Komponieren für Streichquartett mit dem Arditti Quartett

Es gilt als Synonym für zeitgenössische Musik für Streichquartett: das Londoner Arditti Quartett. Seit 1974 widmet sich das Quartett rund um den Violinisten Irvine Arditti ganz dem neuen und neusten Repertoire, sowohl in Konzerten und Einspielungen als auch im Arbeiten mit jungen Komponistinnen und Komponisten. Ende Februar begleitete ich die vier Musiker an einem öffentlichen Workshop an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Da machte das Quartett Halt auf seiner Konzerttournee zum 50-Jahr-Jubiläum.

 

Das Arditti Quartett an der Lecture Performance zusammen mit Isabel Mundry in der ZHdK am 28.2.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Gabrielle Weber
«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt», erklärt mir Irvine Arditti im Gespräch am Vorabend des Workshops, nach einer Lecture Performance. Der quirlige Stargeiger mit dem charakteristischen grauen Lockenschopf äussert sich stets etwas doppeldeutig und humorvoll. Die Musik müsse «funktionieren», unabhängig vom Stil oder der Art. Auf Qualitätskriterien lässt er sich nicht ein: «Wir spielten viele gute und auch viele schlechte Stücke. Neue Stücke müssen zuerst einmal die Chance erhalten, gespielt zu werden. Erst dann zeigt sich ob sie gut oder schlecht sind».

 

«Gut ist ein Stück, wenn es Zeit und Raum gut füllt»

Und solche Chancen bietet das Arditti Quartett. Irvine Arditti, erster Geiger und Gründer des Quartetts, Lucas Fels, Cello, Ashot Sarkissjan, zweite Geige, und Ralf Ehlers, Bratsche, sind neugierig auf das junge Musikschaffen und fördern es gezielt. Sie unterrichten begeistert, sei es an internationalen Festivals wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik oder an Musikhochschulen wie der ZHdK.

An der Lecture Performance erläuterten sie zunächst generelle Herausforderungen der Notation und Einstudierung neuer Stücke für Streichquartett: dies anhand von Stücken von Komponisten, die für ihre komplexe Kompositionsweise berüchtigt sind, Iannis Xenakis und Helmut Lachenmann, und die sie gemeinsam uraufgeführt hatten.


An Tetras (1983) von Iannis Xenakis exemplifizierte das Arditti Quartett in der Lecture Performance Herausforderungen des Komponierens für Streichquartett, Eigenproduktion SRG/SSR 2023.

 

Mit neun Kompositionsstudierenden probten sie am Folgetag deren neue Stücke fürs Schlusskonzert. Fast alles sind Uraufführungen. Geprobt wird im grossen Konzertsaal mit Publikum.

Schmerzquartett heisst die Komposition von Franziska Eva Wilhelm. Wilhelm stammt aus München und studiert seit Herbst 2021 in Zürich Komposition bei Isabel Mundry. Mit Jahrgang 2003 ist sie eine der jüngsten Teilnehmerinnen am Workshop.

Portrait Franziska Eva Wilhelm © Franziska Eva Wilhelm


«Schmerz hat für mich viel mit Reibung zu tun und auch der Ton der Streichinstrumente entsteht durch eine Art Reibung», meint Wilhelm. «Schmerz ist ein schwieriges Thema und ich wollte es nicht romantisieren. Es geht mir um die Wahrnehmung von Schmerz und wie er sich in Musik verkörpern lässt: um die Textur, nicht um eine Geschichte».

Humor muss sein..

Es wird konzentriert gearbeitet und auch viel gelacht: An einer Stelle verlieren die Musiker die Orientierung in der Partitur und Lucas Fels lockert mit einer Episode auf: «New York, Carnegie Hall!», das sei die laute Antwort Sergej Rachmaninoffs mitten in einem von ihm dirigierten Konzert gewesen, auf die Frage eines Musikers, wo sie im Stück seien. Der Humor baut Spannung ab und integriert die Komponierenden.


