Poetischer Norden, Elektronische Nacht

Friedemann Dupelius
„Man muss schon eine Poetin sein, um im Norden zu leben“, sagt Cosima Weiter und lacht laut. Die Frankoschweizerin muss wissen, wovon sie spricht, hat sie doch mehrmals den hohen Norden Europas bereist – und sich dabei ziemlich wohl gefühlt. Kein Wunder, sie ist ja auch Poetin, Soundpoetin, um genau zu sein. „Ich will das aber nicht idealisieren“, räumt sie ein. Eine besondere Mentalität hat sie jedoch ausmachen können, als sie die nördlichen Regionen Finnlands und Norwegens bereiste, um den szenischen Kaija Saariaho-Abend Nord mit dem Ensemble Contrechamps vorzubereiten. Gemeinsam mit dem Video-Künstler Alexandre Simon fing Cosima Weiter nicht nur Bilder und Klänge, sondern auch Eindrücke von den Menschen ein, die dort leben, wo Nord spielen wird. „Wenn du in der Großstadt lebst und jemanden Neues triffst, den du nicht magst, gehst du einfach weiter. Dort aber, wo so wenige Menschen leben, strengst du dich an, die andere Person zu verstehen. Weit weg von allem zu sein heißt, offen zu sein“, erzählt Weiter.

 

Vier Stücke von Kaija Saariaho sind Teil der Inszenierung “Nord” von Cosima Weiter & Alexandre Simon © Andrew Campbell

 

In Nord bricht eine Frau in Finnland auf, um eben dort hin zu wandern, wo man weit weg von allem ist: in den Norden. Während dieses durch und durch romantischen Unterfangens begegnet sie unterschiedlichen Menschen, die verschieden auf sie reagieren. Die einen lässt sie neidisch, andere voller Bewunderung, und einen sogar mit Liebes-kummer zurück. „Ich wollte die Geschichte eigentlich feministisch erzählen“, sagt Cosima Weiter, „und dass es als Frau nicht einfach ist, alleine ins Nirgendwo zu wandern. Aber als ich im Norden war, musste ich das verwerfen – dort sind alle gleich. Das kennen wir hier in Mitteleuropa so nicht. Es kümmert keinen, ob du eine Frau bist, du kannst tun und lassen, was du willst.“

 

Zeit, Raum, Klang

Eine Frau, die seit Jahrzehnten tut und komponiert, was sie möchte ist die Finnin Kaija Saariaho. Ihre Musik steht im Zentrum der szenischen Erzählung, die von drei Schauspieler:innen vor einer großen Film-Leinwand verkörpert wird. „Es war uns sehr wichtig, dass Saariahos Musik in dem Stück respektiert und nicht gekürzt wird, dass sie einen großen Raum erhält.“ Mit Nocturne (1994) in der Fassung für Solo-Viola, Aure (2011) für Cello und Viola, Petals (1988) für Cello und Elektronik sowie Fleurs de neige (1998) in der Fassung für Streichquartett bilden vier Saariaho-Kompositionen die musikalische Basis für die Erzählung. (So schwer deren Reminiszenz an das Winterreisen-Topos zu ignorieren ist: Ironischerweise gibt Cosima Weiter zu, erst mit dem Interview für neo.mx3 daran zu denken.) Um die langsame, behutsame Musik herum tut sich eine Klanglandschaft auf, die Weiter und Simon gemeinsam mit Lau Nau und Bertrand Siffert aus eigenen Aufnahmen und Einsprengseln anderer Musik gestaltet haben. „Es gibt drei Dinge, die mich in der Musik und der Poesie interessieren: Zeit, Raum und Klang“, sagt Cosima Weiter, „und in Saariahos Musik finde ich das alles.“ In Nord leiht die Soundpoetin der Protagonistin ihre Stimme, entkörperlicht wiedergegeben über Lautsprecher.
Man muss schon eine Poetin sein, um vom Norden zu erzählen.

 


Kaija Saariaho, Graal Théâtre, Contrechamps, Eigenproduktion SRG/SSR 2009

 

Nuit de l’électroacoustique

Eine ganz andere Erzählung spinnt Contrechamps am 19.3., wenn das Ensemble zu seiner ersten Nuit de l’électroacoustique lädt. Fast wäre sie ausgefallen: Aufgrund von Lieferengpässen konnte die Renovierung der postindustriellen Räumlichkeiten, die Contrechamps künftig als Arbeits- und Begegnungsort beziehen wird, nicht rechtzeitig abgeschlossen werden. Eigentlich hätte das Les 6 Toits auf dem Genfer ZIC-Gelände mit der Nuit eingeweiht werden sollen. Dankbarerweise fand man kurzfristig Exil im Pavillon ADC, einem Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Genf. Von Beginn an in die Kuration und Organisation mit eingebunden war auch der Genfer Subkultur-Club Cave 12, der gemeinsam mit Contrechamps die Nuit de l’électroacoustique präsentiert. Dass nun auch noch der Pavillon ADC mit von der Partie ist, sollte einer gesunden Durchmischung des Publikums nur zuträglich sein.

 


Heinz Holliger, Cardiophonie, Contrechamps, Oboe: Béatrice Laplante, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

„Teile unseres Stammpublikums werden sicher mit Heinz Holliger vertrauter sein“, vermutet Serge Vuille, der künstlerische Leiter von Contrechamps. Holliger ist mit Cardiophonie für Oboe und Elektronik vertreten. „Andere Leute, die aus der elektronischen Musikszene kommen, können wir bspw. mit Phill Niblock, Jessica Ekomane oder Beatriz Ferreyra locken.“ Bereits mit den zwei letztgenannten Namen spannt sich ein großer Bogen: Hier die junge Künstlerin, die seit wenigen Jahren mit scharfsinnigen Performances auf sich aufmerksam macht, etwa neulich beim Festival MaerzMusik Berlin – da die 84-jährige Pionierin, die schon in den 1960ern mit Pierre Schaeffer gearbeitet hat. „Wir möchten Verbindungen herstellen“, sagt Vuille, „etwa zwischen rein elektronischer Musik und akustischen Instrumenten in Verbindung mit Elektronik, oder zwischen neuen und alten Tools – wer weiß, vielleicht bringt Beatriz Ferreyra alte Bandmaschinen mit?“

 

Jessica Ekomane spielt bei der Nuit de l’électroacoustique © Camille Blake

 

Lockerheit und Fokus

Für das Kurator:innen-Kollektiv von Contrechamps und Cave 12 war eine Mischung nicht nur aus alt und jung, sondern auch aus internationalen Headlinern und lokalen Akteur:innen der freien Genfer Szene wichtig. Letztere ist mit Performances von Salômé Guillemin und d’incise vertreten. Hinzu kommen drei neue Auftragsstücke für kleine Contrechamps-Besetzungen plus Live-Elektronik – eine Reminiszenz an die IRCAM-Schule, wie Serge Vuille findet.

 


d’incise, Le désir certain, 2019 (Insub.records & Moving Furniture Records)

 

Die Nuit de l’électroacoustique soll aus der Lockerheit heraus zu einem fokussierten Hören verlocken. Das Publikum kann umherwandern. „Wir möchten mit der Veranstaltung zeigen, dass man elektronische Musik auch auf eine konzentrierte Weise hören kann – ob man dabei sitzt oder sich bewegt.“ Und wer möchte, kann sich eine Auszeit vom fünfstündigen Programm an der Bar nehmen. Oder die Virtual Reality-Installation von Raphaël Raccuia und Nicolas Carrel begehen: sie lädt zum Entdecken der Zukunft, denn von der hat elektronische Musik seit ihren Anfängen erzählt.
Friedemann Dupelius

Contrechamps im Frühjahr 2022:
Nord: 7.-20.2., Le Grütli, Genf
Nuit de l’électroacoustique: 19.3., 19-24 Uhr, Pavillon ADC, Genf

ContrechampsCosima Weiter & Alexandre SimonKaija SaariahoBeatriz FerreyraJessica EkomanePhill NiblockLe GrütliPavillon ADCCave 12

Radio-Features SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 9.10.2019: Johannes Knapp und Serge Vuille – zwei junge Querdenker am Ruder, Redaktion Theresa Beyer / Moritz Weber
neoblog, 19.6.19: Ensemble Contrechamps Genève, expérimentation et héritage, Interview mit Serge Vuille von Gabrielle Weber

neo-Profile:
Contrechamps, Heinz Holliger, d’incise, Serge Vuille

Robert Walsers Komponist:innen

In seiner neuen Monografie zeichnet der Musikwissenschaftler Roman Brotbeck die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nach und entwirft im selben Zug ein faszinierendes Panorama der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts abseits der dominanten Strömungen.
Am 27. Januar findet im Gare du Nord in Basel die Buchvernissage statt, zusammen mit der Aufführung von Georges Aperghis’ Werk Zeugen, basierend auf Texten Walsers.

