Verzerrte Erinnerungen, konkrete Missionen

Soyuz21, fünfköpfiges Ensemble aus Zürich, experimentiert seit seiner Gründung 2011 an der Schnittstelle von Instrumentalklang mit Elektronik und spartenübergreifenden Konzertformaten. Das neue Projekt mit Stücken von Martin Jaggi und Bernhard Lang richtet sich gleichermassen an Musikfans und Cinéasten. Mit Mats Scheidegger, E-Gitarrist und Ensembleleiter, und Martin Jaggi sprach Friedemann Dupelius.

Friedemann Dupelius
Am 6. Juli 1976 starte die sowjetische Mission Sojus 21 ihre Reise zur Raumstation Saljut 5. Mit der Crew stiegen gleich mehrere Forschungsvorhaben an Bord: Guppys (wie würden sie sich im All verhalten?), diverse Pflanzen (können sie dort draußen keimen?) und Kristalle (warum auch nicht?). Außerdem sollte Sojus 21 die Erde mit Infrarot-Teleskop, Handspektrograf, Farb- sowie Schwarzweiß-Film aus der Distanz aufzeichnen – und zugleich die Sonne beobachten. Die Nachrichtenverbindung über Satelliten wurde genauso untersucht wie die selbstständige Navigation der Station. Und vielleicht könnte sie ja sogar von militärischem Nutzen sein? Nach nur 49 Tagen ging es zurück Richtung Erde, man munkelte von Heimweh seitens der Crew.

Die Hauptbesatzung von Sojus 21 auf einer sowjetischen Briefmarke (1976) – Public domain via Wikimedia Commons, Uploader: Aklyuch at wikipedia.ru

Auch wenn das Zürcher Ensemble Soyuz 21 weder mit Guppys, Pflanzen oder Kristallen operiert, noch Interesse an kriegerischen Kontexten hat, finden sich doch Parallelen zur Namenscousine: Beiden geht es um Autonomie und Kommunikation, um Beobachtung und Experimente. Den Stolz jedoch, die Ideen hinter der Namensgebung entschlüsselt zu haben, trübt Mats Scheidegger schnell: Sein 2011 gegründetes Ensemble habe mit dieser speziellen Mission nichts zu tun. Es gehe zunächst mal um den russischen Begriff „Sojus“, der Gefährte bedeutet. Der Raumfahrt-Bezug fungiere ganz allgemein als Symbol für die Neugier darauf, künstlerische Entdeckungen zu machen. Und die 21? „Die steht für das 21. Jahrhundert! Wie originell!“, lacht Mats Scheidegger selbstironisch.

 


Yulan Yu: In den Dünen (2022), uraufgeführt von Soyuz 21 am 26.11.2022 im Ackermannshof Basel


Die Raumsonde dokumentiert Vielfalt

Aber Recht hat er. Mit seinem künstlerischen Ansatz verortet sich Soyuz 21 fest in diesem Jahrhundert. Das fünfköpfige Ensemble – gefunden hat es sich „aus musikalischen Gründen, aus dem Spielen heraus“ – bringt regelmäßig neue Kompositionen zur Uraufführung. Enge Verbindungen pflegt es u.a. zu den österreichischen Komponisten Klaus Lang und Bernhard Lang, aber auch zur jungen Generation Schweizer Komponistinnen und Komponisten. Drei Jahre lang bestand eine Kooperation mit dem Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) an der Zürcher Hochschule der Künste, dessen Studierende Stücke für Soyuz entwickelten. Ästhetisch herrscht bei Soyuz 21 die Vielfalt, die auch eine fotografisch ausgestattete Raumsonde dokumentieren würde. Für Improvisation ist genauso Platz wie für Elektronik, den Plattenspieler als Instrument oder die Kinoleinwand als künstlerisches Element. „Bei den Tasteninstrumenten haben wir uns weg vom Klavier, hin zu elektronischen Klängen bewegt“, erzählt Mats Scheidegger. „Da hast du einfach viel mehr Möglichkeiten. Ein Klavier ist halt immer ein Klavier, auch wenn es immer noch tolle Stücke dafür gibt.“ Auch sein eigenes Instrument erweitert der Gitarrist mit allen Regeln und Reglern der Technologie.

