Communiquer au-delà de la musique 

Eric Gaudibert, Genfer Pianist, Komponist und Dozent war eine Schlüsselfigur der zeitgenössischen-experimentellen Musikszene der Romandie. Verstorben vor zehn Jahren, prägte er als Pädagoge eine ganze Generation Musikschaffender und förderte wichtige Ensembles für zeitgenössische Musik. Vom 09. bis zum 17. Dezember veranstalten diese für ihn gemeinsam ein Festival mit Marathonkonzert in der Genfer Victoria Hall. Dabei kommen auch 22 Miniaturen seiner ehemaligen Studierenden zur Uraufführung.

Gabrielle Weber
Sie heissen Contrechamps, Ensemble Vortex, Eklekto Geneva Percussion Center oder Nouvel Ensemble Contemporain (NEC) und gemeinsam ist ihnen nicht nur, dass sie in der zeitgenössischen Musikszene der Romandie sehr aktiv sind, sondern auch, dass alle einen starken Bezug zu Eric Gaudibert haben.

Daniel Zea, Serge Vuille und Antoine François, die künstlerischen Leiter von Vortex, Contrechamps und NEC, initiierten das Festival als kollaboratives Projekt: «die Idee entstand spontan als wir uns über Eric unterhielten und es ergab sich ganz von selbst, dass wir es gemeinsam angehen wollten», meint Daniel Zea, denn Gaudibert sei für die Entwicklung der ganzen Szene wichtig gewesen. In der Haute école de musique Genève (HEMG) finden nun eine Tagung, ein Filmscreening mit table ronde, sowie ein Konzert von Vortex statt. In der Victoria Hall gibt es zum Schluss ein Marathonkonzert der Ensembles zusammen mit dem Orchester der HEMG.

 

Portrait Eric Gaudibert ©DR zVg. Contrechamps

 

Als «communiquer au-delà de la musique», ein Kommunizieren über die Musik hinaus, bezeichnete Gaudibert, was ihn zum Unterrichten antreibe. Dieses Kommunizieren erprobte er zunächst in Frankreich, wo er nach dem Klavierstudium in Lausanne und dem Kompositionsstudium in Paris ab 1962 im Bereich der «Animation», der Musikvermittlung, in ländlichen Regionen tätig war. Anschliessend, zurück in der Schweiz, unterrichtete er viele Jahre Komposition am Conservatoire Populaire de Genève, bevor er an die HEMG wechselte. Bereits Michael Jarrell oder Xavier Dayer, beides heute namhafte Komponisten und Dozenten mit Wurzeln in Genf, waren seine Schüler. Viele weitere nationale und internationale Laufbahnen begleitete er als künstlerische Leitfigur, Förderer und Netzwerker.

Serge Vuille, Leiter von Contrechamps, selbst kein direkter Schüler von Gaudibert, beindrucke am «Phänomen Gaudibert» dessen nachhaltige Präsenz in der Szene, die sich auch daran gezeigt habe, wie rasch weitere Partner fürs Festival zugesagt hätten. Contrechamps arbeite laufend mit ehemaligen Schüler:innen zusammen, seien es Interpret:innen oder Komponist:innen. «Am Festival wollte ich deshalb diesen Lehrer-Schüleraspekt in zweierlei Richtungen abbilden», sagt Vuille.

Da ist einerseits Nadia Boulanger, Gaudiberts Theorielehrerin in Paris: von ihr bringt Contrechamps ein Orchesterwerk zur Aufführung. Boulanger unterrichtete ihrerseits zahlreiche, heute weltweit gespielte Komponierende. Ihr eigenes Werk wird hingegen selten aufgeführt. Sie sei als Komponistin verkannt, da sie selbst hauptsächlich als Pädagogin wahrgenommen werde, so Vuille.

Andererseits gab Contrechamps im Kreis von Gaudiberts ehemaligen Studierenden Kurzkompositionen in Auftrag. Angesichts der hohen Zahl von 45 Absolvent:innen fragte man «nur» einen regional überschaubaren Kreis von weiterhin in der Romandie tätigen oder mit der Romandie verbundenen an. Von diesen sagten mit zwei Ausnahmen alle zu. «Dieses klare Bekenntnis seiner Schüler:innen war beeindruckend», sagt Serge Vuille.

Mit Vorgabe einer Dauer von nur einer Minute und offener Besetzung, vom grossen Ensemble bis zum Solo und ggf. Tonband, werden nun 22 Miniaturen aufgeführt, darunter Stücke von Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara oder Daniel Zea.