In Schmerzquartett von Franziska Wilhelm geht es um die Textur des Schmerzes, UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

 

“That’s all? How’s that?” fragt Irvine Arditti zum Ende der Probe von Schmerzquartett, wieder lachend. Wilhelm ist zwar zufrieden, möchte aber noch Weiteres ausprobieren. Das wird fraglos ausgeführt.

Ihr Fazit nach den Proben: «Ich habe viel über spezifische Notationen gelernt. Sie überlassen nichts dem Zufall und wenn es etwas zu entscheiden gibt, entscheidet die Person, die komponiert hat. Ich muss als Komponistin genau wissen, was ich will. Und das muss ich auch kommunizieren können.».

Das Arditti Quartett am Konzert im grossen Saal der ZHdK vom 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umsetzen

Bei Uraufführungen geht es dem Quartett stets darum, die notierte Idee so exakt wie möglich in Klang umzusetzen. Das gelte genauso für grosse Namen wie auch für junge, noch unbekannte Musikschaffende, sagt Irvine Arditti. Mehrere hundert Streichquartette sind dem Quartett über die 50 Jahre gewidmet worden. Die meisten erarbeiteten sie zusammen mit den Komponistinnen und Komponisten.

 «I really want to play the piece the way you want it to be played», lässt er in den Proben immer wieder verlauten, zum Beispiel bei Andrzej Ojczenasz.

Ojczenasz klärt letzte Notations-Fehler gleich vorab. Das wird geschätzt. Zum Beispiel soll das Cello, gleich im ersten Takt, eine Oktave tiefer spielen. «Das beginnt ja mal schon gut», kommentieren die Musiker lachend.

Sein Quartett Maris Stella ist inspiriert von Gregorianischem Choral. «Die Struktur basiert auf dem Kontrapunkt des Chorals. Ich verbinde dadurch Tradition und Gegenwart», erläutert er.

 

Portrait Andrzej Ojczenasz zVg. Andrzej Ojczenasz

 

Andrzej Ojczenasz stammt aus Polen. Er studierte zunächst an der Krysztof Penderecki Musikhochschule in Krakau, bildete sich dann an der University of Louisville in den USA weiter und absolviert nun den Master in Komposition bei Isabel Mundry.

Gröbere Notationsfehler kommen vor..

Ashot Sarkissjan deckt etwas später einen gröberen Notationsfehler auf: Was man hören wolle, müsse man auch genauso schreiben, sagt er. Gleichzeitig spürt man, dass das Stück die Musiker überzeugt. Das Probenklima ist vertrauensvoll und Ojczenasz nimmt die Korrektur gerne an.

 


Maris Stella von Andrzej Ojczenasz basiert auf Gregorianischem Choral, Aufnahme UA Konzert Arditti Quartett ZHdK, 1.3.2024.

Gegen Schluss der Probe fragt Irvine Arditti auch ihn, ob es ihm gefallen habe: «Ja, aber..» — auch er möchte noch ein paar Stellen korrigieren.

Ojczenaszs fasst seine Learnings folgendermassen: «Präzise notieren, dann wird es auch so gespielt! Und: unbedingt sich selbst und seiner Message gegenüber ehrlich bleiben und niemand anderen darstellen wollen.»
Gabrielle Weber

Das Arditti Quartett im Konzert im grossen Saal der ZHdK am 1.3.2024 Foto zVg. ZHdK

 

Am Schlusskonzert vom 1.3.2024 im grossen Konzertsaal der ZHdK waren zu hören:
Wojciech Chalpuka: Wohin jetzt? (UA)
Luis Escobar Cifuentes: Ewige Leben (UA)
Wenjie Hu: The Rift (UA)
Amir Liberson: Emptiness (UA)
Franziska Eva Wilhelm: Schmerzquartett (UA)
Nuño Fernández Ezquerra: Lienzo de Luz (2021)
Fabienne Jeannine Müller: Incertain (UA)
Pengyi Li: … Echo … (UA)
Andrzej Ojczenasz: Maris Stella (UA)
Isabel Mundry: Linien, Zeichnungen (2004)

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 3.4.&14.8.2024: Streichquartett heute, Das Arditti Quartett und der NachwuchsRedaktion Gabrielle Weber
Neue Musik im Konzert, 3.4.&14.8.2024: Das Arditti Quartett im Konzert mit jungen Komponierenden, Redaktion Gabrielle Weber

neo-profiles:
Arditti QuartetIsabel Mundry, Franziska Eva Wilhelm, Andrzej OjczenaszWojciech ChalpukaLuis Escobar CifuentesWenjie HuAmir LibersonNuño Fernández EzquerraFabienne Jeannine MüllerPengyi Li

 

un projet est avant tout une rencontre..

