zeitströmungen bis heute zum Trendsetter und zum Gesamt-Kunstprojekt.
Gabrielle Weber

 

Portrait Yello zVg. Yello ©Helen Sobiralski

 

Auf den neo-Profilen von Yello und Boris Blank findet sich z.T. noch unveröffentlichtes Videomaterial, u.a. das Video The pick up zu Boris Blank: da wird Autobiografisches mit Sound- und Bildexperiment zur persönlichen Erzählung verwoben.

40Jahre Yello – Oh Yeah!: Ed. Patrick Frey; Boris Blank: Electrified 2014; Boris Blank&Malia: Convergence 2014; Malia; Dieter Meier: Out of chaos; Label Suisse, Carlos Perón

Grand Prix Musik: Yello
Weitere Schweizer Musikpreise:
L’Orchestre Tout Puissant Marcel Duchamp
Fritz Hauser; Arthur Hnatek; Simone Keller; Daniel Ott; Ripperton; Marina Viotti
Spezialpreise Musik:
AMR Genève; Daniel “Duex” Fontana; Volksmusiksammlung Hanny Christen

Die Preisverleihung findet am 16. September in Lausanne im Rahmen des Festivals Label Suisse statt.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 27.7.22., 20h: Yello – Gesamt-Kunstprojekt erhält Grand Prix Musik 2022, Redaktion Gabrielle Weber / Wiederholung: Passage 28.8.22, 15h.
MusikMagazin, 14./15.5.22: Yello – Das Schweizer Elektropop-Duo bekommt den Grand Prix Musik, Redaktion Annelis Berger

Neo-Profile:

Yello, Boris Blank, Swiss Music Prize

Übermacht der Natur

Eiger, die neue Oper von Fabian Müller, wird vom Theater Orchester Biel Solothurn am 17. Dezember uraufgeführt. Christian Fluri unterhielt sich mit dem Komponisten vor der Premiere über seinen Bezug zum Berg, der ihn bereits seit langem fasziniert.

Christian Fluri
„Die Geschichte des zweiten Versuchs, die Eigernordwand zu erklimmen, ist an Dramatik kaum zu überbieten“, sagt der von seinem Opernstoff begeisterte Komponist Fabian Müller. 1936 versuchten die beiden deutschen Bergsteiger Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser mit zwei österreichischen Kollegen als erste die mächtige Nordwand des Eiger zu bezwingen. Sie scheiterten und alle Vier starben am Berg. Dieser Geschichte widmete sich bereits der Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl in seinem Film Nordwand von 2008. Und nun tun es der Schriftsteller und Librettist Tim Krohn und Fabian Müller erneut. Die Frage, ob sie sich vom Film beeinflussen liessen, verneint Fabian Müller. „Wir erzählen das Drama ganz anders. Der historische Rahmen ist derselbe, daneben aber lässt die Geschichte viel erzählerische Freiheit zu.”

 

Portrait Fabian Müller bei den Proben zur Oper Eiger zVg SOBS 2021

 

Die Geschichte der Oper Eiger schildert den anfänglichen Enthusiasmus, mit dem die vier Bergsteiger ihre Klettertour beginnen, dann das sich abzeichnende Scheitern bis hin zum Kampf gegen den Tod, den als letzter sogar der herausragende Bergsteiger Toni Kurz verliert. „Die Oper erzählt von der Ohnmacht des Menschen gegenüber der Übermacht der Natur.“ Müller gibt dem Berg eine Stimme – eine Frauenstimme. „Es ist quasi der Gesang des Bergs, der sich gegen Ende der Oper in der Vogelschau über den Sturm, die ganze Dramatik der Situation und Wildheit des Wetters legt. Der Sterbende ist hin und hergerissen, zwischen den letzten verzweifelten Versuchen in der Realität sein Leben zu retten, wird aber gleichzeitig vom verführerischen Gesang des Berges umgarnt, der ihn immer mehr in eine surreale, jenseitige Welt hinüber gleiten lässt.“

 

 

Am Fuss des Eigers

Bereits 16 Jahre vor der Uraufführung der Oper hat sich Fabian Müller mit dem Eiger und seiner Nordwand auseinandergesetzt. 2004 schrieb er im Auftrag der Interlaken Musikfestwochen die Symphonische Skizze Eiger – und er tat dies gleichsam am Fuss des Eigers, in seinem Komponierhäuschen, einem Chalet in Grindelwald. Dort verbrachte er jeweils mit seinen Eltern als Kind und Jugendlicher seine Ferien.