 

Silvan Moosmüller
„Robert Walser – sein eigener Komponist“, so lautet der Titel zur Einleitung von Roman Brotbecks Töne und Schälle: Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021.

 

Robert Walser Berlin 1909 © Keystone SDA / Robert Walser-Stiftung Bern

 

Walser als literarischer Komponist

Und tatsächlich, viele Prosastücke und erst recht die Gedichte des notorischen „Plauderers“ Walser gleichen mit ihrer elaborierten Lautstruktur einer musikalischen Komposition: Jede Silbe, jeder Buchstabe trägt zur Poesie des Ganzen bei. „Walser zu vertonen, ist eine schwierige, vielleicht sogar unlösbare Aufgabe, weil viele Walser-Texte schon Musik sind und deshalb einer Musik eigentlich gar nicht mehr bedürfen“, bilanziert Roman Brotbeck die heikle Ausgangslage.

 

200 Werke von über 100 Komponistinnen und Komponisten

Dennoch – oder vielmehr gerade wegen der Musikalität seines Schreibens – hat Walser eine Vielzahl von Komponistinnen und Komponisten zu Vertonungen angeregt. Neben Hölderlin zählt Walser zu den meistvertonten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Diesen klingenden Walser-Kosmos entfaltet Roman Brotbeck auf fast 500 Seiten. Mit seinem Buch bietet er die erste umfassende und systematisch erarbeitete Untersuchung zur musikalischen Rezeption von Walsers literarischen Werken.

Und als Kurator des letztjährigen Festivals Rümlingen hat Brotbeck der Geschichte der Walser-Vertonungen gleich selber ein neues Kapitel hinzugefügt. 15 Uraufführungen mit Werken zu Robert Walser wurden im September aus der Taufe gehoben; darunter z. B. die revidierte Neufassung des théâtre musical Zeugen von Georges Aperghis, das zusammen mit der Buchvernissage im GdN in Basel erneut zur Aufführung kommt. Oder die performative Ausstellung Patient Nr. 3561 der Komponistin und Performerin HannaH Walter und ihrem Kollektiv Mycelium.

 

Von Anfang an..

Aber beginnen wir doch am besten chronologisch ganz vorne: mit James Simon. Dieser Berliner Musikwissenschaftler und Komponist ist gemäss Brotbecks Recherchen der Erste, der sich an Robert Walser heranwagte. Genauer sind es die beiden Gedichte Gebet und Gelassenheit, die Simon 1912 respektive 1914 als Lieder in romantisch anmutender Weise komponierte.

Dabei ist James Simon als Figur in zweierlei Hinsicht wegweisend für die weitere Geschichte der Robert Walser-Vertonungen: Erstens ist er keiner der Grossen, Bekannten – als Komponist ist James Simon heute sogar ganz in Vergessenheit geraten. Und zweitens steht er mit seiner “verspätet”-romantischen Kompositionstechnik quer zu den dominanten Strömungen der Zeit.

 

Musikgeschichtsschreibung diesseits des Höhenkamms

Diese beiden Eigenschaften bilden die DNA für alles Kommende. Denn generell verläuft die inzwischen 110-jährige Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nicht auf dem Höhenkamm der etablierten Musikgeschichtsschreibung. Vielmehr liest sie sich – in Roman Brotbecks eigenen Worten – als „Geschichte, oder besser: als Geschichten der Ausbruchsversuche aus dem Avantgarde-Diskurs“.

Dazu passt, dass die musikalische Rezeption Walsers überaus gemächlich startete. In den fünfzig Jahren nach James Simons ersten musikalischen Umsetzungen gibt es nur zwei weitere Belege; in den nächsten 25 Jahren bis 1987 lassen sich gemäss Brotbecks Recherchen immerhin 13 Komponist:innen mit 20 Werken nachweisen. Darunter finden sich weitere Liedvertonungen, aber auch das zwölftönige Dramma-Oratorio Flucht von Wladimir Vogel, das die rhythmisch polyphonen Möglichkeiten des Sprechchors ausreizt.

 


Wladimir Vogel, Flucht, Dramma-Oratorio (1964), Tonhalle-Orchester Zürich 1966, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Die Ruhe…

Von diesen „frühen“ Walser-Vertonern, denen der erste Teil der Monografie gilt, hat sich der Schweizer Urs Peter Schneider besonders beharrlich und vielseitig auf Walsers Œuvre eingelassen. Über fast sechzig Jahre hinweg hat Schneider ein ganzes Walser-Laboratorium geschaffen – von der „extremen Stereophonie“ seines radiophonischen Porträts Spazieren mit Robert Walser bis hin zu den Polyphonisierungen des Textmaterials im Chorbuch.

 


Urs Peter Schneider, Chorbuch, 12 Lieder auf 12 Texte von Robert Walser für 8 Singstimmen, UA 2013 Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Der Grossteil der Walser-Vertonungen entstand laut Brotbeck hingegen erst in den letzten 34 Jahren, dafür mit exponentiell steigender Geschwindigkeit. Angestossen durch Heinz Holligers Beiseit-Zyklus und die grosse Schneewittchen-Oper setzt in den 90er-Jahren ein regelrechter Walser-Boom ein.

 

…vor dem Sturm

Nicht zufällig fällt dieser Boom mit dem Trend zu neuen Musik- und Theaterformen im Zeichen des postdramatischen Theaters zusammen. So büsst das Klavierlied seine Stellung als bislang dominierende Gattung ein und es schlägt die Stunde des Dramatikers Walser. Aber auch gesellschaftspolitische Veränderungen begünstigten gemäss Brotbeck in den 1990er-Jahren die Walser-Rezeption: „Die Künste sind in jener Zeit durch eine ambivalente Mischung aus Freiheitsdrang und Orientierungslosigkeit, aus Dekonstruktion der grossen Erzählungen in der Nachfolge der Postmoderne und Faszination für neue Medien und Technologien geprägt.“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Um die Materialfülle im zweiten Teil seines Buches übersichtlich darzustellen, teilt Brotbeck das weite Feld der Walser-Vertonungen vor allem nach Gattungen auf, namentlich verschiedenen Musiktheaterformen, Lieder- und Liederzyklen und Melodramen. Die eröffnete Bandbreite ist enorm. Sie reicht von improvisatorischen Formen mit Akteur:innen der neuen Schweizer Volksmusik (z. B. Oberwalliser Spillit) über szenische Musik wie Michel Roths Räuber-Fragmente bis zu Neukontextualisierungen wie bspw. im Stück Der Teich der japanisch-schweizerischen Komponistin Ezko Kikoutchi, wo sie ein französisch-schweizerdeutsches Libretto in ein japanisches Umfeld stellt.

 


Ezko Kikoutchi, Der Teich nach einem Text von Robert Walser, Laure-Anne Payot, Mezzosopran und Lemanic Modern Ensemble, 2012

 

 

Die Abweichung als Norm

Die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen gleicht, so gesehen, einer von Walsers verwinkelten und ständig abschweifenden Erzählungen. Oder wie Roman Brotbeck es formuliert: “Das Gemeinsame der Walser-Vertonungen ist quasi das Nicht-Gemeinsame”. Dass Brotbeck gerade diese “Zergliederung individualistischer Walser-Zugänge” aufzeigt und der Versuchung nach einer grossen Erzählung widersteht, ist ein grosser Vorzug seines Buches. Da die besprochenen Werke immer auch sozialgeschichtlich und kulturpolitisch kontextualisiert werden, zeigen die Kapitel dennoch ein detailliertes Bild der (Schweizer) Kulturlandschaft mitsamt ihren Strömungen und Institutionen im 20. und 21. Jahrhundert.