Der Genfer Komponist, Interpret und Kurator Alexandre Babel erhielt einen der Schweizer Musikpreise des Bundesamts für Kultur 2021. Am 17. September findet die feierliche Preisübergabe in Lugano statt. Im Gespräch erzählt Babel was er unter Komposition und Kuration versteht und wie er diese Tätigkeiten verwebt.

 

Portrait Alexandre Babel © Felix Brueggemann 2021

 

Gabrielle Weber
Alexandre Babel, Perkussionist, Komponist und Kurator, bewegt sich auf Avantgarde-Konzertbühnen, an Jazzfestivals, in Galerien und an Kunstbiennalen. Zwischen Berlin und Genf verbindet er klassische Avantgardemusik, Klangkunst, experimentelle Improvisation und Performance.

Es gebe so viele Arten zu komponieren, wie es Komponierende gebe, sagt Alexandre Babel. Komponieren umschreibt er deshalb lieber mit “Organisation von Klängen in Zeit und Raum”. Diesem Kompositionsverständnis sei auch das Kuratieren nahe. “Auch hier geht es darum, dass man existierende Klangobjekte an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in Bewegung bringt und diese Objekte dann mit anderen Objekten in Verbindung setzt”.

Komponieren und Kuratieren: das sind für Babel verschiedene Seiten ein und derselben Tätigkeit. Babel kreiert, konzipiert, inszeniert, vernetzt und interpretiert.

Alexandre Babel, 1980 in Genf geboren, fand durch seinen ersten Schlagzeuglehrer in Genf zunächst zum Jazz. Anschliessend spezialisierte er sich in New York bei Jazzlegenden wie Joey Baron oder Jeff Hirshfield weiter und spielte in verschiedenen Formationen. „Am Jazz faszinierte mich nicht nur die Ästhetik, sondern vielmehr wie Musiker miteinander umgingen, um Musik zu kreieren. Das Mischen von Repertoire und Improvisation: das war für mich die Basis des Musikmachens“.

Gleichzeitig angezogen von der klassischen musikalischen Avantgarde, wechselte er bald zum klassischen Schlagzeug und fand, zurück in Europa, zur Komposition. John Cage, Morton Feldman, Alvin Lucier, Heiner Goebbels oder Helmut Lachenmann waren dann für Babels kompositorischen Weg wegweisend.

Bereits in ersten Stücken wie music for small audiences für kleine Trommel solo, setzt er sich dabei insbesondere auch mit der Rolle des Interpreten auseinander. “Mit Music for small audiences begann eine eigentliche Liebesgeschichte mit der kleinen Trommel”, meint Babel.

 


In einem seiner ersten Stücke, ‘music for small audiences’ erkundet Alexandre Babel neue Klänge für kleine Trommel solo und rückt die Rolle der Perkussion im Musikbetrieb in den Fokus.

 

Interpret – Improvisator – Komponist

 

Als Schlagzeuger ist Babel heute vielgleisig unterwegs: als feiner leiser Improvisator, als lauter experimenteller Drummer bspw. mit der Band „Sudden infant“ im Duo mit Joke Lanz oder als Interpret zeitgenössischen Schlagzeugrepertoires in diversen Formationen.

Gleichzeitig komponiert und kuratiert er und entwickelt Projekte für eigene Formationen wie bspw. das Berliner Kollektiv Radial, zusammen mit der Videokünstlerin Mio Chareteau.

„Musikmachen sehe ich als mehrere Prozesse. Der erste ist das ‚Denken‘ von Musik, also das Komponieren, dann die Übermittlung an jemanden, der die Musik realisiert, und zuletzt das Aufführen für ein Publikum: mich faszinieren alle diese Prozesse“, meint Babel.