Daniel Zea hebt noch einen anderen Aspekt der Lehrer-Schüler-Kommunikation hervor: «Wir alle sind sehr dankbar dafür, was er uns mitgegeben und ermöglicht hat. Zugleich war es ein Hin und Her: Eric war offen und neugierig – ihn interessierte was uns interessierte. Wir beeinflussten ihn zum Beispiel mit unserem Interesse an unserer traditionellen Musik». Zea stammt wie einige Absolvent:innen von Gaudiberts Kompositionsklasse aus Südamerika. Sein Ensemble Vortex fand in Gaudiberts Unterricht zusammen und wurde von ihm bis zuletzt begleitet und gefördert.

 


Hekayât, pour rubâb, hautbois, hautbois baryton, alto et percussion, 2013 Eigenproduktion SRG/SSR, interpretiert von Khaled Arman an der Rubâb, einer arabischen Laute, ist eines der späten Werke Gaudiberts, in denen er Instrumente, deren Interpret:innen und Spielweisen aus anderen Kulturräumen zu integrieren sucht.

 

Elektroakustik und Diversität

 

Gaudibert, geboren 1936 in Vevey, studierte in Paris bei Nadia Boulanger und bei Henry Dutilleux, und ist vor allem für seine poetischen klangmalerischen Instrumentalwerke bekannt. Es gibt aber auch andere, weniger bekannte Seiten:Zurück in der Schweiz, forschte er in den frühen siebziger Jahren in seiner selbstbezeichneten «experimentellen» Phase im Experimentalstudio des Radios in Lausanne an elektronischen Klängen.

 

Portrait Eric Gaudibert zVg. Contrechamps

 

Vortex widmet ein Konzert am 10. Dezember ganz seinen elektroakustischen Werken, was der multimedialen Ausrichtung des Ensembles entspricht: «es ist eine wichtige, viel zu selten gezeigte Phase seines Schaffens», sagt Daniel Zea. Zusammen mit John Menoud, Komponist und Multiinstrumentalist, besuchte er Gaudiberts Witwe Jacqueline, wobei sie Videos, Tonkassetten und Partituren durchforstet hätten. Zur Aufführung kommen nun Stücke für Instrumente und Tonband oder Live-Elektronik, die oft nur ein-zwei Mal aufgeführt wurden, interpretiert von Musiker:innen, die eng mit Gaudibert zusammen gearbeitet haben. Benoît Moreau spielt bspw. En filigrane für Epinette (Spinett) und Tonband, das nur einmal, durch Gaudibert selbst an der Uraufführung 20018 gespielt wurde – Moreau war damals dabei.

 

Die Stückauswahl fürs Schlusskonzert zeigt die Vielseitigkeit Gaudiberts. «wir entschieden uns für eine Kombination von Schlüsselwerken wie Gong – sein letztes grosses Ensemblewerk – mit selten gespielte Stücken, um die Diversität seines Schaffens zu zeigen», so Vuille. Gong ist dem Pianisten Antoine Françoise gewidmet, der es auch am Festival interpretiert, zusammen mit Contrechamps. François, heute international gefragter Solo-Pianist und Leiter des NEC, hatte gleichfalls eine enge Beziehung zu Gaudibert. Selbst Pianist, begleitete und unterstützte Gaudibert die Entwicklung von François seit der ersten Begegnung als er 16 Jahre alt war und setzte auf sein Können für die anspruchsvolle Partie in Gong mit erst 24  Jahren.

 


Gong &Lémanic moderne ensemble, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Nebst Instrumentalwerken ist auch in der Victoria Hall Gaudiberts elektroakustische Phase vertreten: Vortex bringt Ecritures von 1975 für eine Stimme und Tonband, entstanden im Experimentalstudio in Lausanne, in einer neuen Version für vier im Raum verteilte Stimmen zur Aufführung. «Das Stück lebt weiter mit neuen technischen Möglichkeiten. Das wäre in Gaudiberts Sinn gewesen», sagt Zea. Dass seine ehemaligen Studierenden weiterhin kollaborativ zusammenarbeiten, das hätte Eric Gaudibert sicherlich gleichfalls begrüsst – als Kommunizieren über die Musik hinaus.
Gabrielle Weber

Nadia Boulanger, Henri Dutilleux

 

 Im Filmportrait: Eric Gaudibert, pianiste, compositeur, enseignant (Plans fixes, 48min, Suisse, 2005) äussert sich Gaudibert zu seinen grossen Themen, bspw. seine Vorliebe für Literatur und Malerei, die Zeit in Paris, das Unterrichten und die Einflüsse anderer Kulturen in sein Musikschaffen: der Film steht im Zentrum einer Roundtable am Genfer Festival Gaudibert am 10. Dezember.