 

Fabian Müller, Eiger – Eine symphonische Skizze, UA 2004, Latvian Symphony Orchestra, Dirigent Andris NelsonsMüller denkt in seinen Kompositionen Musikgeschichte mit. In seiner Symphonischen Skizze Eiger aus dem Jahr 2004 hat er teils auch Reihentechniken angewandt.

 
„Seit meiner Kindheit bin ich mit der Bergwelt um Grindelwald verbunden“ sagt Müller zu diesem Ort der Inspiration. Nach seiner Ausbildung ist das Chalet zu einem Rückzugsort geworden, wo sich seine Kreativität entfalten konnte. Als er 2004 seine symphonische Skizze schrieb, „schaute der Eiger auf mich herab, sah, wie ich meine Noten aufs Papier kritzelte“, meint er verschmitzt.
Damals schon dachte er, das Drama von 1936 wäre ein ausgezeichneter Opernstoff. „Ich habe nun ausgehend von der Skizze die Musik zur Oper weiterentwickelt und alles, was in der Skizze ist, irgendwie – wenn auch selten identisch – verwendet“, erklärt Müller.
„Vielen meiner Stücke begegne ich lange nach ihrer Entstehung wie ein Fremder. Es fällt mir oft schwer, in eine ältere Komposition von mir wieder einzutauchen. Die Symphonische Skizze Eiger hingegen ist in mir stets präsent geblieben. Vielleicht, weil die Oper eben noch geschrieben werden musste.“ Die Musik zur Oper habe er aber kaum mehr am Fuss des Eigers komponiert, sondern mehrheitlich zu Hause in Zürich.

 

Musikalität des Textes


Müller begann mit seiner Komponierarbeit, als er das Libretto von Tim Krohn auf dem Tisch hatte. Gross ist sein Vertrauen in die Musikalität seines Librettisten, mit dem er bereits zum dritten Mal zusammenarbeitet: „Tim Krohn hat eine Affinität zur Musik und ein grosses Verständnis für die Musikalität, die ein Libretto haben muss. In seinem Text war nichts, für das nicht eine musikalische Lösung zu finden gewesen wäre.“  Auch knifflige Passagen wurden zur reizvollen Herausforderung. Natürlich habe er mit Tim Krohn einen intensiven Austausch gepflegt; aber „wir haben im Libretto schliesslich keinerlei Veränderungen vorgenommen.“

Sowohl die deutschen wie die österreichischen Alpinisten jener Zeit zeigten in ihrem Denken – oft nicht nur darin – eine Nähe zum Nationalsozialismus. Auch dies ist Gegenstand des Librettos von Tim Krohn. Es zeichne die Figuren in ihrer Ambivalenz, merkt Müller an. „Ihre politische Haltung schwingt in der Zeichnung ihrer Charaktere mit. Und sie wird auch zum Problem, wenn es um das Vertrauen zueinander geht, ein Vertrauen, das in der Kletterei essenziell ist. Auch in meiner Musik findet diese Ambivalenz der Figuren ihren Ausdruck.“

 

Portrait Tim Krohn zVg SOBS

 

Noch während Müller im Komponierprozess – für die Oper mit grossem Orchester – steckte, erhielt er vom Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) einen Auftrag für Eiger. Deshalb schrieb er nach Fertigstellung der Partitur noch zusätzlich eine Fassung mit Kammerorchester. Diese gelangt nun in der Inszenierung von Barbara-David Brüesch und unter der musikalischen Leitung von Kaspar Zehnder in Biel zur Uraufführung.

 

 

Musik entstehen lassen

 

Und wie klingt Müllers Musik? Er gehört gewiss nicht zu den experimentellen Komponisten, will dies auch nicht. Er ist überzeugt, die klanglichen Möglichkeiten eines Symphonie-Orchesters seien heute ausgelotet. Neues könne aber in der Kombination, der Verbindung von Klängen und Klangfiguren entstehen.

In seinen Kompositionen denkt Müller Musikgeschichte immer mit: er scheut sich nicht, auch mal traditionelle Harmonien oder Klanggebilde zu verwenden. Orientierungspunkte für ihn sind Gustav Mahler, der junge Arnold Schönberg, Alban Berg, ebenso die französische Musik des frühen 20. Jahrhunderts, um nur einige zu nennen. Verwandt fühlt er sich den heutigen skandinavischen, osteuropäischen sowie anglo-amerikanischen Komponist:innen.

