Auf dem Weg zu Neuem


Neuerdings – Faszination Sound: Launch SRF-Videoreihe

Neuerdings – eine Videoserie in Zusammenarbeit von SRF 3 Sounds! und SRF Kultur präsentiert experimentelles Musikschaffen hautnah. In vier Portraits spürt sie den Arbeitsprozessen im Klanglabor von Noémi Büchi, Julian Sartorius, Martina Berther und Janiv Oron nach.

Roman Hošek stellt die die Reihe und die Portraitierten vor – zum Launch am Festival Bad Bonn Kilbi am 2.6.2023.

 

Roman Hošek
Sie sind gestandene Musikerpersönlichkeiten, die teils schon wichtige Preise gewonnen haben und die regelmässig in renommierten Projekten anzutreffen sind. Sie alle verfolgen auch einen radikal eigenen Schaffensweg – auf dem die Perspektive des grossen Erfolgs eine untergeordnete Rolle spielt. Es geht ihnen ums Machen. Diese vier Musiker:innen erzählen in einer neuen Dokuserie von ihrem kompromisslosen Gestaltungswillen.

 

Sound ist Materie

Noémi Büchi nimmt Alltagsgegenstände, wie Papier oder Schrauben, holt Klänge aus ihnen heraus und macht daraus Musik. Sie zerreisst beispielsweise das Papier, nimmt den Klang mit einem Mikrofon auf und verfremdet diesen mit Effekten und Computer-Software.

So wird alles, was klingt, zu einem Instrument für Noémi Büchi. Früher hat sie klassisches Klavier gespielt. Heute sind es Keyboards, Klangregler und Computerpads, welche die Zürcherin bedient und mit denen sie ihre selbst generierten Klangquellen ansteuert. So entstehen Collagen, die auf eine atemberaubende Klangreise einladen und das Publikum auch zum Sich-Bewegen animieren.

Denn etwas zu bewegen, ist wichtig für Noémi Büchi. Ihre sinfonisch anmutende Musik sei kein Kommentar und habe keine Botschaft. Sondern Klang sichtbar und erlebbar zu machen, das sei ihre Absicht. Das merke sie vor allem live, wenn Schallwellen körperlich werden.

 


Video-Portrait Noémi Büchi: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Handwerk

Julian Sartorius bewegt sich gerne im Freien oder beispielsweise durch Fabrikhallen und trommelt mit seinen Schlagzeug-Sticks auf Objekten. Dabei ist es erstaunlich, welch breite Palette von Klängen er scheinbar gewöhnlichen Gegenständen entlockt, wie Deckeln, Rohren oder Drähten und wie er es schafft, damit attraktiv klingende Beats zu fabrizieren.

Der Berner Schlagzeuger ist stark von der elektronischen Musik inspiriert. Selbst erzeugt er seine Sounds aber ausschliesslich mit seinen Händen und auf akustischen Instrumenten und Objekten. Es ist diese Übersetzungsarbeit, die ihn reizt: Mit etwas Natürlichem etwas zu erschaffen, das fast künstlich klingt.

Eine weitere Facette von Sartorius’ künstlerischem Schaffen ist das Produzieren von Beats und auch da geht er eigene Wege. Er arbeitet beispielsweise gerne mit einem altmodischen Kassettengerät, das ihn – im Vergleich zu einem digitalen Sequenzerprogramm – von den technischen Möglichkeiten her zwar limitiert, aber dafür zu sofortigen, künstlerischen Entscheidungen zwingt.

 


Video-Portrait Julian Sartorius: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Suche

Martina Berther holt aus ihrem elektrischen Bass sehr viel mehr heraus, als einfach Basstöne. Heftige Stürme oder weite Klanglandschaften tun sich vor dem geistigen Auge auf, wenn sie mit ihren Effektgeräten und Präparations-Werkzeugen – wie Stahlwolle, Schleifblock, Flaschenhals oder Geigenbogen – ihr Instrument in Schwingung versetzt.