 

Festival Gaudibert:
9./10. Dezember 2022, HEMG: Tagung / Konzerte: An der Tagung an der HEMG diskutieren u.a. die Komponisten und Dozenten Xavier Dayer, Nicolas Bolens oder der Musikethnologe und Interpret Khaled Arman.
17.Dezember 2022, Victoria Hall Genève, 18:30h: Marathonkonzert Contrechamps, Eklekto, le NEC, Vortex, orchestre de la HEMG, Dirigent: Vimbayi Kaziboni, Gaudibert, Boulanger, UA 22 Miniaturen:

Sendung RTS:
musique d’avenir, 6.2.23: Festival Gaudibert 2022, Redaktorin/Autorin Anne Gillot

Neo-Profile
Eric Gaudibert, Daniel Zea, Antoine Françoise, Arturo Corrales, Fernando Garnero, Dragos Tara, Ensemble Vortex, Contrechamps, Nouvel Ensemble Contemporain, Eklekto Geneva Percussion Center, John Menoud, Benoit MoreauEnsemble Batida, Xavier Dayer, Michael Jarrell

Improvisierte Musik in Genf – Die Welt der AMR

Die AMR (l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée) aus Genf ist die älteste Schweizer Institution für improvisierte Musik. 1973 gegründet, hat sie sich von Anfang an nicht nur für improvisierte Konzerte, sondern auch für Probemöglichkeiten und Unterricht in improvisierter Musik eingesetzt. Ihr beinahe 50-jähriges Engagement wird nun mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt.

Das “Sud des Alpes” der AMR

Jaronas Scheurer
Gerade in Nischen-Genres wie z.B. der improvisierten Musik geschieht die meiste Arbeit ehrenamtlich. Die Gagen für die Musiker:innen sind tief, die Arbeit hinter den Kulissen basiert auf Good Will, das wenige Stiftungsgeld für die Veranstalter:innen ist knapp. Die Corona-Pandemie, während der über Monate keine Konzerte durchgeführt werden konnten und noch länger keine Planungssicherheit existierte, hat diesen Missstand noch verschärft. Nicht so in Genf – die AMR, l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée, zahlte sowohl den Musiker:innen, die gebucht waren, aber nicht spielten konnten, als auch den Techniker:innen und den Barleuten, die nicht arbeiten konnten, trotzdem Lohn. Das ist nicht nur äusserst löblich, sondern auch ziemlich ungewöhnlich. «Das Geld hatten wir und wir hatten sie ja gebucht; und die Musiker:innen waren schlechter dran als wir Organisator:innen.», erklärt Brooks Giger, Sekretär der Programmkommission der AMR und selber Kontrabassist.

 


John Menoud: Which way does the blood red river flow? Nouvel Ensemble Contemporain und der Trompeter Mazen Kerbaj, 2017. John Menoud ist Mitglied der Programmkommission der AMR.

 

Fixstern der kulturellen Landschaft Genf

Die AMR gibt es nun schon seit 1973, seit beinahe fünfzig Jahren. In den 70er-Jahren brodelte die Free Jazz-Szene in Europa. Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald & Co. in Deutschland, Irène Schweizer und Pierre Favre in der Schweiz. In England gab es John Stevens und sein «Spontaneous Music Ensemble» oder das Improvisationsensemble AMM. Und in den USA ging sowieso die Post ab: Charles Mingus, Alice und John Coltrane, Ornette Coleman, Sam Rivers usw. In Genf fanden sich damals ein paar Musiker:innen zusammen, die sich dieser Musik hingaben. So entstand die Idee der AMR. Schon bei der Gründung der AMR 1973 war den Mitgliedern klar, dass es nicht nur darum geht, der improvisierten Musik eine Bühne zu bereiten und Konzerte zu veranstalten. «Da war diese grosse Lust der Gründungsmitglieder der AMR, etwas zu haben, wo sie sich wiederfinden. Wo sie zusammen arbeiten und kreieren können. Wo sie diese Musik in Konzerten hören und im Unterricht weitergeben können.» – so Brooks Giger. Die AMR wollte von Anfang an nicht nur Konzertveranstalterin, sondern auch Musikschule und Vermieterin von Proberäumen sein. Mit diesem Konzept stiess sie bei der Stadt Genf auf offene Ohren und schon bald erhielt sie ein finanzielles Fundament zur Verwirklichung ihrer Idee. «Wir hatten auch einfach sehr, sehr viel Glück, dass wir in den 70er die Unterstützung von der Stadt erhielten und sie bis heute erhalten», bemerkt Brooks Giger zur Sondersituation Genf. 1981 konnte die AMR dann ein Gebäude an der Rue des Alpes mieten, das «Sud des Alpes»; bis heute Zentrum und Sitz der AMR. Bis 2006 wurde das «Sud des Alpes» schrittweise umgebaut. Und heute befinden sich dort nicht nur die Büros der AMR, sondern auch 13 Proberäume (inklusive zwei grosse für grössere Ensembles) und zwei Konzertsäle, einer im Keller für 50 Personen und einer im EG für 120 Personen. Inzwischen gehört die AMR fest zur kulturellen Landschaft der Stadt Genf. Brooks Giger beschreibt das so: «Wenn jemand in den Hotels der Stadt fragt, wo man Jazz hören kann – AMR. Wenn jemand Musiker:innen für einen Gig sucht – AMR.» Sie seien inzwischen eine feste Grösse für Jazz und improvisierte Musik in Genf, dadurch bekämen sie immer noch Geld von der Stadt – «on croise les doigts» meint Brooks Giger dazu.

