Durch Musik eins werden mit der Natur

Toshio Hosokawa ist der bekannteste japanische Komponist und diese Saison Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Hosokawa verbindet in seiner Tonsprache die westliche neue Musik mit traditioneller japanischer Musik. Moritz Weber unterhielt sich mit dem Komponisten.

 

Moritz Weber
Vor drei Jahren komponierte Toshio Hosokawa im Auftrag des Pianisten Rudolf Buchbinder eine Variation über den berühmten Walzer von Diabelli in C-Dur, über welchen einst Beethoven seine monumentalen 33 Veränderungen komponiert hatte. «Ich liebe Klavierklänge», sagt Hosokawa im Gespräch, «aber in diesem Walzer hat es sehr viele Töne». Seine Variation klingt denn auch wie in Zeitlupe, er lässt einzelnen Tönen viel Zeit, um sich zu entfalten. Wegen des langsamen Tempos sei das Stück typisch für ihn, sagt der japanische Komponist, und sogar die tonalen Elemente passten zu seiner Musiksprache, denn in den letzten 2 bis 3 Jahren habe er sich wieder mehr für tonale Musik interessiert, «und ich möchte in Zukunft auch tonale Musik komponieren.»

 

Über das Studium in Deutschland zur traditionellen japanischen Musik

Zu seiner eigenen Klangsprache, die fernöstliche und westliche Ästhetik verbindet, fand er über einen Umweg. «Meine Familie war sehr japanisch», sagt er. Mit einem Ikebana-Meister als Grossvater, der auch Nō-Gesang und die Teezermonie liebte, und einer Mutter, die immer Koto spielte, war ihm das dann doch etwas «zu viel». Für ihn waren die traditionellen japanischen Künste damals altmodisch, «langweilig» gar.

Da er sich als Klavierstudent insbesondere für das klassisch-romantische Repertoire begeisterte, wie für die späten Klaviersonaten von Beethoven, ging Hosokawa nach Deutschland, um bei Isang Yun (in Berlin) und Klaus Huber (in Freiburg i. B.) Komposition zu studieren.

 


Klaus Huber, Kompositionsprofessor von Toshio Hosokawa mit seinem fernöstlich inspirierten Stück Plainte – Lieber spaltet mein Herz, Contrechamps 2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Am Meta-Musikfestival im Berlin der 1970er-Jahre wurde neue Musik aus Europa mit traditioneller Musik aus aller Welt kombiniert. György Ligeti mit indonesischer Gamelanmusik, Karlheinz Stockhausens Mantra mit Tempelmusik aus Japan. Dort hörte und erlebte Hosokawa von Europa aus die Musik seiner Heimat ganz anders und entdeckte ihre Schönheit. Gemischt mit Heimweh und dank der Ermunterung seiner Lehrer begann Hosokawa in seinem Stil die fernöstliche Klangsprache und Philosophie mit der europäischen zu verschmelzen.

 

Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik

Ein wichtiger Unterschied zwischen europäischer und japanischer Musik sei, dass letztere keine absolute Musik sei, sondern immer als Atmosphäre oder Hintergrund für bestimmte Ereignisse wie Zeremonien oder Tänze. Sie sei an einen Ort gebunden. Die europäische Musik hingegen sei eine Architektur, die an den unterschiedlichsten Orten gespielt werden könne, so wie man eine Skulptur oder ein Gemälde irgendwo hin transportieren kann, so Hosokawa.

 

Portrait Toshio Hosokawa © KazIshikawa zVg. Tonhalle-Orchester Zürich

 

«In der japanischen Musiktradition ist der Einzelton sehr wichtig. Ich sage immer, unsere Musik sei eine Kaligraphie in Zeit und Raum, und eine musikalische Linie ist wie ein Pinselstrich, mit Anfang und Ende». Die Töne seien vertikale Ereignisse, wie ein kalligraphischer Pinselstrich auf einem weissen Papier. Ganz im Gegensatz zu den zu Motiven verbundenen Tongruppen der westlichen Musik, z.B. das berühmte «ta-ta-ta-taaaaaa» aus Beethovens 5. Sinfonie, singt Hosokawa vor.

 

Nō-Theater und Gagaku-Musik

«In den Stücken des traditionellen japanischen Nō-Theaters aus dem 12. oder 13. Jahrhundert geht es um Seelenheilung, und dieser Gedanke ist auch sehr wichtig für mich», sagt Hosokawa: «Die Verstorbenen kommen zurück, erzählen vom Jenseits, heilen ihre Seelen durch Tanz und Gesang und kehren dann zurück ins Reich der Toten». Musikalisch ist der «Kalligraphie-Gesang» prägend, wie auch das Schlagzeug: Heftige Schläge, welche die Zeit quasi vertikal durchschneiden. Es werden nicht grosse horizontale Räume eröffnet, sondern die Impulse sind für sich selbst Ereignisse. Darauf weise er auch immer hin, wenn er mit Musiker:innen an seinen Stücken arbeite, wie diese Saison als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. «Diese heftigen vertikalen Einschnitte, sie sind stärker als normale Einsätze, auch die plötzlichen Änderungen in der Dynamik. Ich sage immer: Denken sie beim Spielen, sie malen eine Kalligraphie. Denken sie nicht zu formal, sondern dass jeder Moment ein wichtigster Moment ist, jeder Moment eine Ewigkeit.»

 

 


Toshio Hosokawa, Ferne Landschaft III – Seascapes of Fukuyama (1996), Basel Sinfonietta, Dirigent Baldur Brönnimann 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hosokawa gefallen auch die mikrotonalen Färbungen, welche bei der Gestaltung von Tönen im Nō-Theater wichtig sind. «Um die Zentraltöne herum gibt es immer kleine Veränderungen, und diese möchte ich hören, denn sie machen die Töne lebendig». Auch hier singt er im Interview einen langgezogenen Ton vor und zeichnet dazu mit der Hand in der Luft den Tonverlauf nach.