Auf 500 Seiten entsteht so das faszinierende Panorama einer “anderen Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts” . Und das Beste ist, dass diese Geschichte noch lange weitergeht.
Silvan Moosmüller

 

Do 27.1.22, 21h GdN Basel: Buchvernissage Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021 / 20h Konzert: Georges Aperghis, Zeugen

Sa 29.1.22, 20h / So, 30.1.22, 17h GdN Basel: Roland Moser, Die Europäerin auf Mikrogramme von Robert Walser

Roman Brotbeck, Silvan Moosmüller, Georges Aperghis, James Simon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 8.9.2021: Klingender Autor – Walser-Vertonungen am Festival Rümlingen, Redaktion Silvan Moosmüller
neoblog, 13.7.2021: Alles was unser Menschengeschlecht ausmacht – Roland Moser erhält einen BAK-Musikpreis 2021, u.a. zur UA von ‘Die Europäerin’ nach Robert Walser, Autor Burkhard Kinzler

neo-Profile:
Robert Walser, Urs Peter Schneider, Heinz Holliger, Michel Roth, Ezko Kikoutchi, Kollektiv Mycelium, Neue Musik Rümlingen, Gare du Nord, Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Roland Moser, Lemanic Modern Ensemble

Nomaden der Neuen Musik

Seit Herbst 2019 hat das Collegium Novum Zürich einen neuen künstlerischen Leiter: den Cellisten und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Neue künstlerische Perspektiven und eine Erweiterung der Hörerschaft hat sich Knapp für das Spezialistenensemble der Neuen Musik auf die Fahnen geschrieben. Seine erste Saison fiel Pandemiebedingt reduziert aus. Nun startet die erste von Knapp kuratierte Spielzeit. Thomas Meyer sprach ihn vor dem zweiten Konzert: dieses findet am 30. Oktober unter der Leitung von Emilio Pomàrico im frisch restaurierten grossen Saal der Tonhalle in Zürich statt.

 

Portrait Collegium Novum Zürich, Konzert Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Thomas Meyer
Die Neue Musik ist zwar nicht mehr so jung, aber sie versteht es doch immer wieder, sich zu verjüngen. Das wird deutlich, wenn zwei Werke aufeinandertreffen, die im Abstand von einem halben Jahrhundert entstanden sind, ein Klassiker und ein Newcomer wie im 3. Saisonkonzert des Collegium Novum Zürich (CNZ) unter Michael Wendeberg am 18. Dezember. Éclat-Multiples steht dort neben (Re)incarnation [Yerlik]: ein zentrales Werk von Pierre Boulez aus dem Jahr 1970 neben jenem eines 34 Jahre jungen Komponisten, dessen Namen die wenigsten bei uns kennen dürften. Der Kasache Sanzhar Baiterekov verarbeitet darin einen alten tengristischen Mythos aus seiner Heimat, in dem es um Unterwelt und Wiedergeburt geht.

Solche Begegnungen haben beim CNZ durchaus Tradition. Seit seiner Gründung 1993 verfolgt es diese doppelte Aufgabe. Einerseits führt es die wichtigen Werke der Neuen Musik auf, die gleichsam einen Standard setzen und für die Bildung der MusikerInnen, aber auch des Publikums von Bedeutung sind. Damit hat das CNZ sich seinen festen Platz im Zürcher Musikleben erarbeitet. Einige MusikerInnen sind seit der Gründung mit von der Partie.

Andererseits sucht das Ensemble das junge, unbekannte: die Herausforderung und Öffnung. Eine „Musik, in der sich das Morgen ankündigt“ möchte auch der Cellist und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Vor zwei Jahren übernahm er die künstlerische Leitung und Geschäftsführung. Seine erste Saison fiel coronahalber reduziert aus.

 

Portrait Johannes Knapp ©Alessandra Carosi

 

Nur vier Konzerte konnten vor kleinem Publikum stattfinden. Deshalb wurden einige Auftritte für Idagio gestreamt. Zudem nahm das Ensemble drei CD-Projekte in Angriff, die heuer fertiggestellt werden sollen, etwa je eine CD mit Musik von Boulez und des Westschweizers William Blank sowie eine Reihe von Schüler-Lehrer-Doppelporträts wie Heinz Holliger/Sándor Veress oder Klaus Huber/Willy Burkhard. Hubers „Erinnere dich an Golgatha“ stand deshalb am Anfang der neuen Saison.

 


Klaus Huber, Psalm of Christ, Collegium Novum Zürich, Bariton: Robert Koller, Dirigent Heinz Holliger, Tonhalle Zürich, Eigenproduktion SRG/SSR 2015

 

Mythen und Legenden

Diesmal liegt ein Fokus auf Mythen und Legenden in aktueller Musik. Das eher als anregende Ausgangsidee denn als durchgängiges Motto. Mythen, so meint Knapp, hätten eine tiefe Verbindung zur Musik, weil sie ebenfalls jenseits von Logik und Worten funktionieren und sich nicht eindeutig fixieren lassen. Es seien Versuche, mit dem Ungewissen, ja dem Schrecken umzugehen.

Und so tauchen in diesen Programmen berühmte Mythen auf: Orpheus in Orpheus falling von Sarah Nemtsov, der Schöpfungsmythos (6. Tag) in Eufaunique von Stefano Gervasoni, der ägyptische Sonnengott Ra in Sortie vers la lumière du jour von Gérard Grisey. Die in Bern lehrende Cathy van Eck wird für den Daphne-Mythos in ihrer neuen Performance die Tonhalle in einen „Wald verwandeln, durch den der Wind weht.“

 


Gérard Grisey: Sortie vers la lumière du jour (1978), Ensemble Phoenix Basel, Leitung Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG/SSR, Gare du Nord Basel 2016

 

 

Schliesslich erscheinen Tierlegenden von Igor Strawinsky (Renard), Ruth Crawford Seeger oder Frank Zappa, die am Ende der Spielzeit erklingen. Der Rockmusiker war in seinen Anfängen stark von Edgard Varèse und Strawinsky beeinflusst.

 

Begegnung mit Barockinstrumenten

 

Andererseits werden in solchen Programmen auch die absolutistischen Dogmen Neuer Musik hinterfragt. Warum muss neue Musik immer „neu“ klingen“? Kann sie nicht historische Grenzen überwinden? So kommt es zur Begegnung mit Barockinstrumenten, konkret mit La Scintilla, der Alte Musik-Formation der Zürcher Oper. Der Franzose Philippe Schoeller schreibt dafür ein neues Werk. Kátoptron und erzählt den antiken Mythos von Echo und Narziss neu.

Sie sind also unterwegs. „Crazy nomads of Zurich“ formulierte ein Spassvogel einmal das Kürzel CNZ aus, weil das Ensemble keine feste Spielstätte hat. Stattdessen sucht es immer wieder neue Spielorte auf, heuer die Krypta des Grossmünsters. Und so notiert Knapp denn auch in seinem Saisoneditorial: „Reisen als ein Erwandern von Klanglandschaften mit dem Ohr. Kunst heisst, nie anzukommen.“
Thomas Meyer

 

Pierre Boulez, Sanzhar Baiterekov, Sarah Nemtsov, Stefano Gervasoni, Gérard Grisey, Frank Zappa, Igor Strawinsky, Ruth Crawford Seeger, Edgar Varèse, La Scintilla, Philippe Schoeller, Emilio PomàricoChristoph Delz, Dahae BooKelley SheehanMichael Wendeberg

 

Portrait Collegium Novum Zürich @Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Kommende Konzerte CNZ:
Grosse Tonhalle Zürich, 30.10.21: And falls into the Netherworld, Dirigent: Emilio Pomàrico, Werke von Sarah Nemtsov, Aureliano Cattaneo, Rebecca Saunders, Stefano Gervasoni
Grosse Tonhalle Zürich, 4.12.21: Konzert 3, Dirigent: Johannes Schöllhorn, Stefan Wirth Klavier; Werke von Kelley Sheehan, Tobias Krebs, Dahae Boo, Christoph Delz

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 1.12.21: Konzert CNZ, Tonhalle Zürich, 30.10.21

neo-profiles:
Collegium Novum Zürich, William Blank, Heinz Holliger, Sandor Veress, Klaus Huber, Willy Burkhard, Cathy van Eck, Gare du Nord, Ensemble Phoenix Basel, Rebecca Saunders, Tobias Krebs

Sprache mischt sich in Musik ein

Musik und Sprache sind vielfältig verflochten. Dem weiten Spektrum geht die diesjährige Darmstädter Frühjahrstagung anhand von Lectures, Roundtables und Konzerten auf die Spur. Zu erleben sind die Slam-Poetin Nora Gomringer oder die Sopranistin Sarah Maria Sun wie auch das ensemble proton bern.
Erstmals online – live gestreamt vom 7. bis zum 10.April 2021.