 


Fabian Müller, Munch’s Traum(a) für Violine Solo, UA 2010: Müller geht es in seiner Musik um den emotionalen Ausdruck. Als kompositorische Orientierungspunkte für seine Musik bezeichnet er Gustav Mahler, den jungen Arnold Schönberg oder Alban Berg, aber auch György Ligeti und Olivier Messiaen.

 

Natürlich hat er sich intensiv mit der deutschen und französischen Avantgarde der Nachkriegszeit und deren Geschichte auseinandergesetzt – so mit der seriellen Technik, die für ihn aber klar der Vergangenheit angehört. „Schon György Ligeti hat sie 1961 mit seinem grandiosen Werk Atmosphères überwunden, das gilt auch für andere seiner Zeitgenossen.” Ligeti und Olivier Messiaen sind für ihn ebenfalls wichtige Orientierungspunkte. Aber er schätzt auch sehr die Komponist:innen, „die in den 1970er Jahren neue Wege eingeschlagen haben“ – abseits experimenteller Pfade, wie zum Beispiel der Finne Einojuhani Rautavaara (1928-2016), mit dem ihn eine lange Brieffreundschaft verbunden hat.

Müller selbst bezeichnet sich als intuitiven Komponisten, dem es stets um den emotionalen Ausdruck geht. „Ich lasse mich dann, wenn der Kompositionsvorgang ins Rollen gekommen ist, von der Musik selbst führen. Warum meine Musik so klingt wie sie klingt, dazu kann ich eigentlich nur sagen, es ist die Musik, die ich innerlich wahrnehme, wenn ich das tue, was mich am meisten interessiert, nämlich komponieren.“
Christian Fluri

 


Im Video des SOBS führt der Komponist Fabian Müller selbst in seine Oper Eiger ein.

 

Theater Orchester Biel Solothurn, Uraufführung Oper Eiger ab 17.12.21 Biel / weitere Vorstellungen Saison 21/22, Biel und Solothurn

 

Toni Kurz, Andreas Hinterstoisser, Philipp Stölzl, Tim Krohn, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alban Berg, György Ligeti, Olivier Messiaen, Einojuhani Rautavaara

 

neo-Profile:
Fabian Müller, Sinfonie Orchester Biel Solothurn

Von Schwärmen, Glocken und Insekten

Michael Pelzel ist Composer in Residence beim diesjährigen Musikfestival Bern. Zahlreiche Uraufführungen zeigen die Bandbreite seines kompositorischen Schaffens. Zudem ist er als Interpret an der Orgel und im Gespräch zu erleben. Ein Portrait von Friederike Kenneweg.

 

Portrait Michael Pelzel zVg Michael Pelzel

 

Friederike Kenneweg
Als ich mit Michael Pelzel Mitte Juli 2021 einen Telefontermin für ein Interview ausmachen möchte, ist er gar nicht so ohne Weiteres zu erreichen. Und das hat einen guten Grund: auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Stücke, die von ihm als Composer in Residence beim Musikfestival Bern zur Uraufführung gelangen sollen. „Das geht gerade Schlag auf Schlag“, erzählt er mir, als es dann doch endlich mit einem Gespräch klappt. Das Stück, das gerade vor ihm liegt, als wir miteinander telefonieren, heißt Aus 133 Fenstern. Obwohl „Composer in Residence“ in Bern nicht bedeutet, dass man tatsächlich für eine längere Zeit vor Ort sein muss, haben die Gegebenheiten am Festivalort Michael Pelzel zu einer besonderen Raumkomposition inspiriert.

Aus der Vielzahl der Fenster, die vom Kulturzentrum PROGR auf den dortigen Innenhof hinausgehen, wird das Publikum mit Glocken, Triangeln, Lotosflöten und Okarinas beschallt. Die Ausführenden: Kinder und Jugendliche. Auch wenn die angestrebte stolze Zahl von 133 Musizierenden nicht ganz erreicht werden sollte: zweifellos erwartet die Zuhörenden hier ein einzigartiges Raum- und Klangereignis.