Aus der Gründungszeit der AMR 1973

 

Konzertprogramm zwischen lokaler Szene und internationalen Grössen

Die finanzielle Unterstützung der Stadt Genf ist auch an Bedingungen geknüpft, so müssen mindestens 60 Prozent der auftretenden Musiker:innen in der Region zuhause sein. Das Programmieren der 250 bis 300 jährlichen Konzerte und der zwei Festivals ist also immer auch ein Balanceakt zwischen lokalen Künstler:innen, nationalen Grössen und internationalen Gäste. Auch die am AMR durchgeführten Workshops zeigen das Gelernte in regelmässigen Konzerte. So kann es gut sein, dass in derselben Woche der New Yorker Starsaxofonist Chris Potter mit seinem Quartett, eine südafrikanisch-schweizerische Combo, eine lokale Jazzband und der Funk-Workshops der AMR auftritt. Nicht nur durch das Konzertprogramm weht ein fairer Wind: So sind die Angestellten der AMR allesamt selbst Musiker:innen. Dank der Teilzeit-Anstellung zwischen 30-60% in der AMR ist ihnen eine feste Existenzgrundlage gewiss. Auch auftretende Musiker:innen, die in der Schweiz wohnhaft sind, können sich von der AMR anstellen lassen, was gewisse Sozialleistungen sicher stellt. Die Eintrittspreise sind moderat, so dass sich auch nicht so vermögende Menschen das AMR-Konzert leisten können. Und vor einigen Jahren hat sich eine Gruppe gegründet, die sich für ein geschlechtlich ausgeglichenes Konzertprogramm einsetzt.

 

Die Genfer Band Noe Tavelli & The Argonauts am AMR Jazz Festival 2022

 

Ein Genfer Bijou für improvisierte Musik

Die AMR steht im Jahr 2022 auf festen Beinen: Sie hat einen Ort mit den benötigten Räumlichkeiten für Unterricht, Konzerte und Proben, die finanzielle Unterstützung scheint längerfristig gesichert, die AMR ist gut durch die Coronapandemie gekommen und präsentiert nun wieder ein buntes, interessantes Konzertprogramm. Vor allem aber hat die AMR eine lebendige und engagierte Musikszene im Rücken. Das Engagement der AMR für improvisierte Musik wurde nun auch durch das Bundesamt für Kultur mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt: «Der Verein ist ein Mikrokosmos der Kultur, der Gleichstellung, der Auseinandersetzung und des Wachstums.» schreibt das BAK als Begründung.

 

Nasheet Waits Equality Quartet am AMR Jazz Festival 2013, ©Juan Carlos Hernandez

Brooks Giger sieht Wachstum jedoch nicht als oberste Priorität. «Wir machen schon so viel mit den Konzerten, den Festivals, den Workshops und den Proberäumen. Man braucht nicht unbedingt mehr zu machen. Was wir haben, ist schon ein Bijou, ein Diamant. Den müssen wir auch einfach weiterhin polieren und pflegen.»

Nächstes Jahr wird die AMR 50 Jahre alt. Da wird es natürlich auch noch einige Besonderheiten geben, so sind eine Fotoausstellung in den Bains de Pâquis in Genf und eine Publikation mit Fotos und Essays geplant. Des Weiteren ist ein Dokumentarfilm über die AMR gerade in der Mache. Und natürlich gibt’s im «Sud des Alpes» auch weiterhin einfach viel gute, improvisierte Musik aus Genf, der Schweiz und aller Welt zu hören.
Jaronas Scheurer

 

Die Website der AMR und ihr Konzertprogramm.
Die Laudatio der Jury des Schweizer Musikpreis 2022 für die AMR.
Der YouTube-Kanal der AMR.

Neo-Profile:
John Menoud, d’incise, Alexander Babel, Daniel Zea