Autodidakt mit Herz für Lyrik: Christoph Gallio

Christoph Gallio, Saxofonist, Komponist und Veranstalter, prägt seit bald 40 Jahren die Schweizer und internationale Free Jazz- und Neue Improvisationsszene mit. Im Gespräch mit Friederike Kenneweg verrät er, wie er von der Improvisation zur Komposition fand und was für eine Rolle Lyrik dabei spielt.

 

Christoph Gallio spielt Saxophon vor einem Mikrofon. Foto von John Sharpe
Der Saxophonist Christoph Gallio. © John Sharpe

 

Friederike Kenneweg
Von seinem ersten selbstverdienten Geld kaufte sich der junge Christoph Gallio (*1957) ein Sopransaxophon und brachte sich anschließend das Spielen selber bei. Auch wenn er danach ein Jahr am Konservatorium in Basel verbrachte und irgendwann sogar doch noch ein Studium abschloss: Dieser Haltung des Autodidakten, der einfach macht und währenddessen herausfindet, wie es am besten geht, ist er bis heute treu geblieben – als Improvisationsmusiker u.a. im Freejazz, als Komponist, als Veranstalter und als Betreiber des Labels PERCASO.

Auf der Suche nach neuen Impulsen

Um sich auf seinem eigenwilligen Weg weiter zu entwickeln, hat Christoph Gallio aber immer wieder im Außen nach neuen Impulsen gesucht.

“Das ist ja die Krux des Autodidakten, dass er irgendwann doch wieder etwas Neues machen muss. Ich kann nicht immer nur alleine sein mit meiner Eigenheit. Es braucht immer wieder einen neuen Input.”

Nach seiner Zeit als Saxophonist in der Schweizer Jazzszene und nach musikalischen Begegnungen mit Größen wie Irène Schweitzer oder Urs Voerkel beispielsweise, da musste eine Veränderung her.

 

Von der Improvisation zur Komposition

“Ich habe ja ausschließlich frei improvisiert. Das ging teilweise auch in den Free Jazz rein. Und das hat mich irgendwann nicht mehr befriedigt, weil die Gefahr da war, dass ich mich im Kreis drehe, dass ich nicht weiter komme und immer nur die gleichen Sachen abrufe.” Im Kontrast zu den vielen unwiderbringlichen Momenten improvisierter Musik wollte Gallio nun etwas schaffen, das sich wiederholen lässt – und begann mit dem Komponieren. Erst schrieb Gallio vor allem Stücke für seine eigenen Bandprojekte, wie zum Beispiel für das Trio Day&Taxi, das ihn inzwischen schon seit 35 Jahren begleitet. Im Laufe der Zeit kamen dann auch Auftragswerke für andere Künstler:innen hinzu.

 

Die Band Day&Taxi, Schwarz-Weiß-Foto in urbanem Setting, Foto von Jordan Hemingway
Im Schnitt alle sieben Jahre hat ‘Day&Taxi’ seit der Gründung im Jahr 1988 die Besetzung gewechselt. Silvan Jeger (Bass), Gerry Hemingway (Schlagzeug) und Christoph Gallio (Saxophon) spielen seit 2013 zusammen. © Jordan Hemingway

 

Auf der Platte Devotion von Day&Taxi aus dem Jahr 2019 dienten Gedichte von Friederike Mayröcker für Christoph Gallio als Inspirationsquelle. Der Bassist Silvan Jeger übernimmt hier den Gesangspart.

 

Miniaturen zu einem Ganzen verschmelzen

Am liebsten nimmt Christoph Gallio Texte zum Ausgangspunkt für seine Musik- vor allem Lyrik, zum Beispiel von Robert Filliou oder Gertrude Stein.

“Wenn ich einen Text als Basis habe, dann läuft es einfach. Ohne Text ist es für mich viel schwieriger, Stücke zu komponieren.”

In dem Stück The Ocarina Chapter für Streichtrio und Stimme, das das Mondrian Ensemble zusammen mit dem Bariton Robin Adams im Juni 2022 zur Uraufführung brachte, zeigt sich eine Eigenheit von Gallios Musik besonders gut: die Arbeit mit Miniaturen. Diese entstehen aus seiner Vorliebe für kurze, lyrische, oft humorvolle Texte, von denen er sich kompositorisch anregen lässt.

“An kleinen Stücke gefällt mir das scheinbar Unwichtige. Das Alltägliche. Warum nicht auch lustige Sachen machen, warum keinen Humor in die Musik bringen, warum ist die meiste Musik so streng und so ernsthaft, warum nehmen sich gewisse Menschen denn so wichtig, die Musik machen?”