 

Probe zur Uraufführung von Aus 133 Fenstern für 133 Musizierende, UA im Progr am Musikfestival Bern ©Martin Bichsel / zVg Musikfestival Bern

 

Das Stück ist genau auskomponiert. Dass die Laienmusiker*innen es unter den besonderen räumlichen Umständen schaffen werden, auch wirklich immer synchron miteinander zu spielen, erwartet Michael Pelzel aber nicht. „Das schaffen auch Profis nicht, immer genau gleichzeitig auf die Schlaginstrumente zu treffen“, sagt Pelzel. Doch es ist genau dieser klangliche Effekt der Unschärfe, der den Komponisten besonders interessiert. „Komponisten sind ja immer auf der Suche nach neuen, unerhörten Klängen. Und diese gewissermaßen chorisch eingesetzten Metallschlaginstrumente, die sind in der Musik meiner Meinung nach absolut noch nicht ausgereizt.“

 

“Mikro-Arpeggien”

 

Pelzels Faszination für Metallschlaginstrumente kommt im Rahmen des Festivals an mehreren Stellen zur Geltung. Zum Beispiel in der Komposition Glissomaniac für zwei Klaviere und zwei Perkussionisten. Hier sind es Röhrenglocken, die solche Unschärfen hervorbringen, wenn die beiden Schlagzeuger und die Klaviere unisono miteinander spielen. „Mikro-Arpeggien“ nennt Michael Pelzel das, was dabei entsteht. „Das ist ein bisschen wie bei einem Fluss-Delta. Es bilden sich viele kleine Nebenarme, die jeweils einen etwas anderen Verlauf nehmen, aber alle haben eine gemeinsame Richtung. Alle strömen zum Meer.“

 


Vokalensemble und Perkussion kombinierte Michael Pelzel bereits 2019 im Stück  Hagzusa zum Galsterei, uraufgeführt vom SWR-Vokalensemble am Festival Eclat Stuttgart 2019

 

Auch in der Vokalkomposition La Luna für acht Sänger und Schlagzeug setzt Michael Pelzel auf diesen Effekt. Nicht nur der Schlagzeuger nutzt hier Perkussionsinstrumente, sondern auch die acht Sänger*innen bringen verschieden große Triangeln zum Einsatz. Durch die minimale zeitliche Verschiebung beim Anschlag entstehen immer wieder  unterschiedlich dimensionierte Metallklangwolken, die nie ganz vorhersehbar sind.

La Luna ist ein Auftragswerk für das KlangForum Heidelberg, das im Rahmen der Werkreihe „Sternbild: Mensch“ des Ensembles entstand und eigentlich schon an anderer Stelle zur Uraufführung gelangen sollte. Doch wie so häufig stand die Corona-Pandemie dem entgegen.

Uraufgeführt wurde das Werk zwar schon, aber bislang nur in digitaler Form. Die „analoge“ Uraufführung vor körperlich anwesendem Publikum wird nun in Bern stattfinden können: eine besondere Sternstunde im Rahmen des Konzertes mit dem Titel Ferne Lichterschwärme.

 


Michael Pelzel, La Luna, KlangForum Heidelberg, ‘Uraufnahme’ online Juni 2021

 

In Kombination mit Pelzels Stück La Luna stehen auch Orchesterwerke von Georg Friedrich Haas (geboren 1953) und György Ligeti (1923-2006) auf dem Programm. Pelzels Kompositionen werden auch bei den anderen Konzerten gemeinsam mit Werken von Haas und Ligeti präsentiert. Wohl weil eine gewisse Verwandtschaft zwischen den drei Komponisten besteht. Ähnlich wie Ligeti schätzt Pelzel vertrackte Mikrorhythmen. Mit Georg Friedrich Haas teilt Pelzel die Leidenschaft für Mikrotöne. Dementsprechend kommt ihm die Kombination seiner Werke mit diesen beiden Größen durchaus entgegen: „Zwischen Georg Friedrich Haas, der mein geschätzter Lehrer war, und György Ligeti, der für mich in vielerlei Hinsicht eine wichtige musikalischen Bezugsgröße ist, fühle ich mich sehr wohl.“

 


Michael Pelzel, in memoriam György Ligeti, für Ensemble 2018: vertrackte Mikrorhythmen verbindet das Schaffen von György Ligeti und Michael Pelzel, Eigenproduktion SRG

 