INMM 2021 Verflechtungen II © zVg INMM

Thomas Meyer
Darmstadt, die ehrwürdige und traditionsreiche Stadt in Hessen, die als „Zentrum des Jugendstils“ gilt, ist auch für die Musik des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Sie beherbergt nicht nur das Jazz-Institut mit dem europaweit bestbestückten Archiv. Alle zwei Jahre finden dort im Sommer auch die berühmten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik statt, bei denen sich die besten DozentInnen mit dem Nachwuchs treffen, dozieren und diskutieren. Seit der Gründung 1946 ist Darmstadt ein Ort der Diskussion, an dem die ästhetischen Richtungen vorgegeben werden – der wichtigste Ort neben Donaueschingen. Die Stadt hat der von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen angeführten Avantgarde denn auch den Namen gegeben: die Darmstädter Schule.

Etwas weniger bekannt ist, dass damals auch eine Frühjahrstagung ins Leben gerufen wurde, in der es zwar auch um Neue Musik, in der künstlerischen Produktion und in der Musikwissenschaft, geht, vor allem aber um ihre Vermittlung gerade in der Musikpädagogik. Veranstalter ist das ‘Institut für Neue Musik und Musikerziehung’ (INMM). Der Verein bietet im Rahmen der Frühjahrstagungen auch Kompositionskurse für Kinder und Jugendliche an und initiierte das Forschungsprojekt ‘Campus Neue Musik’, das kooperative Kompositionsprojekte mit Schulklassen begleitet.


INMM Trailer Konzert mit Sarah Maria Sun, 9.4.21 ©INMM 2021

Die Tagung wird seit jeher von einem Kollektiv-Vorstand aus Künstler*innen, Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen vorbereitet und durchgeführt, was in der Zusammensetzung den Gedanken der Kooperation verkörpert. Es versteht sich, schreibt das INMM auf seiner Homepage, als „Forum des interdisziplinären Diskurses zwischen Produktion, Reproduktion und Reflexion innovativer künstlerischer Konzepte der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit und ihrer musikpädagogischen Vermittlung“. 

Brandaktuelle Themen und Grenzbereiche

Zur Diskussion standen dort seit je brandaktuelle Themen und Grenzbereiche, in den letzten Jahren etwa zur Körperlichkeit, zu Film/Video oder zum Aufeinanderprallen von Kulturen. „Wir möchten schauen, wie unterschiedliche Dinge zueinander kommen“, sagt der Musikwissenschaftler Till Knipper, der im Vorstand mitwirkt. Heuer stehen die vielfältigen Verflechtungen von Wort und Sprache mit der Musik zur Debatte – ein uraltes, eigentlich fast fundamentales Thema, das aber noch etliches Potenzial birgt. Ja, in der Neuen Musik öffnen sich dafür ganz neue Bereiche, die in der Tagung diesmal thematisiert werden sollen.

Annette Schmucki musikalisiert Sprache: Skizze © zVg Annette Schmucki

Die Pandemie lässt ein Live-Durchführung nicht zu. Erstmals läuft nun alles übers Internet, nach einem klugen Zeitplan, bei dem man nicht mit Material überfüttert wird. Zum einen sind da vorproduzierte Beiträge, die man sich online anschauen kann. Sie bieten quasi ein künstlerisches Statement zu dem, was ab 16 Uhr erst in Lectures und ab 18 Uhr in Roundtable-Gesprächen thematisiert wird. Der Abend ist Performances bzw. Konzerten vorbehalten. Die Verbindung von Musik und Sprache bietet da ein weites Spektrum. Gewiss kommt dabei auch die herkömmliche Art des Vertonens vor. Sie steht am zweiten Tag auch im Zentrum, aber so herkömmlich gerät sie dann doch auch wieder nicht, etwa wenn die Slam-Poetin Nora Gomringer mit Günter Baby Sommer interagiert, einem Schlagzeuger, der einst schon mit Günter Grass auftrat.

Nora Gomringer und Günter Baby Sommer © zVg INMM 2021

Am ersten Tag werden die Verflechtungen bis hinein ins Theatrale aufgenommen, am dritten meldet sich die Stimme selber zu Wort (und Ton), eben jenes so individuelle wie belastbare Transportmedium. The Voice gehört diesmal der herausragenden Sopranistin Sarah Maria Sun.
Sie performt bzw. singt zum Beispiel neue Lieder des Deutschen Rolf Riehm und des Kanadiers Thierry Tidrow. Er fügt seinen Morgenstern-Vertonungen eine Subebene aus emoticons hinzu.


Rolf Riehm, Ausschnitte aus Liederzyklus nach Heine / Hölderin, Der Asra, Orpheus Euphrat Panzer, Hyperions Schicksalslied, Sarah Maria Sun, Jan Philip Schulze, UA INMM 2021

Zum samstäglichen Abschluss gibt’s mit den «Transformationen» einen helvetischen Schwerpunkt. Beim Konzert des ensemble proton bern ist kein Text, zumindest kein herkömmlicher, zu vernehmen, vielmehr wird Sprache in Musik verwandet, und das kommt nicht von ungefähr, denn die Schweiz verfügt über einige besondere Worttonkünstler*innen: Komponist*innen, die Sprache eben auch in blosse Töne transferieren und transformieren und dabei zu erstaunlichen Resultaten gelangen.

Vorbilder in der ältesten Generation gibt es etliche wie Heinz Holliger, Urs Peter Schneider oder Roland Moser. Da kann es – wie bei Moser – auch mal vorkommen, dass nur die Interpunktion eines Texts musikalisiert wird.

Und die Jüngeren sind ihnen gefolgt, haben weiterentwickelt, Neues eingebracht. Die Komponistin Annette Schmucki etwa gehört hierher, die gerne von Wortlisten ausgeht, sie analysiert und durchdringt und daraus ihre Musik entstehen lässt: Auf vielerlei Ebenen: Mal wird der Text einfach gesprochen, mal erscheint die Sprache als Notenbild, mal prägt sie die Struktur der Musik Ihr brotkunst… /54 Stück/farbstifte papier tabak basiert zum Beispiel auf Texten von Adolf Wölfli. Was es wohl mit ihrer neuen Komposition drei möbelstücke auf sich hat?


Annette Schmucki, brotkunst / 54 stück / farbstifte papier tabak, UA ensemble proton bern 2016

Daniel Ott, der Gründer des Festivals Rümlingens, der heute mit seinem Kollegen Manos Tsangaris die Münchner Biennale für Neues Musiktheater leitet, war immer auch politisch motiviert. Eine seiner ersten Kompositionen, molto semplicemente für Akkordeon solo entstand vor dem Hintergrund des Basler Chemiebrandes 1986 und brachte das auch zur Sprache. In 6/7 Gare du Sud geht er von der unzumutbaren Situation aus, der sich MigrantInnen im Bahnhof Chiasso konfrontiert sehen: Alltägliches fliesst in die Musik ein. Das sind ungewöhnliche Umsetzungen, die neuartige Aspekte des Sprachmaterials zutage fördern.

Von Isabel Klaus erklingt ein älteres Werk aus dem Jahr 2013: and then? für Kontraforte (eine neuentwickelte Art Kontrafagott) und Ensemble. Und es zeigt die Liebe dieser Komponistin zum Schrägen, etwas Absonderlichen, zum Beharrlichen und leise-verspielt Kabarettistischen.
Eine Sprachvertonung ist das nicht mehr, viel mehr mischt sich der Dirigent nicht nur gestisch, sondern auch sprechend in die Musik ein. Ja, manche hätten die Musik gerne textlos rein, aber so puristisch ist sie nun einmal nicht immer zu haben…
Thomas Meyer

Annette Schmucki Skizze © zVg Annette Schmucki

Die 74. Frühjahrstagung des INMM – Verflechtungen II Musik und Sprache in der Gegenwart- findet vom Mittwoch 7. bis zum Samstag 10. April 2021 online statt: alle Veranstaltungen sind öffentlich und kostenlos zugänglich.
Die Vorträge von Christa Brüstle und Christian Grüny sind bereits jetzt online.