Die Bündner Soloperformerin sagt, sie mache experimentelle Musik, weil sie sich dann selbst überraschen könne und so viel Freiheit habe. Gleichzeitig sei der Umgang mit dieser Freiheit nicht immer einfach. Ein Widerspruch? Nein! Es ist diese Spannung – zwischen Gelingen und Absturz – die für Martina Berther den Reiz ausmacht.

Genauso wie eine Soloperformance könne auch die Suche nach Sounds zum Balanceakt werden. Denn auch da gibt es viele Ungewissheiten und sogar Zweifel. Hinter jedem Sound muss für Martina Berther eine Absicht stecken, bevor sie ihn in ihr Repertoire aufnimmt. Platz für Beliebigkeit gibt es dabei nicht.

 


Video-Portrait Martina Berther: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Sound ist Reaktion

Janiv Oron wirkt wie ein Erfinder in einem Musiklabor. Wenn der frühere DJ seine Sounds kreiert, dann steht zwar nach wie vor der Plattenspieler oft im Zentrum, diesen erweitert er aber auf experimentelle Weise mit anderen Klangquellen, wie beispielsweise mit einem rotierenden Lautsprecher oder einer Murmelbahn.

Der Basler Klangperformer dirigiert seine Klangmaschinen aber nicht nur, sondern er reagiert auch auf zufällige Impulse, die er zurückbekommt. Janiv Oron sieht das als «Quelle des Ungewissen» und lässt sich bewusst darauf ein, um Improvisation zum Teil seines Schaffens zu machen.

Von der digitalen Klangwelt wendet sich Janiv Oron zwar nicht ab, aber er verspürt eine stärkere Faszination zu analogen und physisch-funktionierenden Klangquellen. Diese bieten im Vergleich zwar nur eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten, dafür sind sie haptisch und können von Hand bedient werden, statt auf einem Bildschirm.

 


Video-Portrait Janiv Oron: Neuerdings – Faszination Sound, Eigenproduktion SRG/SSR

 

«Neuerdings – Faszination Sound»

«Neuerdings» ist eine Videoporträt-Serie über diese vier Schweizer Musiker:innen. Sie sind Vorboten der Musik von morgen, die sich in ihrem Schaffen an der Schnittstelle zwischen kontemporärer Elektroakustik, Experimentalmusik und Pop bewegen und damit auch international auf Anklang stossen.

In diesen Zwischenbereichen ist die Schweiz besonders stark, nicht zuletzt wegen der zahlreichen Studiengänge, die auf transdisziplinäre und progressive musikalische Praxis setzen. Andererseits entstehen dafür auch immer mehr Veranstaltungen und wachsendes Interesse beim Publikum.

Durch die Porträtserie, die eine Zusammenarbeit von SRF 3 Sounds! und SRF 2 Kultur ist, wird ein Besuch in die Klangtüftlerstuben dieser vier Musiker:innen möglich, die mit ihrem Schaffen neue Wege gehen und deshalb schwer zu verorten sind. Sie reden in den Videos über ihre radikale Herangehensweisen und beschreiben ihre Zugänge zum Unzugänglichen und das Innovationspotenzial von neuen Klängen.
Roman Hošek

Der Launch fand statt am Festival: Bad Bonn Kilbi, Freitag 2.6.2023

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 7.6.2023, 20h: “Neuerdings”: Schweizer Musik mit Pioniergeist, Redakteur Roman Hošek
in: MusikMagazin, 3./4.6.2023: Swisscorner, Vier Schweizer Soundartists (ab Min 46:59), Redaktion Lea Hagmann
srf online-Text: Sie schrauben am Sound der Zukunft, Autor: Claudio Landolt

Sendung SRF 3:

Sounds!, 7.6.2023, 20h: “Neuerdings”: Schweizer Musik mit Pioniergeist, Redaktion Claudio Landolt

Neuerdings
auf playsuisse

Neo-profiles:
Noémi Büchi, Julian Sartorius, Martina Berther, Janiv Oron

 

 

 