György Ligeti spielt für Michael Pelzel auch in seiner Funktion als Organist eine wichtige Rolle. Bei dem Orgelkonzert mit Michael Pelzel im Rahmen des Festivals steht dementsprechend das Orgelwerk Harmonies von György Ligeti aus dem Jahr 1967 auf dem Programm. Die Komposition ...stream of debris… von Michael Pelzel, die er hier selbst uraufführen wird, sieht er  in derselben Traditionslinie. „Ein bisschen ist das auch wie eine Hommage an Ligeti. Ligeti hat in seiner Orgelmusik viel mit Clustern gearbeitet. Wenn ich selber auf der Orgel improvisiere, gehe ich auch von solchen Clustern aus, versuche dabei aber, das nicht einfach zu wiederholen, sondern Ligetis Ansatz für die heutige Zeit weiter zu entwickeln.“

Zum Festivalmotto „schwärme“ passend als „schwärmerisches Stück“ im Programm angekündigt ist Streamed Polyphonyfür Streicher, das von der CAMERATA BERN uraufgeführt werden wird. „Schwärmerisch stimmt eigentlich nicht“, sagt Pelzel, als ich ihn danach frage. Vielmehr habe er beim Komponieren an drei Insekten gedacht, die um eine Lichtquelle herumschwirren.

Darum spielt bei diesem Stück die Verteilung der Musiker*innen im Raum eine wichtige Rolle. Diese ermöglicht, dass auch der Streicherklang im Raum umherschwirrt. Auch wenn der Titel der Komposition die Assoziation mit Insekten nicht mehr nahelegt: vielleicht ist beim Konzert der CAMERATA BERN dieses Schwärmen und Schwirren für die Zuhörer*innen trotzdem noch erkennbar.
Friederike Kenneweg

 

Michael Pelzel © Manuela Theobald / zVg Musikfestival Bern

 

Das diesjährige Musikfestival Bern findet vom 1. bis zum 5. September unter dem Motto “schwärme” statt. Zu hören sind Werke und Uraufführungen von u.a. Salvatore Sciarrino, Fritz Hauser, Jürg Frey, Johanna Schwarzl, Hans Eugen Frischknecht, Pierre-André Bovey, Thomas Kessler oder Jean-Luc Darbellay.

Donnerstag, 26. August, 19 Uhr: Michael Pelzel zu Gast in „Sprechstunden für neue Musik“, einer Reihe von Zoom-Veranstaltungen des Musikfestival Bern. Hier geht es um ein informelles Kennenlernen und ins Gespräch kommen mit dem Komponisten, mit Hörbeispielen. Teilnahme kostenlos, Anmeldung erwünscht an Tobias Reber.
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Uraufführungen von Michael Pelzel:
Aus 133 Fenstern, Mittwoch, 1.9. 17h
Streamed Polyphony, in Konzert: Open the Spaces, Mittwoch, .1.9. 19h
Glissomania, in Konzert: Durch unausdenkliche Wälder, Freitag, 3.9. 21h
La Luna, in Konzert: Ferne Lichterschwärme, Samstag, 4.9. 19h
Harmonies / ...stream of debris… in Konzert: Con Passione, Sonntag, 5.9. 17h

Neo-Profiles:
Musikfestival Bern, Michael Pelzel, Camerata BernGyörgy Ligeti, Georg Friedrich Haas, Thomas Kessler, Jürg Frey, Jean-Luc Darbellay, Fritz Hauser, Pierre-André Bovey

 

 

Pling! Plong! Brrr!

Michael Pelzel

Der Ostschweizer Komponist Michael Pelzel feilt fürs Opernhaus Zürich an der Vollendung seiner ersten Oper. Im Interview mit Bjørn Schaeffner spricht er über Gratwanderungen, Nullenergiezustände und die gewisse Lockerheit, die es bei der Arbeit braucht.

Michael Pelzel, wie läuft das Leben?  
Es ist grad alles sehr hektisch. Ich bin gerade am Limit. Und arbeite im Moment von zuhause aus.

Sie stecken im Schlusspurt für ihre Oper «Last Call».
Zum Glück kann ich mich auf eine tolle Equipe verlassen. Es ist ja ein Gemeinschaftswerk. Als Opernkomponist muss man immer auch auf die anderen Künste eingehen.