Konzerte:
Donnerstag, 8.4., 20h: Betrommeltes Sprachvergnügen, Nora Gomringer und Günter Baby Sommer
Freitag, 9.4., 20h: Sarah Maria Sun, Kilian Herold, Jan-Philipp Schulze
Samstag, 10.4., 20h: ensemble proton bern: Werke von Annette Schmucki, Isabel Klaus, Daniel Ott, Lauren Redhead

Nora Gomringer, Günter Baby Sommer, Rolf Riehm, Thierry Tidrow, Adolf Wölfli, Manos Tsangaris, Münchener Biennale für Neues Musiktheater, Christa Brüstle, Christian Grüny

neo-Profiles
Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Roland Moser, Annette Schmucki, Daniel Ott, Neue Musik Rümlingen, Isabel Klaus, Sarah Maria Sun, ensemble proton bern

Ungläubig, aber hoffend

Seit Lancierung von neo.mx3 machen die vier Sender der SRG auch Archivaufnahmen der Schweizer musikalischen Avantgarde sukzessive zugänglich. Inzwischen ist bereits ein enormer Fundus an raren Aufnahmen nach zu hören. Der neoblog macht immer wieder punktuell auf einzelne Musikschaffende, Ensembles oder wichtige Werke aufmerksam.
Der Basler Komponist Jacques Wildberger (1922–2006) -und sein Bezug zu Paul Celan- bilden den Einstieg.

Corinne Holtz: Jacques Wildberger vertont Paul Celan

Paul Celan (1920–1970) kam vor 100 Jahren als Paul Antschel in Czernowitz im damaligen Grossrumänien zur Welt. Er ist einer der meistvertonten deutschen Dichter und prägte über 50 Jahre Musikgeschichte. Der Schweizer Komponist Jacques Wildberger wandte sich in seinem letzten Werk noch einmal Celan zu.

Jacques Wildberger erläutert sein Komponieren ©zVg Michael Kunkel

Im April 1953 erreicht ein Zirkular die Vorstandsmitglieder des Schweizerischen Tonkünstlervereins. Es betrifft das Aufnahmegesuch des Schweizer Komponisten Jacques Wildberger. Unter den beigelegten Partituren findet sich das Trio für Oboe, Klarinette und Fagott aus dem Jahr 1952, entstanden nach Ende des strikten Studiums bei Wladimir Vogel im Tessin. Wildberger stösst mit seinen ersten eigenständigen zwölftönigen Arbeiten auf offene Ablehnung. „Niemand wird diese Werke je annehmen. Wir werden sie nie hören müssen und können darum ruhig Aufnahme beschliessen.“ Diese zynisch anmutende Bemerkung stammt von Paul Sacher, dem Mäzen und Dirigenten neuer Musik.

Jacques Wildberger: Trio für Oboe, Klarinette und Fagott, 1952, Eigenproduktion SRG/SSR

Sacher ist seit 1946 Präsident des Schweizerischen Tonkünstlervereins. Er hat damals zentrale musikpolitische Ämter inne und wird das Schweizer Musikleben über fünf Jahrzehnte massgeblich prägen.

Jacques Wildberger steht für die von Sacher als „konstruiert“ und „rabiat“ bezeichnete „12-Ton-Technik“. Ausserdem vertritt er politische Ansichten, die in der Schweizer Nachkriegszeit verdächtig sind. Wildberger ist drei Jahre lang Mitglied der PdA (Partei der Arbeit) und bleibt auch nach seinem Austritt 1947 – aus Protest gegen Stalins Regime – bekennend links.

Der Kampf um die Möglichkeit von Hoffnung

Ein Kerngedanke von Wildbergers Musik ist „der Kampf um die Möglichkeit von Hoffnung“. Die Hoffnung, dass es einmal besser und gerechter kommt. Obwohl ungläubig, bekennt sich Wildberger zur Auslegung, wie sie im Hebräerbrief 11,1 dargestellt ist: Der Glaube sei eine gewisse Zuversicht dessen, was man hofft.

Dieses Bekenntnis gilt es kompositorisch auszuleuchten: erstmals 1978 in An die Hoffnung für Sopransolo, Sprecher und Orchester.

Jacques Wildberger, An die Hoffnung (1978/79), Sylvia Nopper, Sopran, Georg Martin Bode, Sprecher, Sinfonieorchester Basel, Dirigent Heinz Holliger

Zuletzt dann in Tempus cadendi, tempus sperandi für gemischten Chor und sechs Instrumentalisten, 1998/99 im Auftrag des SWR Stuttgart geschrieben. Die Kantate gleicht einem Vermächtnis des 78jährigen Komponisten. Erneut komponiert Wildberger ein Mahnmal für die ermordeten Juden. Paul Celans Gedichte Tenebrae und Es war Erde in ihnen bilden die Mitte der vierteiligen Kantate.

Tenebrae im Licht von Celan und Wildberger ist ein Tabubruch. Der Dichter tritt als Gotteslästerer auf. Er fordert: Gott muss beten, nicht der Mensch. Der Komponist nimmt diese Übertretung beim Wort und schreibt einen reihenmässig organisierten Protestsong. Wildberger kehrt kompositorisch überhöht zu den Kampfliedern seiner Jugend zurück, die er für das Basler Arbeiterkabarett ‚Scheinwerfer‘ und die Neue Volksbühne Basel geschrieben hat.

Jacques Wildberger: Wir wollen zusammen marschieren, Eigenproduktion SRG/SSR

Jacques Wildberger am Klavier mit den ‘Kampfliedern’ ©zVg Michael Kunkel

Celan kannte die expressiven Tenebrae-Vertonungen des französischen Barockkomponisten Marc Antoine-Charpentier. Dieser schrieb 31 konzertante Motetten mit Instrumenten auf die Klagelieder des Jeremias. Statt den Zorn über die Zerstörung der jüdischen Tempel zu inszenieren, komponierte Charpentier tröstliche Musik für die Karwoche, die dunkelsten Tage im Kirchenjahr. Celan liess sich ausserdem von Friedrich Hölderlins Patmos-Hymne anregen. Aus ‚Nah ist und schwer zu fassen der Gott‘ wird bei Celan ‚Nah sind wir, Herr, nahe und greifbar.‘ Dann blendet der Dichter in die Gaskammern. ‚Gegriffen schon, Herr, ineinander verkrallt, als wär der Leib eines jeden von uns dein Leib, Herr.‘ Am Schluss steht ein Imperativ: ‚Bete, Herr. Wir sind nah.‘

Paul Celan liest Tenebrae

Wildberger nimmt diesen Tonfall auf und erzeugt in seinem 2 Minuten 30 Sekunden kurzen Satz mit sparsamsten Mitteln höchste Intensität. Peitschenhiebe von Schlagzeug und vierhändig gespieltem Keyboard eröffnen die Musik und mischen sich als Signal immer wieder ein. Tenebrae ist mit Agitato und der Tempovorschrift Viertel=108 überschrieben. Gott braucht die Peitsche, um hinzuhören. Dann erst setzt der Chor ein: achtstimmig vervielfacht, homofon geführt und mit rhythmischen Verschiebungen wie eine Versammlung unterschiedlichster Stimmen. Die Musik stellt sich als Weckruf hinter den Text: ‚Nah sind wir Herr, nahe und greifbar‘.

In Takt 10 wird der Herr fortissimo angeschrien. Wildberger verstärkt die mit Akzent versehene Note mit der Vortragsbezeichnung gridato (geschrien). Fünf Takte lang folgt ein ‚ineinander verkralltes‘ Fortissimo.

Dann beginnt mit ‚Bete, bete zu uns‘ ein ruhiger Formteil. Auf das Schreien folgt das Flehen: gesungen, gesprochen und im stimmlosen ‘nn-ah’ endend. Eine Generalpause markiert hier, bereits im Takt 20, die Mitte des 41 Takte langen Stücks.

Wildberger setzt neu an und lässt den Protest stufenweise ab Celans Textzeile ‘windschief gingen wir hin’ wachsen. Die Musik endet wie der Text als chorischer Imperativ: ‘Bete, Herr, wir sind nah’.