 

In The Ocarina Chapter (2021) bringt Christoph Gallio Gedichte von Annina Luzie Schmid (*1983), Markus Stegmann (*1962) und Peter Z Herzog (*1950) zusammen.

 

Jede Miniatur ist ein eigenes Bild

Dreißig Miniaturen, teils rein musikalisch, teils vertonte Texte, sind in The Ocarina Chapter zu einer Abfolge von knapp vierzig Minuten zusammen gesetzt. Die raschen Wechsel, die das erforderlich macht, sind für die Interpret:innen eine besondere Herausforderung.

“Die Musiker müssen da sehr viel üben mit diesen Miniaturen. Jede ist ein Bild für sich. Das eine muss so gesungen werden,das nächste anders, da muss geschrien werden, dort geflüstert, ohne viel Überganzszeit dazwischen.”

 

Freiraum für Interpret:innen

Die richtige Abfolge für die einzelnen Abschnitte findet Christoph Gallio, indem er die vorskizzierten Miniaturen am Computer so lange unterschiedlich zusammen fügt, bis alles richtig klingt. Auch der Abstand zwischen den einzelnen Teilen ist wichtig, um die gewünschte Wirkung hervorzubringen. Besonders an solchen Stellen gibt Christoph Gallio den Interpret:innen seiner Stücke für die Aufführung nicht alles vor, sondern überlässt ihnen die genaue Ausgestaltung.

Bei der Uraufführung von The Ocarina Chapter gab die Violinistin Ivana Pristašová die Länge der Pause zwischen den Abschnitten vor. “Ivana hat das einfach dirigiert und hat Entscheidungen getroffen, wie lange das Ensemble wartet und wann es weiter geht, und dabei das richtige Gespür bewiesen.”

Auch die Lautstärken sind in der Komposition nicht ausnotiert, sondern das Ensemble musste selbst Entscheidungen über die Dynamik des Stückes treffen.

“Ich möchte den Musikern immer viel Freiheit geben, in der Hoffnung, dass sie so Freude entwickeln am Stück. Das gelingt, wenn sie merken, ich habe die Freiheit und ich kann es selber so erarbeiten, wie es mir gefällt.”

Und eine solche Freiheit nimmt sich Christoph Gallio selbst auf seinem Weg immer wieder aufs Neue.
Friederike Kenneweg

Robin Adams, DAY&TAXI, Silvan Jeger, Gerry Hemingway, PERCASO, Ivana Pristašová, Irène Schweitzer, Urs Voerkel, Annina Luzie Schmid, Markus Stegmann, Friederike Mayröcker

neo-profile:
Christoph Gallio, Petra Ackermann, Karolina Öhman, Mondrian Ensemble

Musik und Leben als Einheit

Es sind viele Rollen, in denen Roland Dahinden auftritt: als Komponist, Posaunist, Klangkünstler, Improvisator, Dirigent… Bei den diesjährigen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik stellt er Werke des US-amerikanischen Komponisten Anthony Braxton vor, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet.

 

Roland Dahinden mit zum Dirigieren erhobenen Hand vor schwarzem Hintergrund
Roland Dahinden. Foto: Marek Bouda

 

Friederike Kenneweg
Von morgens bis abends auf unterschiedliche Art mit Musik erfüllt – so kann man sich wohl den Alltag von Roland Dahinden vorstellen. Zwei Stunden sind immer für seine Posaunenetüden reserviert, denen er sich schon seit nunmehr 40 Jahren täglich widmet. Eine Zeit der vollen Konzentration auf sein Instrument, in der nichts anderes Platz hat. “Das ist etwas, auf das ich mich jeden Tag freue”, sagt Dahinden. “Und danach freue ich mich genauso darauf, die Partitur aufzuschlagen, die als nächstes dran ist, oder an meinen Kompositionen zu arbeiten, zu proben, oder was sonst gerade auf dem Plan steht. So hat alles seinen Platz.”

 

Roland Dahinden und HIldegard Kleeb, fotografiert von Gary Soskin
Roland Dahinden und Hildegard Kleeb. Foto: Gary Soskin

 

Ein Duo seit langem: Dahinden/Kleeb

Wenn er zu Hause ist, sind da außerdem meistens Klavierklänge, wenn seine Ehefrau, die Pianistin Hildegard Kleeb, für die nächsten Auftritte übt. Schon seit 1987 spielen die beiden als Duo miteinander, aber auch in verschiedenen Trio-Konstellationen, zum Beispiel mit dem Perkussionisten Alexandre Babel oder dem Elektromusiker Cameron Harris. Und beide verfolgen dazu auf unterschiedliche Weise ihre jeweilige Solokarriere, spielen aber auch noch in ganz anderen Projekten oder Konstellationen zusammen.