Gab es Diskussionen?
Nur in einem Punkt. Ich hatte mir für den «Last Call» einen traumwandlerischen Schlusspunkt ausgemalt. Eine Art Schwerkraft-Song, der etwas an einen Kirchenchoral erinnert, aber auch ein wenig wie man es vom Vokalquartett  Manhattan Transfer kennt. Der sollte am Schluss dramaturgisch einen Nullenergiezustand herstellen. Aber meine Partner Chris Kondek und Jonathan Stockhammer fanden, dass das schon früher eingelöst wird, und es diesen Moment nicht nochmals zum Ende der Oper braucht. Das hat mich letztlich überzeugt.
 
Wie entstand die Idee zu «Last Call»?
Der Luzerner Autor Dominik Riedo kam auf mich zu. So haben wir den Stoff gemeinsam entwickelt. In einem inspirierenden Ping-Pong. Riedos Text hat sich meiner Musik angenähert und verwendet eine lautmalerische Sprache. Sie ist schon fast Comic-artig. Pling! Plong! Brrr!

In «Last Call» geht es darum, dass die Menschheit endgültig die Kontrolle über die Kommunikationsmedien verliert und darum auf einen fernen Planeten übersiedelt.
Sie kennen das sicher auch – ich erlebe es auf jeden Fall tagtäglich. Kaum hast Du 30 Mails abgearbeitet, ist das Postfach schon wieder voll. Auf allen möglichen Kanälen wird man bombardiert. Und dann sind da die Techgiganten wie Amazon oder Google, die immer mehr über unser Leben wissen. Das stimmt einen schon nachdenklich.

Im Programmtext lesen wir, die Oper sei grotesk-überspitzt.
Ja, es soll skurril werden, irgendwo zwischen «Die Physiker» von Dürrenmatt oder «Le Grand Macabre» von György Ligeti. Ich bin da auch ein bisschen von Christoph Marthaler inspiriert, bei dessen Inszenierungen man öfters auch nicht weiss: Ist es jetzt ernst gemeint? Oder ist das ein Witz? Ich mag solche Gratwanderungen.

Michael Pelzel, Last Call, UA 28.6.19, Opernhaus Zürich ©Herwig Prammer

Wie sind sie «Last Call» kompositorisch angegangen?
Viele Komponisten sind schon am Vorhaben verzweifelt, dass sie alle musikalischen Parameter aufeinander abstimmen wollten. Man muss mit einer gewissen Lockerheit ans Werk gehen. Und bei einer Länge von 90 Minuten kannst du nicht alles neu komponieren. Ich habe also alte Motive weiterentwickelt und vertieft.

Und natürlich mehr in Richtung Theater gearbeitet. In der zeitgenössischen Oper stört mich, dass da diese latente Tragik in allen Dingen steckt. Eine schon fast klischeehafte Tiefgründigkeit. Dem wollte ich entgegen wirken. Ich habe mir erlaubt, hie und da etwas frecher zu sein.

Frecher?
Wir haben zum Beispiel die Melodie von der «Sendung mit der Maus» leicht abgewandelt. Das ist natürlich nichts Neues. Das hat schon Mozart gemacht: Dieses Variieren innerhalb der eigenen Musiksprache. Oder Wagner, der plötzlich überraschend Barockes anklingen liess.

Worauf darf man sich als Besucher freuen?
Ich bin selbst gespannt, wie das alles zusammenkommt. Das Kind muss selbst laufen lernen. Aber man darf sicher auf die Videokunst von Chris Kondek gespannt sein. Toll, wie er mit ganz wenigen Mitteln eine trashige Pop-Art in die Oper zaubert. Und das Bühnenbild von Sonja Füsti, das die Videokunst sehr gut zur Geltung bringt. Und auch die Kostüme von Ruth Stofer. Eigentlich alles. Wie ich schon sagte: es ist ein Gemeinschaftswerk.
Interview Bjørn Schaeffner

Michael Pelzel, Last Call, UA 28.6.19, Opernhaus Zürich ©Herwig Prammer

Opernhaus ZürichMichael Pelzel

SRF-Sendungen
29.Juni 2019: “Musikmagazin“, Kaffee mit Michael Pelzel (auch als Podcast)
1. Juli 2019, “Kultur-Aktualität“: Bericht zur Premiere; “Kultur Kompakt 

neo-profiles:Michael Pelzel, Opernhaus Zürich, Jonathan Stockhammer, Philharmonia Zürich