Wildbergers Flughöhe wird in diesem solitären Zugriff auf Celan noch einmal deutlich. Statt den Dichter und sein Lebensdrama wie sonst üblich zu transzendieren, lädt Wildberger zu Widerstand und Handeln ein. «Ich habe nicht das Recht, Hoffnung zu verordnen» – Hoffnung zu komponieren hingegen schon, mit musikalischen Mitteln auf der Höhe der Zeit.
Corinne Holtz

Jacques Wildberger am Bahnhof Karlsruhe ©zVg Michael Kunkel

Weitere Werke von Jacques Wildberger sind auf seinem Neo-Profil nachzuhören, oder auf der zugehörigen Playlist.

Sendung SRF 2 Kultur
:
Musik unserer Zeit, 18.11.20: Lieder jenseits der Menschen – Paul Celan und die Musik, Redaktion Corinne Holtz
darin: Jacques Wildberger, Tenebrae, Tonbeispiel ab Min 53.36

«neuen Stimmen Gehör verschaffen…»

Folge 3 der Neoblog-Portraits zum Schweizer Musikpreis 2020:

Swiss Chamber Concerts (SCC), so heisst die erste und einzige die ganze Schweiz umspannende Konzertserie mit viel Neuer Musik. Seit Beginn im Jahr 1999 präsentiert sie laufend Uraufführungen aus allen Landesteilen – insgesamt sind es bereits gegen 200. Nun erhielten die SCC den Schweizer Musikpreis 2020.

Swiss Chamber Concerts live © Miguel Bueno

Gabrielle Weber
Den Ausschlag zum Start der Konzertreihe Swiss Chamber Concerts gab die enge musikalische Freundschaft der drei Gründungsmitglieder.

Den Genfer Cellisten Daniel Haefliger, den Basler Flötisten Felix Renggli und Jürg Dähler, Geiger und Bratschist in Zürich, verband die Vision, ihre eigenen, in den drei Städten bestehenden Kammermusikreihen miteinander zu vernetzen. Im Herbst 1999 fand dann die erste nationale Konzertserie statt, unter Mitwirkung von Heinz Holliger, Wegbegleiter bis heute.

Daniel Haefliger sprach mit mir per Zoom aus Genf über Einzigartigkeit und Herausforderungen der SCC. Das Gespräch führten wir auf Französisch. Haefliger ist nicht nur als Cellist ständig unterwegs; zum Gespräch fand er sich nach einer kleinen Schweiz-Rundreise im Zug, den er als seine zweite Heimat und Arbeitsort bezeichnet: zunächst Bern, zur Koordinierung der Saison der SCC, dann Sion, zur Festlegung des Streichquartettunterrichts der Haute Ecole de Musique, und zurück in Genf zur Arbeit an der Homepage der SCC.

Herzliche Gratulation zum Musikpreis! Waren Sie überrascht? Was bedeutet für Sie dieser Preis ?

Wir waren sehr überrascht. Denn für unsere Arbeit erhalten wir in der Regel wenig Anerkennung durch die Institutionen, obwohl unser Publikum zahlreich und begeistert ist. Wir kreieren mit unserer Reihe übers ganze Jahr eine Verbindung zwischen den verschiedenen Sprachregionen und verschaffen regelmässig neuen Stimmen Gehör. Das ist eine komplexe Herausforderung, bei der wir vielfältigen Widerständen begegnen. Denn die Schweizer Musikszene ist in viele lokale Einheiten unterteilt, die kaum zusammenarbeiten. Unser Ideal ist: die gesamte Schweiz in einem gemeinsamen musikalischen Projekt zu verbinden.

Was inspiriert Sie?

Zweierlei: Zum einen als Cellist der musikalische Dialog mit aussergewöhnlichen Solisten und Solistinnen – auf der Bühne und persönlich ausserhalb; zum andern als Inhaber des Lehrstuhls für Kammermusik an der Musikhochschule Lausanne (site de Sion) meine Arbeit mit jungen Musikern und Musikerinnen. In beiden Bereichen versuche ich zu kommunizieren, zu vermitteln und zu vernetzen über Alter, Sprachen und Kulturen hinaus.

“La jeunesse m’inspire et me passionne..”

Brachte die Pandemie Auswirkungen auf die SCC mit sich?

Es ging uns ähnlich wie allen. Wir mussten alle Konzerte gegen Ende der Saison absagen. Direkt nach den Lockerungen spielten wir zusammen mit Heinz Holliger und Thomas Zehetmair ein Konzert mit freiem Eintritt, am 30. Juni in Genf. Es war ein grosser Erfolg und gab uns allen Antrieb für die nächste Saison.

Die SCC sind ein Brückenbauer zwischen den einzelnen Landesteilen: wie kommt die Zusammenarbeit zwischen Städten zu Stande?

Wir bauen auf der Basis unserer persönlichen Beziehungen auf.  Nur so gelingt es, starre kantonale, städtische und institutionelle Vorgaben zu umgehen, die ein Zusammenarbeiten über die Region sonst kaum fördern.


Bettina Skrzypcak, ..e subito parlando, Swiss Chamber Soloists UA 2012

 

„Wir hinterfragen permanent den eigenen Standpunkt.“

Programmieren Sie gemeinsam – Sie sind ja drei künstlerische Leiter?

Was in welchen Städten gespielt wird und an wen wir Kompositionsaufträge verleihen, entscheiden wir in der Regel gemeinsam. Dabei berücksichtigen wir die Nähe der einzelnen Regionen zu den Szenen im nahen Ausland: Genf zu Frankreich, Basel zu Deutschland, Lugano zu Italien.

Andererseits hinterfragen wir permanent den eigenen Standpunkt und passen uns in gewissem Rahmen dem jeweiligen Aufführungsort und Kulturraum an.


Nadir Vassena, archeologie future

Wie gestalten Sie Ihre Programme?

Unsere Konzertprogramme enthalten einen hohen Anteil an Uraufführungen von Komponierenden aus allen Landesteilen. Die neuen Werke zeigen wir immer im Dialog mit grossen Werken des Repertoires, um die Kontinuität in der Musik zu unterstreichen. Unsere Reihe spricht ein offenes breites Publikum an, vor dem sich die neuen Werke bewähren können und müssen.

Wie kommt die Kombination von Klassikern mit zeitgenössischen Werken und Uraufführungen beim Publikum an? Hat sich das über die Jahre verändert?

Wir verbinden nicht nur die neuen Werke inhaltlich mit dem bestehenden Repertoire, sondern tauschen uns mit den Komponierenden laufend zum gesamten Programm aus. Jedes Konzert ist ein in sich stimmiges Ganzes mit eigener Dramaturgie. Dadurch wird die Einzigartigkeit jedes Stücks unterstrichen und es entsteht eine Intensität des Gesamtprogramms. Wir gehen so auf das vermehrte Bedürfnis des Publikums ein, eine Geschichte zu hören.

Gibt es Unterschiede bei den Publikumsreaktionen in den verschiedenen Landesteilen?

Die Städte in den verschiedenen Landesteilen haben ein recht unterschiedliches „kulturelles Tempo“. Die Schweiz ist genau aufgrund dieser heterogenen kulturellen Identitäten so reich. Wir wollen dieser Diversität einen Wert verleihen, indem wir neue Stücke aus der ganzen Schweiz in der ganzen Schweiz zirkulieren lassen. Das ist gleichzeitig eine der Herausforderungen.

Gibt es in der nächsten Saison Uraufführungen, auf die Sie sich speziell freuen?

Kommende Saison haben wir 12 Uraufführungen, u.a. von Nadir Vassena aus dem Tessin, von Heinz Holliger aus Basel, von David Philip Hefti aus Zürich, Xavier Dayer aus Genf. Die verschiedensten Besetzungen sind zu hören, unter anderem Bläsersextett, Cellosolo, Streichtrio, Streiquartett, Stimme und kleines Ensemble. Mir vorzustellen wie diese diversen Stücke klingen werden, darauf freue ich mich immer besonders.

Die Saison beginnt in Bern, im Yehudi Menuhin Forum, am 24. September mit einem Konzert mit Heinz Holliger und Thomas Zehetmair – die Replik des Konzerts vom 30.6. in Genf.