Vom Loop zum Bordun: Drehmomente von Janiv Oron

Friedemann Dupelius
Es hat etwas Putziges an sich, wie Staubsaugroboter über den Boden tänzeln. Stets auf der Suche nach ungereinigten Winkeln im Raum kreiseln sie umher, drehen sich um ihren Mittelpunkt, ruckeln vor und zurück, nach links und rechts. Die Jagd nach dem letzten Staubkorn orchestrieren sie mit einem unnachgiebigen Summen. Vergangenen Sommer packte Janiv Oron kleine Lautsprecher auf zwei dieser modernen Haushaltshilfen. In der Istanbuler Kunstgalerie Öktem Aykut schrubbten sie sich zwischen den Besucher:innen auf dem Parkett vorbei und spielten einen mobilen Soundtrack für die Gemälde von Renée Levi an den Wänden, bestehend aus Fragmenten von Kompositionen Janiv Orons und dem Surren der kleinen Sauger.

 

Janiv Oron © Flavia Schaub

 

Es scheint, als hätte Karlheinz Stockhausens Rotortisch mit seinem drehenden Lautsprecher gut 60 Jahre später die Mobilität entdeckt. Oder aber die Party-Lastzüge, wie man sie von der Zürcher Streetparade kennt, hätten die Orientierung verloren. Janiv Oron wären wahrscheinlich beide Interpretationen recht. Der Basler Musiker und Soundkünstler bewegt nicht nur seine Klangquellen, sondern auch sich selbst zwischen verschiedenen musikalischen Fixpunkten und wirbelt dabei den Staub der Gewohnheiten durcheinander. Als Teil des DJ-Duos Goldfinger Brothers spielt er seit über zwei Jahrzehnten an Partys zum Tanz auf. Im Studium der Musik und Medienkunst an der Hochschule der Künste Bern kam er in Kontakt mit Klangkunst und zeitgenössischer Komposition. Seither erweitert Oron seine Klangsprache und denkt die Werkzeuge, mit denen er in der Clubkultur gross geworden war, auf seinen neuen Pfaden weiter. Den Plattenspieler und die Vinylscheibe verwendet er als Instrumente zur Komposition und Live-Performance. Lautsprechersysteme setzt er ein, um klanglich auf Räume zu reagieren und darin neue Klangräume zu gestalten. Damit ist er nicht nur zu Gast in Galerien, sondern hat in den vergangenen Jahren auch zahlreiche Kollaborationen mit Klangkörpern der zeitgenössischen Musik und mit Tanzcompagnien entwickelt.

 


Im Mai 2022 erschien Janiv Orons erstes Solo-Album „Easel“ beim Zürcher Label Light From Other Days. Die Stücke darauf spielte Janiv Oron mit dem analogen Synthesizer „Easel“ von Buchla ein.

 

 

Alles dreht sich

Das Motiv der Rotation ist in vielen Arbeiten von Janiv Oron augen- und ohrenfällig: „Der Mix, unendliche Loops, Umdrehungen des Geistes, Geschwindigkeit, Phasenverschiebung, allgemeine Formen der Wiederholung oder raumzeitliche Versetzung“, so beschreibt er seine Faszination für alles Drehende in der Musik. „Das sind Geräuschestrudel aus Zeit und Raum. Sie erzeugen eine dynamische oder kinetische Fülle.“ Rotierende Lautsprecher, performende Saugroboter und drehende Plattenteller kreisen durch die Kunst von Janiv Oron. Die ist bei aller kompositorischer Abstraktion stark vom Körper im Raum und von körperlichen Wahrnehmungen informiert: „Sound wandert auf die Haut und die Haut beginnt, für dich zu hören.“ Janiv Oron weiss aus dem Club, wie es sich anfühlt, von subkutanen Bässen im Zwerchfell gekitzelt zu werden.