Alle seine Tätigkeiten verbindet das Zusammendenken von Kreation und Interpretation und auch ein Interesse am Visuellen, am Raum und am Performativen.

 

“Was möchte ich sehen und was möchte ich hören..”

 

Komponieren beginnt für Babel immer mit einer Begegnung oder ist gar eine Begegnung. So entstehen Babels Kompositionen meistens konkret für Musikschaffende.

Die InterpretInnen hat er dabei immer vor Augen und lässt sich -nicht zuletzt- auch durch ihre Bewegungen, ihre Gesten beim Spiel inspirieren. Im Stück The way down für das Duo Orion bspw. ging Babel vom gemeinsamen Musizierens des Duos aus und inszenierte dieses akustisch und auch performativ.

 

Alexandre Babel, The way down pour violoncelle et piano, Duo Orion (Gilles Grimaître, piano, Elas Dorbath, Cello) 2020

 

 

«Am Anfang eines Projekts stelle ich mir die Frage: ‘Was möchte ich sehen und was möchte ich hören’: Das Visuelle ist für mich genauso wichtig wie das Klangliche. Das Duo Orion hat bspw. eine besondere Körperlichkeit beim Musizieren. Ich entwickelte für das Duo ein Stück, in dem die Gesten fast sportlich sind. Es entstand fast ein Tanz oder eine Choreografie», sagt Babel.

 

Kuratieren als permanenter Dialog

 

In idealer Weise seien seine drei Tätigkeiten, Komposition, Interpretation und Kuration in der künstlerischen Leitung des Festival les amplitudes (La-Chaux-de-Fonds, Herbst 2020) zusammengekommen, sagt Babel. „Ich hatte hier die Chance alle meine Aspekte innerhalb eines Objekts -das Festival und gleichzeitig die Stadt La Chaux-de-Fonds – zu verbinden: Ich dachte das Festival als eine Riesen-Komposition aus einzelnen Teilen – einer Kunstausstellung, Liveperformances, Drum Sets und Kompositionen für den Raum. Daraus bildete sich eine neue Einheit“.

Seit 2013 leitet Babel das Perkussionsensemble Eklekto Geneva Percussion Center. Es besteht aus zirka 20 MusikerInnen in loser Zusammensetzung. “Eklekto bietet für mich eine Gelegenheit, ungewöhnliche Perkussionssituationen zu entwickeln”. Alle Projekte entstehen in engem Austausch und Zusammenarbeit mit den Komponierenden und den MusikerInnen. “Kuratieren ist ein permanenter Dialog mit den beteiligten Musikschaffenden”.

 

Aufmerksames Hören

 

Pauline Olivero’s Stück Earth ears, ein sog ‘Sonic Ritual‘ von 1989 für freie Besetzung, sei charakteristisch für sein Verständnis von Kuratieren, meint Babel: „Die Musiker spielen nach dem Gehör. Es gibt keine geschriebene Partitur. Man muss sich selbst und auch dem ganzen Ensemble zuhören und darauf reagieren. Im Stück geht’s um Klang, um Raum und ums aufmerksame Zuhören: das ist für mich die Basis des Musikmachens”, sagt Babel.

 


Pauline Oliveros’ ‘Earth ears’, ein ‘Sonic Ritual’ und offen zu interpretierendes Stück von 1989, ist charakteristisch für Babels Ansatz des Kuratierens.

 

Wichtig ist für Babel zudem sein grosses Perkussionsensemble mit 15 Schlagzeugern aus dem Eklekto-Pool. „Wir haben klare Regeln: wir spielen auswendig und es wird nicht dirigiert: das Spielen ohne Leader schafft eine enorme Energie und Präsenz und eröffnet gleichzeitig neue Kommunikationswege, fast schon auf radikale Weise“.

 

Choeur mixte’ reflektiert das klassische Setting von Kammermusik und rückt zugleicht das oft unterschätzte klassische Orchester-instrument ‘kleine Trommel’ in ein neues solistisches Licht. Eine weitere Liebeserklärung an die kleine Trommel.