 

Soyuz 21 beim Projekt “Spielhölle” im Flipperclub Regio Basel © Guillaume Musset

 

Neben Scheidegger gehören derzeit Philipp Meier (Tasten), Sascha Armbruster (Saxofon), Isaï Angst (Sound Design & Elektronik) und João Pacheco (Percussion) zu Soyuz 21, immer wieder stoßen auch Gastmusiker*innen hinzu, zum Beispiel Sound-Designer Nicolas Buzzi. Viele seiner Projekte setzt das Ensemble in seiner eigenen Konzertreihe um, die zumeist Halt in Basel und Zürich macht. „Wir machen uns viele Gedanken über neue Konzertformate“, sagt Mats Scheidegger. „Es gibt einen gewissen Publikumsverlust seit der Wiederöffnung der Kulturstätten. Manchmal hilft schon ein Konzerttitel oder ein Plakat, das die Leute anspringt – wie beim Konzert Schwimmkörper.“

 

Konzertplakat “Schwimmkörper” (Foto: Mats Scheidegger)

 

Das Reisen kompensiert Zeitvergeudung

Und manchmal lockt das Format selbst. Am 13. Mai soll das Publikum ins Kino strömen, egal ob Musikfan oder Cineastin. Im Zürcher Filmpodium bringt das Projekt „Constructed Memories“ zeitgenössische Musik und Film gleichberechtigt zusammen. Und da sind wir wieder zurück bei Sojus 21, der Sonde von 1976. Auch für „Constructed Memories“ haben sich zwei Gefährten zusammengetan. Auch sie haben die Welt beobachtet und mit der Kamera festgehalten, in Farbe und in Schwarzweiß. Und auch hier müssen die alten Aufnahmen aus der Distanz interpretiert werden – aus räumlicher, aber auch zeitlicher. 1999 reisten der Komponist Martin Jaggi und der Videokünstler Adrian Kelterborn durch Malawi. Damit wollten sie die Zeitvergeudung durch den Pflichtdienst beim Schweizer Militär kompensieren. 2004 folgte eine Reise durch Westafrika, genauer: Ghana, Togo und Benin. Während Kelterborn den zweiten Trip mit seiner Digitalkamera festhielt, speicherte Jaggi viele musikalische Erinnerungen: „Auf beiden Reisen sind wir an viele Konzerte gegangen. In Accra haben wir mit einem Orchester Musik gemacht, da wurde Händel gespielt.“ Auch das in Ghana entstandene Genre Highlife, ein Vorgänger des Afrobeat, spielt eine Rolle in Martin Jaggis Reisegedächtnis.

 

Martin Jaggi und Adrian Kelterborn produzierten „Constructed Memories“ bereits als Video, online erschienen auf der Webseite von Soyuz 21.

 

Aus diesem Mix aus technisch und neurologisch festgehaltenem Erinnerungen erarbeiteten Jaggi und Kelterborn die zwei Teile des audiovisuellen Stücks „Constructed Memories“. Rund 20 Jahre nach den beiden Reisen stellten die Schulfreunde fest, wie unterschiedlich und wie verzerrt ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit waren. „Das war eine richtig archäologische Ausgrabung“, erinnert sich Jaggi. „Es ging uns aber weniger darum, spezifische Erinnerungen zu vertonen. Vielmehr rekonstruieren wir gewisse Daseinszustände, die wir mit den unterschiedlichen Orten verbinden.“

Dass ein Lockdown in die Produktionsphase fiel, verstärkte das Moment der Verfremdung und Re-Konstruktion der Gedächtnisschnipsel noch mehr. „Wir konnten nicht direkt zusammen arbeiten. Ich saß in Singapur fest, Adrian war in der Schweiz. Also habe ich zuerst die Musik komponiert und Adrian die Stimmungsmomente genau beschrieben. Er hat die Musik dann bebildert, ohne dass sie zuvor von Instrumenten gespielt werden konnte.“ Das Ergebnis ist ein dynamisches Mit- und In- und manchmal auch Gegeneinander von Musik und Film. Die Bilder sind körnig und pixelig, sie wabern und fließen. Die Töne zerren und schleifen, verschmelzen und überblenden mit der visuellen Ebene, um sich dann wieder von ihr zu lösen. Dabei floss sicher auch der Bewusstseinszustand der pandemischen Zeit mit ein. „Eine Reise nimmt in der Erinnerung ja einen viel größeren Platz ein als dieselbe Zeitspanne, wenn man sie zu Hause verbringt. Noch extremer ist das mit der Covid-Zeit. Wenn zwei Jahre lang jeder Tag dem andern gleicht, werden auch keine Erinnerungen gespeichert – oder nur eine“, lacht Martin Jaggi.

 


Teil 2 von „Constructed Memories“. Das Video-Material entstammt der Speicherkarte von Adrian Kelterborns Digitalkamera anno 2004.