Heinz Holliger, Aleh stavi for Cello solo: Solist Daniel Haefliger

Haben Sie eine Vision, die sich noch nicht verwirklichen konnten? Hat der Preis vielleicht gerade jetzt – rund um die Pandemie – eine besondere Bedeutung?

Visionen haben wir bereits zahlreiche verwirklicht, so die internationale Swiss Chamber Academy und die Swiss Chamber Camerata, die junge professionelle Musiker und MusikerInnen aus dem In- und Ausland zusammenführen. Aber Visionen und Ideale zu verwirklichen kostet Geld. Vielleicht (oder hoffentlich) wird uns dieser Preis dazu verhelfen, etwas höhere finanzielle Beiträge zu erhalten, um langfristigere Verbindungen zwischen den Regionen zu stärken. Aktuell planen wir ja quasi “auf Armeslänge”. Seit Bestehen der SCC ist unsere Arbeit nur mit einem enormen persönlichen Aufwand und viel ehrenamtlicher Arbeit möglich geworden: Wir denken oft an den Gott Shiva mit seinen vielen Armen …
Interview: Gabrielle Weber

 

Daniel Haefliger © Nicolas Schöpfer

 

Die Swiss Chamber Concerts wurden 1999 gegründet von Daniel Haefliger, Felix Renggli und Jürg Dähler. Es folgte die Gründung der Swiss Chamber Soloists, ein fester Pool aus international gefeierten InstrumentalsolistInnen, der die Reihe bespielt, später der Swiss Chamber Academy in Genf, einer national-internationalen Streichquartett-Akademie und der Swiss Chamber Camerata ebenfalls in Genf.
Alle Konzerte der SCC sind in Lugano, Genf, Basel, Zürich und ab dieser Saison auch in Bern zu hören.

Swiss Chamber Concerts, Liste Ur- & Erstaufführungen 1999-2020

Konzert 18.9.20: Festival Label Suisse, 18.9.20.: 21.15h, Werke von: Rudolf Kelterborn, Xavier Dayer, Mozart, Villa-Lobos

Konzert 24.9.20: Yehudi Menuhin Forum Bern:
Heinz Holliger, Thomas Zehetmair, Ruth Killius, Daniel Haefliger

Sendung SRG/RSI: RSI-Neo, 25.8.2020:
Incontro con Daniel Haefliger, Redaktion Valentina Bensi

Neo-Profiles: Swiss Chamber Soloists, Jürg Dähler, Heinz Holliger, Nadir Vassena, David Philip Hefti, Xavier DayerRudolf Kelterborn, Bettina Skrzypczak, Swiss Music Prize

Der Tausendsassa der Neuen Musik

Heinz Holliger zum 80. ist das nächste Konzert der Basel Sinfonietta gewidmet. Bei dieser Gelegenheit wird die neue SRG-Plattform neo.mx3.ch für die Deutsche Schweiz lanciert.

Heinz Holliger © Daniel Vass

Thomas Meyer
„Tausendsassa“ ist das dritte Konzert dieser Saison überschrieben, das die Basel Sinfonietta unter der Leitung von Peter Rundel vorstellt. Mit dem Titel gemeint ist jener Schweizer Komponist, Oboist, Dirigent, Pianist u.a., der seit über sechs Jahrzehnten massgeblich am Glanz helvetischen Musikschaffens beteiligt ist: Heinz Holliger. Es kommt mir ein bisschen überflüssig hervor, hier nochmals all die Verdienste dieser Musikerpersönlichkeit aufzuzählen, die er sich dabei erworben hat, angefangen von seinen vorzüglichen Interpretationen über seinen instrumentalen Erfindungsreichtum (die Oboe klingt nach Holliger anders als früher) bis hin zu seinen Kompositionen, ganz abgesehen von seiner Begeisterung für seine KollegInnen und für die Literatur. Der Platz würde ohnehin nicht reichen.

Vielmehr möchte ich – das als persönliche Reminiszenz – den unbedingten, glühenden Furor hervorheben, mit der sich dieser Vollblutmusiker engagiert. Begegnet bin ich ihm erstmals, als ich vor vielen Jahrzehnten seinen Siebengesang hörte. Vom ersten Ton der Oboe weg bleibt man durchdrungen von dieser Musik, die sich in all den Jahrzehnten zwar deutlich gewandelt, dabei aber nichts von ihrer Intensität verloren hat. 


Heinz Holliger, (S)irato, Monodie für grosses Orchester (1992), Basel Sinfonietta Musicaltheater Basel 2020

Nach seinem 80. Geburtstag am vergangenen 21. Mai ist ihm vielerorts gehuldigt worden. Er hat es angenommen – und sich bei der Gelegenheit weiter für die Musik eingesetzt. Die Musik-Akademie Basel, wo er allerdings nie studierte oder fest unterrichtete, hat so derzeit einen Fokus auf Holliger gesetzt. Bis 9. März noch sind zahlreiche Veranstaltungen angesagt. In der Vera Oeri-Bibliothek ist zudem eine höchst informative Ausstellung über den Musiker zu sehen.

Der komponierende Interpret

Und nun erscheint seine Musik auch bei der Basel Sinfonietta, gleich in mehreren Facetten. Da ist zum einen der Komponist mit seinem Orchesterstück (S)irató von 1992. Da ist aber auch der komponierende Interpret in den beiden Liszt-Transkriptionen, bei denen Holliger nicht einfach späte Klavierstücke orchestriert, sondern sie gleichsam ins Orchester weiterkomponiert hat. Es sei der „Versuch, die beiden wie erratische Blöcke, aber auch wie Wegweiser ins Unbekannte in der Musiklandschaft des späten 19. Jahrhunderts stehenden Enigmen des alten Liszt „hinüber zu schieben“ (zu transkribieren) in meine eigene Art zu sprechen, zu denken, – die Stücke aus meinem Unterbewusstsein wieder heraufzuholen…“

Heinz Holliger © Priska Ketterer / Lucerne Festival
Heinz Holliger © Priska Ketterer/ Lucerne Festival

Schliesslich setzte sich Holliger ja zeitlebens für die Musik seiner KollegInnen ein, gab Aufträge für neue Oboenstücke oder dirigierte ihre Stücke.
So ist hier das Orchesterwerk Tenebrae des 2017 verstorbenen Klaus Huber zu hören.


Klaus Huber, Tenebrae für grosses Orchester (1966/67), Basel Sinfonietta, Musicaltheater Basel 2020

Ausserdem erklingt ein ganz junges Werk. Die Schweizer Erstaufführung des deutschen Komponisten, Pianisten und Sänger Steffen Wick: Autobiography, ein Auftragswerk der Basel Sinfonietta, beschreibt jenen Moment, in dem ein ganzes Leben kondensiert an einem vorbeigleitet.

Steffen Wick, Autobiography, UA 2020 Basel Sinfonietta

Deutschschweizer Lancierung neo.mx3

Vorgestellt wird bei dieser so günstigen Gelegenheit schliesslich auch diese neue gesamthelvetische Plattform für zeitgenössisches Schweizer Musikschaffen, die die SRG im Sommer 2019 als Pilotprojekt lanciert hat: neo.mx3.ch.
Sie bietet einen Einblick insbesondere ins aktuelle komponierte wie improvisierte Musikschaffen hierzulande. Aber auch internationale Ereignisse mit Schweizbezug werden reflektiert wie kürzlich die Uraufführung der neuen Oper „Orlando“ von Olga Neuwirth in Wien mit Beteiligung des Schweizer Perkussions-Solisten Lucas Niggli.

Es ist ein Ort der Vorschauen, Porträts und Debatten, aber auch der Diskussionen in dem von Redaktorin Gabrielle Weber betreuten neo-blog. Zudem können sich Musikschaffende, Ensembles und Kulturinstitutionen hier selbst präsentieren, in Ton, Video, Bild und Text.
Endlich – muss man sagen, denn neo.mx3.ch schliesst eine lange klaffende Lücke im Schweizer Musikleben.

Angesagt ist nun also die offizielle Deutschschweizer Eröffnung: Im Rahmen des Konzerts stellen wir neo.mx3 mit einem kurzen Surprise-Talk erstmals einem Publikum in der deutschen Schweiz vor – und in der Pause gibt es eine weitere kleine Surprise..
Thomas Meyer

Über Ihre Kommentare auf dem neoblog zu Text, Konzert, neo.mx3-Launch oder auch zu den Heinz Holliger-Sendungen auf SRF 2 Kultur freuen wir uns!