 

Der Mutterakkord der Shô

Die etwa 500 Jahre ältere und ursprünglich aus China und Korea stammende japanischen Gagaku-Musik ist eine zeremonielle Hofmusik. Der Klang der japanischen Mundorgel Shô ist hier omnipräsent. Er symbolisiert im Hintergrund die Ewigkeit, während darüber Melodieinstrumente wie Hichiriki oder die Drachenflöte Ryūteki klangliche Kalligraphien «zeichnen».

Mit der Shô sei es auch möglich, den Atem und kreisende Zeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Hosokawa nennt das den «Mutterakkord», und er hat diverse Stücke für oder mit Shô geschrieben. Auch diese Kreisläufe seien für ihn sehr wichtig, wie auch der Gedanke, dass Gagaku eher eine kosmische Musik ist als eine menschlich-emotionale.

 

Naturkatastrophen als Opernstoff

Toshio Hosokawa ist mit seiner einzigartigen Tonsprache und seinen Kompositionen in allen Gattungen weltberühmt geworden. Viele seiner Werke drehen sich um Naturkatastrophen wie um das verheerende Tohoku-Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima. «Mein Ziel ist es, durch Musik und durchs Komponieren eins zu werden mit der Natur. Eigentlich ist die japanische Natur sehr schön mit ihren Jahreszeiten, aber sie ist nicht immer freundlich zu den Menschen. Diese Tatsache habe ich erfahren als der Tsunami kam, und ich begann, ganz anders über Natur nachzudenken. Mit meiner vierten Oper Stilles Meer wollte ich ein Klagelied für die Opfer dieses einschneidenden Ereignisses oder ein Requiem für die Toten schreiben.» Nicht nur die Urgewalt hat Hosokawa darin auskomponiert, sondern die schrecklichen Bilder des Verlusts, wie Kinderschuhe oder Spielzeug, welche in den Überschwemmungsgebieten treiben.

 


Toshio Hosokawa, die Oper Stilles Meer ist für Toshio Hosokawa ein Klagelied an die Opfer des Tsunami von 2011, UA Staatsoper Hamburg 2016

 

 

Momentan komponiert Hosokawa seine sechste Oper, auch sie wird sich wieder um Naturkatastrophen drehen. Eine junges Paar, ein Japaner und ein Flüchtling aus der Ukraine, besucht darin verwüstete Orte, verschiedene «Höllen» im Sinne von Dantes Inferno, wo sie die Auswirkungen der Naturkatastrophen sehen, so Hosokawa. Die Oper soll in der Spielzeit 2025/26 uraufgeführt werden.

 

Innere und äussere Ruhe

Um seine innere Ruhe zu finden, geht Hosokawa gerne in den Wald oder ans Meer in der Nähe seines Wohnortes in Nagano. Er meditiert auch täglich, still sitzend und nichts tuend für ein paar Minuten. Eine Kraftquelle für seine kontemplative Zustandsmusik, welche durchsetzt ist von eruptiven Ausbrüchen.

Seine Musik soll auch für das Publikum ein Ort der Kontemplation sein, ein Ort des Gebets. «In Japan gibt es sehr viele geschnitzte Holzstatuen von anonymen Künstler:innen, bei welchen die Menschen beten. Ich möchte, dass meine Musik eine ähnliche Bedeutung hat. Sie kann die Menschen vielleicht nicht retten, aber irgendwie schützen.»

Die Spiritualität spielt auch in seinen jüngsten Werken eine Rolle: Ceremony für Flöte und Orchester (UA 2022) und Prayer für Violine und Orchester (UA 2023).

 

Das Soloinstrument sei auch in diesen beiden Stücken wie ein Schamane, ein Vermittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits, so Hosokawa, er empfange und höre die Urkraft Ki (気). «Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Komponieren, nicht als ein Ausdruck eines Menschen oder seines Egos, sondern als Empfangen von dem, was schon da ist; die Urkraft der Klänge, den bald lieblichen, bald dramatischen Fluss der Töne. «Das Orchester repräsentiert dabei die Natur. Diese ist also in und um das Soloinstrument bzw. den Schamanen. Er kommuniziert mit ihr, trägt Konflikte aus, und soll zum Schluss zu einer Harmonie mit ihr findet».

Hosokawa sieht sich als ein Vertoner dieser Urkraft, und sagt: «auch ich möchte ein Schamane werden» – wenn er es nicht schon ist.

Wenn er mit Orchestern oder Musiker:innen seine Werke einstudiert, wie jetzt während seiner Zeit als Creative Chair des Tonhalle Orchesters Zürich, sei es vor allem das Zeitgefühl, woran man manchmal etwas mehr arbeiten müsse.
Moritz Weber

Tonhalle-Orchester Zürich: Toshio Hosokawa, Creative Chair, Saison 2022/23
Konzerte: Sonntag, 26.3. Kammermusik
Mittwoch, 29.3.23: Meditation to the victims of Tsunami für Orchester.

 

Rudolf Buchbinder, Isang Yun, Klaus Huber, Shô, Hichiriki, Ryūteki, Gamelan, Karlheinz Stockhausen, Gagaku, György Ligeti, Koto, Metamusikfestival Berlin

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 22.3.23, 20h, 25.3.23, 21h: Musikschamane und Vertoner der Urkraft, Autor Moritz Weber

Neo-Profile:
Toshio Hosokawa, Tonhalle-Orchester Zürich, Klaus Huber