“Wir sprechen über Musik, wenn wir morgens aufstehen, und oft auch noch, wenn wir abends schlafen gehen”, erzählt Roland Dahinden. “Das ist sehr wertvoll, dass man diese Begeisterung so lange mit jemandem teilen und das gemeinsam leben kann.”

 

Das Stück “Panorama” für Posaune und Klavier von Alvin Lucier aus dem Jahr 1993, gespielt vom Duo Dahinden/Kleeb

 

Begegnungen mit Anthony Braxton, Alvin Lucier, John Cage

Gemeinsam mit Hildegard Kleeb erlebte Roland Dahinden in den 1990er Jahren eine für ihn sehr prägende Zeit in den USA. Denn von 1992 bis 1995 konnte er an der Wesleyan University als Assistent von Alvin Lucier und Anthony Braxton arbeiten und deren besondere Herangehensweise an Klangkunst, Improvisation und Jazz genau kennen lernen. Dass dieser Aufenthalt überhaupt möglich war, verdankte er der Fürsprache keines geringeren als John Cage, der für das Duo Dahinden/ Kleeb 1991 mit Two5 sogar ein eigenes Werk komponierte.

 

Anthony Braxton und Roland Dahinden, fotografiert von Marek Bouda
Anthony Braxton und Roland Dahinden. Foto: Marek Bouda

 

Dirigieren in Prag

Sein guter Kontakt zu Anthony Braxton und die genaue Kenntnis seiner Musik, die sich zwischen fixierter Musik und Improvisation bewegt, führten dazu, dass Roland Dahinden im Jahr 2021 mit dem Prague Music Performance Orchestra  einige von Braxtons Stücken aus der Serie der Language Type Music einstudierte. Und das Ensemble, selbst in seiner Ausrichtung zwischen auskomponierter zeitgenössischer Musik, Improvisation und Jazz angesiedelt, war mit der Zusammenarbeit so zufrieden, dass sie ihn als festen Dirigenten anfragten. Die 55 Musiker:innen des Ensembles stehen alle auch noch mit eigenen musikalischen Projekten in der Öffentlichkeit und bringen je eigene Ansätze und Herangehensweisen mit. Diese zu einem Gesamtklang zusammenzuführen, ist immer wieder eine Herausforderung, sagt Dahinden – aber eine, der er sich nur zu gerne stellt.

 

 

Anthony Braxton in Darmstadt

In diesem Jahr widmet sich das PMP-Orchester unter der Leitung von Roland Dahinden der Uraufführung eines Monumentalwerks von Anthony Braxton: der Oper Trillium X. Die viereinhalbstündige Multimedia-Oper, an der Braxton über fünf Jahre gearbeitet hat, besteht aus vier Akten, und setzt sich mit den Auswirkungen des Turbokapitalismus auseinander – mit globalen Katastrophen,  mit nuklearen Bedrohungen und dem Zusammenleben von Mensch und Roboter.  Nach der ersten und auch erstmal einzigen Aufführung des Stückes am 1. August in Prag reist das Ensemble zu den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, um dort eine Aufnahme dieses großen Werkes zu realisieren. Beim Pre-Opening-Konzert in Darmstadt wird das PMP Orchestra unter der Leitung von Roland Dahinden dort eine Version der Language Music von Anthony Braxton zur Aufführung bringen. In Darmstadt hat Roland Dahinden außerdem noch einen Auftritt als Posaunist, wenn in einem eigens für diesen Anlass zusammen gestellten Ensemble das neue Stück Thundermusic von Anthony Braxton zur Uraufführung gebracht wird.

Nach diesem ereignisreichen Sommer soll es für Roland Dahinden dann erst mal wieder mit der Arbeit an eigenen Kompositionen weiter gehen. Sicher ist: der Alltag im Hause Dahinden/Kleeb bleibt weiter von Musik erfüllt, wie auch immer sie klingt. Und die nächste reizvolle Herausforderung lässt sicher nicht lange auf sich warten.
Friederike Kenneweg

 

Roland Dahinden Hildegard Kleeb PMP Orchestra Wesleyan University Internationale Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt

Termine:

5. August 2023: Language Music mit Anthony Braxton und dem PMP Orchestra unter der Leitung von Roland Dahinden, 17 Uhr, Edith-Steinschule, Darmstadt im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse 2023

7. August 2023: Uraufführung von Thunder Music von Anthony Braxton, u.a. mit Roland Dahinden an der Posaune, 19:30 in der Lichtenbergschule Darmstadt

Neo Profile:
Roland Dahinden Hildegard Kleeb Alexandre Babel