 

Im Stück ‘choeur mixte’ für 15 kleine Trommeln, spielen die Perkussionisten ihre Instrumente stehend, zu einem Keil formiert, im Lichtspot auf leerer Bühne. Sie agieren stark aufeinander bezogen: das Stück strahlt eine Kraft als Gruppe und gleichzeitig Eigenverantwortung der einzelnen InterpretInnen aus.

 

Musik ohne Klang

 

Aktuell arbeitet Babel u.a. an einem Kompositionsauftrag für die Kunstbiennale Venedig 2022. Zusammen mit der Schweiz-basierten franco-marokkanische Bildenden Künstlerin Latifa Echakhch gestaltet er den Schweizer Pavillon. Babel sieht sich dabei mit einer speziellen Herausforderung konfrontiert: Echakhch wünschte sich von Babel eine Komposition ohne realen Klang. „Das ist für mich eine wichtige und besondere Aufgabe: durch den gemeinsamen Kreationsprozess nähern wir uns Lösungen an, wie Musik ohne Klang klingen kann“, sagt Babel. Momentan entstehen dafür kurze Musikstücke, die die Basis bilden für die finale Musik der Stille.
Gabrielle Weber

 

Portrait Alexandre Babel ©Felix Brueggemann (2021)

 

Am Freitag, 17. September 2021, findet die feierliche Preisverleihung im Lugano Arte e Cultura (LAC) in Lugano statt. Am Wochenende treten einige der PreisträgerInnen im Rahmen des Longlake Festival Lugano auf.
Der diesjährige Grand Prix musique ging an Stephan Eicher. Die weiteren PreisträgerInnen: Alexandre Babel, Chiara Banchini, Yilian Canizares, Viviane Chassot, Tom Gabriel Fischer, Jürg Frey, Lionel Friedli, Louis Jucker, Christine Lauterburg, Roland Moser, Roli Mosimann, Conrad Steinmann, Manuel Troller, Nils Wogram.

 

Konzerte Alexandre Babel:
Sonntag, 19.9.21, 10:30h Studio Foce, LAC:
Alexandre Babel e Niton +ROM visuals

23.4.-27.11.2022 Biennale Arte Venezia:
Alexandre Babel & Latifa Echakhch @Swiss Pavillon

Joke Lanz, Joey BaronJeff Hirshfield, Pauline Oliveros, Biennale Arte 2022, John Cage, Morton Feldman, Alvin Lucier, Heiner Goebbels, Helmut Lachenmann, Latifa EchakhchKollektiv Radial, Mio Chareteau, Elsa Dorbath

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
in: Musikmagazin, 18./19.9.21: Alexandre Babel – Träger BAK-Musikpreis 2021 im Gespräch mit Gabrielle Weber, Redaktion Annelis Berger

Musik unserer Zeit, 16.6.21: Alexandre Babel – Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber

neoblog, 14.10.2020: La ville – une composition géante, Text Anya Leveillé

 

Neo-Profiles:
Alexandre Babel, Les amplitudes, Eklekto Geneva Percussion Center, Duo Orion, Gilles Grimaître

 

 

Klirrende Kälte und heisses Feuer tanzen

Helmut Lachenmann zu Gast an der Zürcher Hochschule der Künste und im Opernhaus Zürich

Helmut Lachenmann ©Klaus Rudolph, CC BY-SA 4.0

Corinne Holtz
Helmut Lachenmann, einer der bedeutendsten Gegenwartskomponisten, schreibt mit 62 Jahren seine erste Oper und landet mit der Uraufführung 1997 den grössten Erfolg seines Lebens. Der Avantgardist und Schüler von Luigi Nono, der von den Orchestern gefürchtete Geräuschkomponist, das „Opfer“ aus Darmstadt, wie er schmunzelnd sagt, greift sich das Andersen-Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Den Blick lenkt er auf die sozialkritische Botschaft des Stoffes.

Lachenmann liest das Märchen als Parabel auf die Eiseskälte postkapitalistischer Gesellschaften und bricht die Erzählung mit Texten von Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin. Die Geschichte: Ein Mädchen versucht am Silvesterabend vergeblich ein Bündel Streichhölzer zu verkaufen. Schliesslich entzündet es selbst die Hölzchen und erfährt im „Ritsch“ des Aufflammens für einen Augenblick die Wonne bürgerlicher Wärme. Das Mädchen erfriert, die tote Grossmutter nimmt es mit in den Himmel.


