Musik ist immer politisch! Luigi Nono 100

Luigi Nono (1924-1990) gilt als zentrale Figur der internationalen Musikavantgarde: Ein Portrait von Florian Hauser zu seinem 100. Geburtstag am 29. Januar.

Florian Hauser
Alle sind sie gekommen. Mehrere Tausend Arbeiter versammeln sich in ihrer Betriebspause und wollen hören, was Nono aus den Geräuschen gemacht hat. Das brüllend laute Dröhnen und Zischen des Hochofens in ihrer Stahlfabrik hatte er aufgenommen, und jetzt stellt er ihnen seine Tonbandcollage vor. Und anschliessend diskutieren die Arbeiter darüber, beginnen sie nachzudenken über ihre Arbeitsbedingungen. ‘La fabbrica illuminata’ heisst das Stück, das Luigi Nono Mitte der 60er Jahre den Stahlarbeitern in Genua widmet. Ein Paradebeispiel von Partizipation, würde man heute sagen. Hochmodern, bis heute. Und darum war es ihm immer gegangen: Luigi Nono machte Musik, um ein politisches Bewusstsein zu schaffen.

Luigi Nono, am 12. November 1976 in der Roten Fabrik in Zürich. Nono führt elektronisch bearbeitete Originalgeräusche aus einer Fabrik vor und diskutiert mit den Zuhörern über seine Werke © Keystone.

 

Luigi Nono stammt aus einem Venezianischen Bildungsbürgerhaushalt. Als er ein Jahr alt ist, wird Benito Mussolini zum faschistischen Diktator Italiens. Das prägt Nonos gesamte Entwicklung, ja sein ganzes Leben. Gegen Unterdrückung, Krieg und soziale Missstände will er kämpfen. Dass er das als Komponist tut, ist nur ein Zufall, sagt er: denn er findet Anschluss an die musikalische Avantgarde nach dem 2. Weltkrieg.

Es ist die Zeit des grossen Aufbruchs. Eine junge Komponistengeneration will auch musikalisch eine neue Welt errichten, die alten Expressionen haben ausgedient, klare Strukturen müssen her, neue Komponier-Techniken, auch neue Hilfsmittel wie Elektronik.
Ein wichtiges Zentrum der neuen Avantgarde, die sich formiert, ist das deutsche Darmstadt.


Luigi Nono, Incontri für 24 Instrumente, UA 1955, Eigenproduktion SRG/SSR: 1955 – Nono ist bereits fest eingebunden in die Darmstädter Ferienkurse – schreibt er eine musikalische Liebeserklärung an seine zukünftige Frau, Nuria, die Tochter Arnold Schönbergs: Incontri für 24 Instrumente, die Begegnung selbstständiger musikalischer Strukturen. „So wie zwei Wesen, verschieden voneinander und selbstständig in sich, sich begegnen und aus ihrer Begegnung zwar keine Einheit werden kann, aber ein Sich-Entsprechen, ein Zusammensein, eine Symbiose”. Nach der Uraufführung in Darmstadt verloben sich Nuria Schönberg und Luigi Nono, kurze Zeit später heiraten sie.

 

Drei Komponisten werden bei den sogenannten ‘Internationalen Ferienkurse für neue Musik’ Darmstadt zu den zentralen Figuren: der Franzose Pierre Boulez, der Deutsche Karlheinz Stockhausen und der Italiener Luigi Nono.

Was zunächst als wunderbare und intensive Künstlerfreundschaft beginnt, ändert sich bald, Differenzen werden deutlich. Nono ist derjenige, der nicht l’art pour l’art machen will, wie die Kollegen. Er will raus aus dem Elfenbeinturm, auf die Strasse, zu den Menschen. Und vertont zum Beispiel Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer….

“Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von Musik” 

Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von der Musik, sagt Luigi Nono. Er versucht immer dringlicher, den Finger auf soziale Missstände zu legen. Mit allen musikalischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, macht er das: wilden Orchesterimpulsen, Klängen an der Grenze zum Verstummen, mit Collagen, Elektronik oder Musik, die sich im ganzen Raum verteilt.

„Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die grösstmögliche entäusserte Innerlichkeit”, mit diesen Worten umschrieb Nono 1983 sein ewiges Ziel, „als Musiker wie als Mensch Zeugnis abzulegen”.


Luigi Nono, No hay caminos, hay que caminar, UA 1987, Eigenproduktion SRG/SSR: Den Satz „Caminantes, no hay caminos, hay que caminar« (Wanderer, es gibt keinen Weg, du musst einfach gehen) hatte Nono auf der Wand eines Klosters in Toledo gelesen. Daraus wurde sein letztes Orchesterwerk, der Titel könnte geradezu als Motto für Nonos gesamte kompositorische Arbeit stehen. No hay caminos, hay que caminar. Dynamik und Tempo sind extrem zurückgenommen, nur für kurze Augenblicke entstehen dramatische Klangrisse. Nono verwendet nur einen Ton, das g mit vierteltönigen Erhöhungen und Erniedrigungen, also sieben Töne im Vierteltonabstand in allen Oktavlagen. Die Unterschiede zwischen Tonhöhen und Klangfarben verschwinden, es ist ein magisches Spiel, das die Beziehungen zwischen den Parametern radikal überdenkt.

 

Sein Leben, sein Musik-Machen ist anstrengend, und letztlich zerbricht Nono vielleicht an seinem eigenen Anspruch. ‘Ich habe eine Selbstzerstörung an mir vorgenommen,’ wird er am Ende sagen, und als er mit Mitte 60 stirbt, hat er einsehen müssen, dass auch Musik keine Revolutionen auslösen kann.

Was von ihm bleibt? Seine kompromisslose Haltung. Sein Motto. Ascolta! Hör doch zu!
Florian Hauser

Luigi Nono (1924 – 1990) conducting his piece ‘Canti di vita e d’amore: sul ponte di Hiroshima’ in rehearsal at the Royal College of Music, London, 7th September 1963. © Erich Auerbach/Hulton Archive/Getty Images.

 

Sendungen SRF Kultur:
Luigi Nono zum 100: Helmut Lachenmann und seine Erinnerungen an Luigi Nono, Musik unserer Zeit, 31.01.2024, Redaktion Florian Hauser.
Er vertonte die Abschiedsbriefe von Widerstandskämpfern, online-Text srf.ch, 29.01.2024: Autor Florian Hauser.
Zum 100. Geburtstag: Luigi Nono: Fragmente – Stille. An Diotima, Diskothek, 29.01.2024, Redaktion Annelis Berger

neo-profil:
Luigi Nono

Ein moderner Kapellmeister – Titus Engel

Der in Berlin lebende Schweizer Dirigent Titus Engel ist ab dieser Saison Principal Conductor der Basel Sinfonietta. Ein Portrait von Jaronas Scheurer

Jaronas Scheurer
«Es gibt diese alte Kapellmeister-Tradition: Der Kapellmeister, der sozusagen im Opernhaus lebt und die ganze Musikgeschichte dirigiert, egal was kommt, und versucht, das auf möglichst gutem Niveau zu machen. Das finde ich schon irgendwie einen tollen Ansatz.» meint der Schweizer Dirigent Titus Engel einmal im Laufe des Interviews. Dementsprechend wehrt er sich auch gegen die Bezeichnung, er sei Spezialist für Neue Musik, obwohl er ab dieser Saison neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta ist. Das einzige Orchester der Schweiz, das sich ausschliesslich auf Musik nach 1950 spezialisiert hat. «Wenn ich Neue Musik dirigiere, z.B. eine Messiaen-Oper wie diesen Sommer in Stuttgart, dann ist eine Phrasierungs-Erfahrung z.B. von Johannes Brahms hilfreich, wenn plötzlich eine Kantilene kommt. Hingegen kann die oft sehr rhythmische Neue Musik wiederum viel helfen, wenn man bei traditioneller Musik die rhythmischen Parameter wirklich auf den Punkt bringen und schleifen möchte.» Damit sind schon einige Eckpunkte von Titus Engels Schaffen abgesteckt: eine präzise Klangsprache, eine dienende Haltung gegenüber dem jeweiligen Werk und eine grosse musikalische Breite.