2.2.2020, 19h, 3. Abo-Konzert Basel Sinfonietta, Musicaltheater Basel, Leitung: Peter Rundel
18:15h Einführung: Florian Hauser im Gespräch mit Heinz Holliger

Programm:
Heinz Holliger, Zwei Liszt-Transkriptionen (1986)
Klaus Huber, Tenebrae (1966/67)
Stephen Wick, Autobiography (2017, CH-Erstaufführung)
Heinz Holliger, (S)irató (1992)

Lancierung neo.mx3: Nach der Pause: Surprise-Talk:
Florian Hauser im Gespräch mit:
Barbara Gysi, Leiterin Radios & Musik SRF Kultur
Gabrielle Weber, Redaktorin / Kuratorin neo.mx3
Katharina Rosenberger, Komponistin

Basel Sinfonietta, Heinz Holligersonic space Basel / FHNWMondrian Ensemble, Klaus HuberSteffen Wick

SRF 2 Kultur
:
Kultur-Aktualität, 21.6.2019: Neue Schweizer Plattform für zeitgenössische Musik

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 15.1.2020, 20h: Heinz Holliger und die Literatur
Neue Musik im Konzert, Mittwoch, 15.1.2020, 21h: Portraitkonzert Heinz Holliger
Musikmagazin mit Moritz Weber, Aktuell, 1./2.2.2020

neo-profiles
: Heinz Holliger, Basel Sinfonietta, Klaus Huber, Mondrian Ensemble, Katharina Rosenberger

 

“..spielen bis wir umfallen..”

 

Portrait Urs Peter Schneider ©Aart-Version lagr

Im Rahmen von Focus Contemporary feiert das Musikpodium der Stadt Zürich  den 80. Geburtstag von Urs Peter Schneider.
Hommage an ein ‘querköpfiges Unikat’ von Thomas Meyer:

Die 60er Jahre waren eine höchst bewegte Zeit für die Musik. Die Formen lösten sich auf. Konzepte, Happenings, Performances, Aleatorik und Improvisation traten an die Stelle fix auskomponierter Werke. Während bald jedoch viele wieder zum althergebrachten Handwerk zurückkehrten, verschrieb sich eine Gruppe hierzulande hartnäckig dieser Offenheit: das Ensemble Neue Horizonte Bern, gegründet 1968 und bis heute unverdrossen bestehend. «Wir werden», so sagte ein Ensemblemitglied einmal im Gespräch, «spielen, bis wir umfallen.» Ohne sie gäbe es wohl keine Cage-Tradition in der Schweiz und auch wenig Konzeptmusik auf enger Flur.

Ensemble Neue Horizonte Bern

Schweizer Cage-Tradition

In diesem Kollektiv aus KomponistInnen und InterpretInnen nimmt einer seit Beginn die besondere Position des Spiritus rector ein: Urs Peter Schneider, der heuer seinen Achtzigsten feiert, geboren in Bern, heute in Biel lebend und fröhlich weiter schaffend mit Kompositionen, Texten, Gebilden und Konzepten. Ihm zu Ehren veranstaltet das Musikpodium Zürich im Rahmen von Focus Contemporary ein Konzert: Dominik Blum spielt Klavierstücke von ihm, vom Neue-Horizonte-Kollegen Peter Streiff sowie von Hermann Meier, für dessen fast vergessenes Werk sich Schneider nachhaltig eingesetzt hat. Ausserdem singt der Chor vokativ zürich neben dem „Chorbuch“ von 1977 die neuen „Engelszungenreden“. Der Titel verweist darauf, dass Schneiders Musik auch gern ins Spirituelle hinaufgreift.


Hermann Meier, Klavierstück für Urs Peter Schneider, HMV 99, 1987

Komponist/Pianist/Interpret/Performer/Pädagoge in einem, ist Schneider eines dieser querköpfigen Unikate, wie es sie gerade auch in der Schweiz nicht selten gibt. Seine Musik zu beschreiben ist nicht leicht, weil sie so vielfältig sein kann, denn häufig ändert er die Verfahrensweise. Schneider arbeitet gern mit Strategien. Im Kern folgt er dabei jenen seriellen Techniken, in denen seine Musik ihre Wurzeln hat. So tüftelt er oft lange und gründlichst an den Permutationen von Tönen, Instrumenten, Lautstärken etc., bis sie endlich aufgehen. Und er entwickelt dafür eine sehr eigene, radikale Beharrlichkeitsgestik.


Urs Peter Schneider, ‘Getrost, ein leiser Abschied’ für zwei Traversflöten und Bassblockflöte, 2015

Radikale Beharrlichkeitsgestik

Es bleibt allerdings nicht bei den Tönen. Vielmehr wendet er solche Strategien auch auf Worte an, auf Graphiken und theatralische Handlungen, ja irgendwie auf alles, was sein Schaffen umgibt, bis hin zu den Datierungen, Widmungen. Auch die Konzertprogramme sind – eine wichtige Qualität überhaupt der Neuen Horizonte – komponiert. „Die Bestandteile einer Darbietung relativieren, ergänzen, kommentieren sich gegenseitig in ausgeklügelter Weise.“ Ebenso fügt er, wenn er Bücher oder CDs herausgibt, seine Stücke nicht einfach lose aneinander, sondern stellt aus dem gesamten Schaffen eine neue Konstellation her. Denn dieser Stratege ist besessen davon, Ordnungen herzustellen.

Urs Peter Schneider: meridian-1-atemwende ©aart-verlag

Alles wird dabei gedreht und gewendet. Ständig entdeckt/erfindet er neue Verfahren. Er ist eigentlich ein Verfahrenskomponist und damit der konzeptuellen Musik sehr nahe. Dieser Gattung widmete er 2016 das Buch «Konzeptuelle Musik – Eine kommentierte Anthologie», ein exemplarisches und unverzichtbares Kompendium.

Die Spontaneität dieser offenen Formen wirkt wohl auch als Korrektiv zur Strenge. Zuweilen könnte ja in diesen Verfahrensweisen die Lebendigkeit und Biegsamkeit verloren gehen und die Ordnung in sich selber versanden. Doch gerade dann geschieht oft Überraschendes. Denn die Werke Schneiders kennen Witz, ja Heiterkeit. Zuweilen an ungewohnter Stelle, gelegentlich mit wohltuender Selbstironie.
Thomas Meyer

Hermann Meier, Stück für grosses Orchester und drei Klaviere, 1964, HMV 60 ©Privatbesitz

Das Festival Focus Contemporary Zürich findet vom 27. November bis zum 1. Dezember statt: In fünf Konzerten präsentieren die Zürcher Veranstalter Tonhalle Zürich, Collegium Novum Zürich, Zürcher Hochschule der Künste und Musikpodium Zürich gemeinsam eine Auswahl zwischen jungem experimentellem Musikschaffen und Altmeistern, an Orten wie der Tonhalle Maag, dem ZKO-Haus oder dem Musikclub Mehrspur der ZHdK.

Focus Contemporary Zürich, 27. 11.- 1. 12, Konzerte:
27.11., 20h ZHdK, Musikklub Mehrspur: Y-Band: Werke von Matthieu Shlomowitz, Alexander Schubert
28.11., 19:30h Musikpodium Zürich, ZKO-Haus: Urs Peter Schneider zum Achtzigsten: Werke von Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Peter Streiff
29.11., 19:30h Tonhalle Orchester, Tonhalle Maag: Heinz Holliger zum Achtzigsten: Werke von Heinz Holliger und Bernd Alois Zimmermann
30.11., 20h Collegium Novum Zürich, Tonhalle Maag: Werke von Sergej Newski (UA), Heinz Holliger, Isabel Mundry und Mark Andre
1. 12., 11h ZHdK, Studierende der ZHdK: Werke von Heinz Holliger, Mauro Hertig, Karin Wetzel, Micha Seidenberg, Stephanie Haensler

Musikpodium ZürichAart-Verlag

Neo-profilesZürcher Hochschule der Künste, Collegium Novum Zürich, Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Heinz HolligerPeter Streiff, Stephanie Haensler, Karin Wetzel, Gilles GrimaitreDominik Blum