Interview mit Helmut Lachenmann über Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle Bochum 2013

Keine Geschichte sondern “meteorologische Zustände”

Lachenmann versteht Schönheit als „Verweigerung des Gewohnten“ und Musik als „befreite Wahrnehmungskunst“. Sie beginnt bei der Erzeugung von Klang und den dazu nötigen Anstrengungen. Acht Hörner setzt Lachenmann in seiner Oper ein. „Diese acht Hörner sind ein einziges Instrument. Es geht um ein neues Hören. Dafür muss ich den Blick auf das Melodiöse erst einmal suspendieren.“ Von den Musikern verlangt er zum Beispiel Flatterzungen, Luftgeräusche, Ventilklappern sowie Schwebungen. Dieser akustisch reizvolle Effekt entsteht durch Überlagerungen zweier Schwingungen, die sich in ihrer Frequenz nur leicht unterscheiden. Und er geht noch einen Schritt weiter. Den Griff zur Oper bezeichnet Lachenmann gar als „Vorwand, um für Singstimmen zu schreiben“. Dabei erzählt die Musik keine Geschichte, sondern stellt „meteorologische Zustände“ dar. Das Mädchen ist von klirrender Kälte umgeben und spürt für einen Moment heisses Feuer.

Lachenmanns gestische Musik ist im Kern theatralisch. Wer sie live erlebt, kann vielbeschäftigte Interpreten und Interpretinnen beobachten und sich dabei seine eigene Szenerie erfinden. Die Transformation dieser Aktionen in die Kunstform Ballett ist eine Herausforderung. Wie lässt sich eine Choreografie jenseits der Bebilderung erfinden, die der Musik und ihren Akteuren Raum lässt?


Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Opernhaus Zürich 2019, Trailer

Die Neuproduktion des Mädchen mit den Schwefelhölzern steht im Zentrum des dreitägigen Symposiums, das die Zürcher Hochschule der Künste in Kooperation mit dem Opernhaus Zürich ausrichtet, und ist Ausgangspunkt für eine interdisziplinär angelegte Befragung von Lachenmanns Werk. Der Musikforscher Hans-Ulrich Mosch beleuchtet Nonos Schatten, die Musikjournalistin Julia Spinola die Zugänge bisheriger Inszenierungen, die Tanzwissenschafterin Stephanie Schroedter die Umsetzung der Partitur in Bewegung. Schliesslich setzen sich der Komponist und sein Choreograf Christian Spuck mit der Komponistin Isabel Mundry an den runden Tisch und diskutieren Chancen und Grenzen der Zürcher Neuproduktion.

“Kann ein Adorno-Schüler happy sein beim Komponieren?”

Lachenmanns utopisches Musikdenken ist aus der Zeit gefallen und vielleicht gerade darum von hoher Dringlichkeit. Ausserdem weiss der Komponist seine Überzeugungen mit Humor über die Rampe zu bringen. Kann ein Adorno-Schüler happy sein beim Komponieren, fragte ihn einst der Kollege Hans Werner Henze. „Nein. Happy war ich nie, aber glücklich.“ Wie es mit dem Glücksgefühl nach der Premiere der Neuproduktion stehen wird? „Jede Aufführung ist ein Abenteuer mit unbekanntem Ausgang.“
Corinne Holtz


Helmut Lachenmann, Allegro sostenuto 1986/88, interpretiert vom Trio Caelum

Das ‘Wochenend-Festival’ zu Helmut Lachenmann mit Symposium sowie Porträt- und Gesprächskonzerten findet vom 8. Bis zum 10. November 2019 statt.

ZHdK: Zu Gast: Helmut Lachenmann: Tagung / Konferenz / Symposium, 8.-10.11.19

Opernhaus Zürich: ‘Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘, 12.10.-14.11.19

neo-Profiles: ZHdK, Philharmonia Zürich, Basler Madrigalisten