 

Titus Engel, neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta, ©Kaupo Kikkas

 

Diese musikalische Breite war schon früh vorgezeichnet. Als Jugendlicher spielte er Kontrabass und Bassisten sind damals wie heute sehr gefragt. So war er bald in den unterschiedlichsten musikalischen Kontexten unterwegs: von Bach bis Boulez oder auch in Big Bands. Nachdem Titus Engel in Zürich und Berlin Philosophie und Musikwissenschaft studiert hatte, entschied er sich für eine Laufbahn als Dirigent und studierte in Dresden bei Christian Kluttig Dirigieren. Weitere Einflüsse kamen unter anderem von Peter Eötvös, Sir Colin Davis und Sylvain Cambreling.

Michael Wertmüller: The Blade Dancer, SWR Symphonieorchester unter Titus Engel, UA 2020 an den Donaueschinger Musiktagen

 

Steile Laufbahn

Schon in seinem zweiten Studienjahr konnte Engel die Uraufführung von Benjamin Schweitzers Oper Jakob von Gunten dirigieren. Kurz darauf wurde er musikalischer Leiter des Dresdner Ensemble Courage. Es folgten Auftritte in ganz Europa an den grossen Opernhäusern und Festivals z.B. 2020 an den Donaueschinger Musiktagen. Während die zeitgenössische Musik weiterhin einen grossen Stellenwert in seinem Repertoire einnahm, trat er auch immer wieder mit klassischer Musik oder gar mit Alter Musik hervor, so z.B. mit einer vielgelobten Inszenierung von Claudio Monteverdis Oper L’Orfeo mit dem Ensemble Resonanz 2006. Weitere Highlights von Titus Engels Laufbahn sind sicher das Dirigat von Karlheinz Stockhausens Oper Donnerstag aus dem Licht-Zyklus am Theater Basel 2016 und die Wahl als «Dirigent des Jahres» 2020 durch das Fachmagazin Opernwelt. Somit ist ein weiterer Eckpunkt Engels abgesteckt: die Oper. Obwohl – es scheint zu kurz gegriffen, Titus Engel einfach als Operndirigenten abzutun: «Für meine Arbeit ist das Zusammenspiel zwischen den Künsten wichtig.» meint er dazu. «Natürlich ist die Musik primär ein akustisches Phänomen, aber weil die Musik inhaltlich oft offen ist, glaube ich, dass die Zusammenarbeit mit anderen Kunstsparten der Musik und gerade der zeitgenössischen Musik auch guttut.» Titus Engel macht sich nicht nur bei Operninszenierungen Gedanken über den visuellen und szenischen Aspekt des Auftritts.

 

Simon Steen-Andersen: TRIO, SWR Symphonieorchester (Dir. Emilio Pomàrico), SWR Vokalensemble (Leitung Michael Alber) und SWR Big Band Leitung Thorsten Wollmann), UA 2019 an den Donaueschinger Musiktage

 