 

Janiv Oron bei Nachtstrom 94 im Gare du Nord, Basel

 

Für sein Konzert mit der Basel Sinfonietta im Juni 2022, zum Abschluss deren Jubiläumssaison „40+1“, brachte er ein Soundsystem, das ein Freund von ihm gebaut hatte, mit in die Halle des Sportzentrum Pfaffenholz. Die zwei hohen Lautsprechertürme waren nötig, um den „Soundclash“ mit den 80 Musiker:innen des Orchesters aufnehmen zu können. Zugleich galt es, eine große Sporthalle adäquat zu beschallen. Die Sinfonietta spielte in diesem Konzert Flowing down too slow von Fausto Romitelli und Christophe Bertrands Mana. Aus diesen beiden Kompositionen sampelte Janiv Oron 64 kleine Ausschnitte, teils nur wenige Sekunden kurz, und liess sie durch verschiedene Computer-Algorithmen laufen. Das Ausgangsmaterial wurde dadurch gedehnt, verzerrt und aus seinem ursprünglichen Kontext entnommen. „Im Sampling isoliere ich Fetzen von einer Geschichte und setze sie in eine neue Erzählung ein“, erklärt er. In einem nächsten Schritt instrumentierte der Komponist Oliver Waespi 21 ausgewählte Remix-Fragmente von Janiv Oron wiederum für die Basel Sinfonietta. Oron spielte schließlich live an den Turntables mit dem Orchester. Die Schallplatten dienten hierbei, an eine Software angeschlossen, als Steuereinheit für die einzelnen Orchestersamples.
Der Titel dieser Re-Re-Komposition lautet Datendieb: „Ich arbeite in meiner Musik sehr oft mit bereits bestehendem Material. Beim Sampling ist man ein Zeitengel. Man stiehlt in der Vergangenheit, bearbeitet im Moment und denkt das Material in die Zukunft weiter.“

 

Janiv Oron mit der Basel Sinfonietta

 

Atmender Klangkern, Tanzender Tod

Ähnlich zwischen den Zeiten oszilliert auch der Loop – die (oft) auf Schallplatte gepresste Keimzelle elektronischer Tanzmusik, der sich Janiv Oron weiterhin verbunden fühlt. Im Lauf der Jahre entwickelte er dazu eine Faszination für den Bordun – in der elektronischen Musik meist als Drone bezeichnet. Im Drone kulminiert der Loop in einer Art ewiger Bewegung, die wie Stillstand anmutet, aber im Kern atmet und vibriert. Mit analogen oder digitalen elektronischen Instrumenten haucht Oron seinen Drones Leben ein und spielt sie unter anderem in Kollaborationen wie mit Christoph Dangel (Cello), Stefan Preyer (Kontrabass), Thomas Giger (Lichtkunst) und dem Kammerorchester Basel.

 


„Don Boscos Garden 1“ – mit Janiv Oron, Christoph Dangel, Stefan Preyer & Thomas Giger

 

Mit dem Kammerorchester hat Oron schon mehrfach genreübergreifende Projekte realisiert hat, etwa die drei Teile von Don Boscos Garden. Im neuesten, Ende Oktober 2022 realisiert, mischte er die vereinzelt im Don-Bosco-Gebäude spielenden Instrumentalist:innen des Kammerorchesters zu einem Remix von Mahlers 4. Sinfonie zusammen.


„Don Boscos Garden 2″ – mit dem Kammerorchester Basel, Giulia Semenzato & Anne-May Krüger

 

Im November 2022 steht eine weitere Kollaboration an. Für die Basler Tanzcompagnie MIR komponiert Janiv Oron gemeinsam mit dem Organisten Filip Hrubý eine Musik zwischen Ambient, Orgelklängen und Elektronik. Beide Orgeln der Basler Predigerkirche kommen dabei zum Einsatz. Das Stück Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert nähert sich dem abstrakten Phänomen des Todes und der eigenen Sterblichkeit an. Hierzu wurden auch acht Tanz-Laien aus Basel als „Expert:innen des Alltags“ in den Entwicklungsprozess einbezogen; eine von ihnen wird live auf der Bühne mittanzen. Auch wenn sich Janiv Oron bezüglich musikalischer Details noch bedeckt hält, kann man davon ausgehen, dass hier kein endgültiges Lied vom Tod gespielt wird. Denn: Alles dreht sich und kommt in veränderter Form wieder.
Friedemann Dupelius


Now here – no where. Ein Totentanz für das 21. Jahrhundert
9.-20.11., Predigerkirche Basel

Janiv Oron
MIR Compagnie
Christoph Dangel
Stefan Preyer
Thomas Giger

neo-Profile:
Basel Sinfonietta, Kammerorchester Basel, Oliver Waespi