 

Die beiden Videomusiken (oder Musikvideos) ergänzt ein Stück aus Bernhard Langs „DW“-Reihe (die Nummer 16), in der er seine popmusikalische Sozialisation musikalisch verarbeitet. Auch dabei geht es um Erinnerung und ihre verschobene Wahrnehmung im Heute. Musikalisch lassen sich diese Einflüsse wiederum in der Zeit verorten, in der Sojus 21 ins Weltall schwirrte – wir erinnern uns.
Friedemann Dupelius

Konzerte:
Martin Jaggi & Adrian Kelterborn (“Constructed Memories”) + Bernhard Lang (“DW 16”)
Sa, 13.5., 20:45: Konzertpodium im Filmpodium Zürich
So, 14.5., 20:00: Kulturmühle Horw (Luzern)


Soyuz 21Martin Jaggi, Adrian Kelterborn, Bernhard Lang, Klaus Lang, Isaï Angst, João Pacheco, Nicolas Buzzi

neo-Profile:
Soyuz 21, Martin Jaggi, Sarah Maria Sun, Mats Scheidegger, Philipp Meier, Julien Mégroz, Nicolas BuzziMusikpodium der Stadt Zürich, Forum Neue Musik Luzern

Hyper Hyper!

Gabrielle Weber
Hyper Hyper!? Hyper Duo beherrscht die Kunst des Steigerns bis zum Exzess. Das Duo mit dem Pianisten Gilles Grimaitre und dem Schlagzeuger Julien Mégroz setzt konsequent auf Energie, Rhythmus und Satire. Grenzen scheint es für sie keine zu geben, weder zwischen Musikstilen noch Aufführungskontexten. Spielerisch und humorvoll unterwandert Hyper Duo gängige Vorstellungen und bewegt sich dabei zwischen klassischer Avantgarde und Pop-Rock. Im Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel- kommt nun das neue Programm Hyper Grid zur Uraufführung.

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 07 octobre 2020. HyperDuo, séance vinyl 01

 

Die beiden Romands bezeichnen ihr Hyper Duo als ‚experimentelle Band‘. Julien Mégroz stammt aus Lausanne und spezialisierte sich nach dem dortigen Studium in Basel an der FHNW auf zeitgenössische Musik. Gilles Grimaitre kommt aus Genf, studierte an der HKB in Bern und war anschliessend Stipendiat der internationalen Ensemble Moderne Akademie in Frankfurt. Beide bezeichnen sich auch als Performer, Improvisatoren, Komponisten oder Projekterfinder.

Stil- und Genre-Grenzen zu überwinden und den Horizont zu erweitern ist das Zentrale ihres Duos, immer auch in enger Zusammenarbeit mit weiteren Kunst- und Musikschaffenden. Energiegeladen und humorvoll bewegt sich Hyper Duo zwischen traditioneller Komposition aus der klassischen Avantgarde, rockiger Elektro-Energie und absurder Poesie. Inspiration und einen Fundus an Werken beziehen sie dabei gleichermassen aus der E- und der U-Musik.

Neue Stücke für Ihre Besetzung und Klassiker der Moderne, ergänzt mit experimenteller Elektronik, Video oder auch Objekten, bilden den musikalischen Kern.  Die Kompositionen stammen von sinnesverwandten Musikschaffenden oder auch von ihnen selbst.

Bereits mehrere Hyper-Programme belegen den unkonventionellen Zugang zum traditionellen Konzertformat. Sie tragen Titel wie Hyper Cut, Hyper Stuck, Hyper Fuzz oder Hyper Rift.

 


Hyper Rift, Trailer ©Musikfestival Bern 2020

 

Hyper Rift bspw. war eine durch seismographische Daten gesteuerte Licht- und Soundinstallation am Musikfestival Bern 2020. Im Innenraum der Monbijoubrücke machte das Duo in einer Liveperformance zusammen mit dem Videokünstler Pascal Meury tektonische Verschiebungen hör- und erfahrbar. Dabei reizte es mit Perkussion und Synthesizer auch das gerade noch erträgliche Lautstärkenlimit aus.

In Hyper Temper, einem Trioprogramm mit dem Perkussionisten Miguel Angel Garcia Martin, hinterfragten die beiden das Instrument Konzertflügel auf seine Rolle im Musikbetrieb, der Musikgeschichte, aber auch als Objekt im Alltag. Im ‘pièce d’ameublement‘ von Cathy van Eck wurde er zum Zierpflanzen-tragenden Möbel und damit zum Sinnbild für bürgerliches Wohnen im 19.Jahrhundert.