Darin spiegelt sich auch ein Vermittlungsgedanke, der Titus Engel wichtig ist, gerade wenn es um zeitgenössische Musik geht: «Mir geht es nicht um Ablenkung von der Musik, die sie in ihrem Kern schwächen würde, sondern ich glaube, gerade kreative Formate, die über das normale Konzert hinausgehen, können auch für ein breiteres Publikum interessant sein und letztlich auch die Konzentration auf die Musik schärfen.» So wird auch in der kommenden Saison der Basel Sinfonietta das konventionelle Konzertformat immer wieder gesprengt.  Beim Eröffnungskonzert am 1. Oktober 2023 wird das Stück TRIO von Simon Steen-Andersen gespielt, in dem sich ein humorvoller Dialog zwischen Videoaufnahmen von Orchesterproben und dem real spielenden Orchester entspinnt. Am 26. April 2024 spielen die Basel Sinfonietta und die Band des Zürcher Jazzpianisten Nik Bärtsch eine Neukomposition von Bärtsch, bei der das Lichtdesign eine wichtige Rolle spielen wird. Und am Schlusskonzert der Saison im Juni 2024, bei der ausschliesslich Kompositionen von Frauen gespielt werden, tritt die junge spanische Komponistin Gemma Ragués Pujol als Performerin auf und das Publikum kann beim Werk Earth Plays V von Cathy Milliken auf fossilen Steinen mitspielen. Video, Licht, Performance-Kunst oder Publikumspartizipation – für Titus Engel dürfen die Grenzen zwischen den Künsten, zwischen Musiker:innen und Publikum, zwischen den verschiedenen Musikrichtungen oder zwischen reinem Konzert und theatraler Inszenierung durchaus hinterfragt werden.

 

Die Basel Sinfonietta, ©Marc Doradzillo

 

Basel Sinfonietta – ein Orchester für die ganze Stadt

Diese Lust am Experiment und am künstlerischen Abenteuer teilt Titus Engel mit der Basel Sinfonietta. Sie ist für ihn das spannendeste Orchester der Schweiz: «Weil sie a) demokratisch organisiert ist. Das heisst, es kommt unglaublich viel Energie und Engagement vom Orchester selbst. Und b), weil sie in ihrer Offenheit für spannende Programme und ihrer Ausrichtung auf die zeitgenössische Musik total zu mir passt.» Er hat nun auch schon klare Ideen für seine Zeit bei der Basel Sinfonietta: So würde er gerne an einem eigenen «Sinfonietta-Sound» arbeiten. «Natürlich muss man in dem breiten Repertoire, was die Basel Sinfonietta spielt, sehr flexibel sein. Aber da was zu finden, was noch spezifischer ist, das interessiert mich. Also z.B. extreme Dynamik, auch mal den Mut, sehr süffig zu spielen. Dann wieder knackig und hart.» Und andererseits interessiert ihn die körperliche, performative Präsenz des Orchesters, was sich mit seinem Interesse an anderen Kunstformen verbindet. «Ich würde sehr gerne mit dem Orchester spannende Formate entwickeln: z.B. draussen am Rhein oder im Wald spielen, auch um noch ein breiteres Publikum zu erreichen. Dafür braucht es natürlich auch noch mehr Vermittlungsarbeit. Das heisst, dass wir auch Projekte machen mit gesellschaftlichen Gruppen, die nicht unbedingt ins Stadtcasino ans Orchesterkonzert gehen, dass wir zu diesen hingehen und gemeinsam Projekte entwickeln. Ich würde die Basel Sinfonietta gerne breiter in der Stadt abstützen, damit wir ein Orchester für die ganze Stadt werden.»

Titus Engel hat also einiges vor. Nur, die Basel Sinfonietta ist ein sich selbst verwaltendes Orchester. Die Musiker:innen können also bei der Programmierung mitentscheiden. Zweifellos wird er jedoch mit seinem Wunsch, die Basel Sinfonietta mittels unkonventionellen, spannenden Programmen und Formaten zu einem Orchester für die ganze Stadt Basel zu machen, bei den Mitgliedern offene Türen einrennen.
Jaronas Scheurer

 

Das Eröffnungskonzert der Basel Sinfonietta unter Titus Engel findet am 1. Oktober 2023 um 19:00 im Sportzentrum Pfaffenholz in Saint-Louis (F) statt.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musikmagazin, 30.9.2023: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Jaronas Scheurer.