E- und U-Musik zusammenführen

In Hyper Grid nun treten die beiden wieder an ihren Kerninstrumenten – verstärktem Klavier, Drumset und Elektronik – auf und knüpfen dabei an die Vorgängerprojekte Hyper Fuzz und Hyper Cut an.

Hyper Cut ergänzte Drumset, Klavier und Elektronik humorvoll mit Video, Stimme und Objekten in neuen Werken von u.a. Simon Steen-Andersen, Sarah Nemtsov oder Wolfgang Heiniger.

 


Hyper Duo: Hyper Cut, Simon Steen-Andersen, difficulties putting it into practice, Video ©Hyper Duo

 

Das Projekt Hyper Fuzz hingegen verband neue, explizit groovige Stücke und Klassiker der Moderne mit Bezug zu Pop, Rock und Jazz, ergänzt mit elektronischen Interludes vom jungen Schweizer Klangerfinder Cyrill Lim. Da hörte man Werke von Frank Zappa, der selbst in ästhetischen Gesamtprojekten E- und U-Musik zusammenführte, neben Musik von Stockhausen oder dem jungen Lausanner Komponisten Nicolas von Ritter. Das Programm kam sowohl in klassischen Konzertsälen und -festivals als auch in Rock- und Jazzclubs zur Aufführung.

 


Hyper Duo / Hyper Fuzz @Taktlos Festival Zürich 2018, Video ©Hyper Duo

 

 

Im neuen Projekt vertieft Hyper Duo die Zusammenarbeit mit zwei Musikschaffenden.

Der serbische Komponist Marko Nikodijevic wirkt in seiner Uraufführung grid/index [ I ] für das Hyper Duo selbst an der Elektronik mit. Nikodijevic arbeitet in seinen Stücken gern mit der Fusion von traditionellen Instrumenten mit digitalen Klängen und setzt Verfahren aus Techno und Pop ein. Grid / index [ I ] geht auf ein gleichnamiges Werk des Künstler Carsten Nicolai zurück, eine riesige Sammlung an Zeichnungen zweidimensionaler Gitter und Muster. Nikodijevic übersetzt die Referenz in einfache rhythmische und melodische Muster, die an den sogenannten ‘Minimal-Techno’ der 90er Jahre erinnern.

 

Portrait Kevin Juillerat © zVg Kevin Juillerat

 

 

Kevin Juillerat, Komponist aus Lausanne, bezieht sich in seinem Werk L’Être-On auf Nikodijevic. Sein Stück basiert auf einem Text des surrealen Dichters Antonin Artaud aus einer von ihm in den 40er Jahren selbst produzierten Radiosendung. Juillerat untersucht darin die Analogie zwischen Poesie und Klang und schafft ein rhythmisches, Elektronik-versehenes, halbstündiges ‘Mini-Oratorium’.

 


Kevin Juillerat, le vent d’orages lointains, for piano and strings, UA 2018

 

Experimentell sind sie unterwegs, die zwei Romands, und subversiv witzig, aber auch musikalisch-poetisch sind ihre Programme allemal. Davon kann man sich in ihren zahlreichen Videos überzeugen. Ob Hyper Hyper noch gesteigert werden kann, davon überzeugt man sich am besten live im neuen Programm Hyper Grid, am 2.6. im Gare du Nord und ab November an weiteren Orten. Zumal nun nach so langer Zeit wieder live Konzerte möglich sind.
Gabrielle Weber

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 21 novembre 2020. HyperDuo, séance vinyl 02

 

Der Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel lädt in Fokus Romandie über drei Saisons Ensembles aus der Romandie ein. Hyper Grid ist das dritte und letzte Romandie-Programm dieser ersten Saison.

Im Programm kommen die neuen Werke «L’Être-On» für verstärktes Klavier, Schlagzeug, Stimme und Effekt-Pedale von Kevin Juillerat sowie «grid/index [ I ]» für Drumset, Klavier und Electronica von Marko Nikodijevic zur Uraufführung.

Concerts
2.6. 21 Gare du Nord Basel
4.11.21 IGNM Zürich
17.12.21 Salle Farel, Bienne

Indigne de nous , das erste Studioalbum von Hyper Duo wird am 5. Juni 2021 bei Everest Records veröffentlicht.

Marko Nikodijevic, Frank Zappa, Karlheinz Stockhausen, Carsten Nicolai, Antonin Artaud, Sarah Nemtsov, Wolfgang HeinigerMiguel Angel Garcia Martin

 

neo-Profiles:
HYPER DUOKevin Juillerat, Gilles Grimaitre, Julien Mégroz, Cathy van Eck, Simon Steen-Andersen, Cyrill Lim, Nicolas von Ritter, Gare du Nord