Musik unserer Zeit, 20.2.2019: Der Derwisch: Titus Engel, Redaktion Florian Hauser.

Musikmagazin, 1.2.2014: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Mariel Kreis, Redaktion: Florian Hauser (ab Min. 28:47).

Neo-Profile:
Titus Engel, Basel Sinfonietta, Gemma Ragués, Michael Wertmüller, Simon Steen-Andersen, Nik Bärtsch, Donaueschinger Musiktage

Kunstraum Walcheturm – der unmögliche Musikraum mitten in Zürich

Sommerserie zum Schweizer Musikpreis No. 3 :  Spezialpreis an den Kunstraum Walcheturm – der Konzertort nehme «eine herausragende Stellung für die Weiterentwicklung der experimentellen Musik und Kunst in der Schweiz ein», so die Begründung der Jury.
Jaronas Scheurer sprach mit dem künstlerischen Leiter Patrick Huber.

 

Der Kunstraum Walcheturm im Zeughaushof Zürich ©Lorenzo Pusterla

 

Jaronas Scheurer
Patrick Huber treffe ich, als er gerade den Aufbau einer Party überwacht, die am selben Abend stattfindet. Die Party hat sich eingemietet und es gibt viel zu erklären und zu verhandeln. Zudem steht Huber kurz vor seinen Ferien: Zwischen Diskussionen mit den Tontechniker:innen, Einweisungen für das Barpersonal und letzten Ferienvorbereitungen findet er trotzdem Zeit für das Interview. Das Dazwischen-Sein, zwischen verschiedenen Projekten, zwischen Partys, experimenteller Musik, zeitgenössischer Kunst, Experimentalfilm. Dieses Dazwischen-Sein scheint Modus Operandi für Patrick Huber und den Kunstraum Walcheturm: «Diesen Ort sollte es eigentlich gar nicht geben.» meint er im Laufe des Interviews.

Dieser Ort – der Kunstraum Walcheturm auf dem alten Zeughaushof circa 10 Minuten Gehdistanz vom Zürcher Hauptbahnhof – ist der wichtigste Veranstaltungsort für zeitgenössische und experimentelle Musik in Zürich und hat dieses Jahr einen der Spezialpreise Musik des Bundesamts für Kultur (BAK) erhalten.

Galerie Walcheturm

Wie kam es dazu, dass der Walcheturm heute vor allem für spannende Konzerte und weniger für aufregende Kunst bekannt ist? Immerhin wurde der Walcheturm in den 1950er als Verein zur Förderung von junger Schweizer Kunst und Künstlern gegründet. Und in den 1980er-Jahren formten die heute international renommierten Kunsthändler:innen Eva Presenhuber und Iwan Wirth die Galerie Walcheturm, wie der Kunstraum, benannt nach dem ersten Standort an der Walchestrasse, damals hiess, zu einem der wichtigsten Akteure der Zürcher Kunstszene. «Irgendwann wurde klar», meint Patrick Huber, «dass ein Verein nicht das richtige Vehikel ist für ein derart kommerzielles Unterfangen wie eine international agierende Galerie.» Es kam Mitte der 1990er zu einer Abspaltung, aus der dann u.a. die Galerien Eva Presenhuber sowie Hauser&Wirth entsprangen. Der Verein Walcheturm durchlebte danach eine schwierige Phase, bevor 1999 die Leitung des Vereins Patrick Huber übergeben wurde. Huber bewarb sich mit der Vision, die Galerie zu einem Kunstraum zu machen: «Ein Bruch – keine Galerie, kein Kunstmarkt – ein Kunstraum.» wie Huber seine damalige Idee skizzierte.

 

Marc Zeier: ‘Daphnia Heart Beat’, Flügel, Bassboxe and Daphnia magna Modell, Kunstraum Walcheturm 2017 ©Lorenzo Pusterla

 


Luigi Archetti: LAVA – Part 01, Label Karluk 2021

 

Die Galerie wird zum Kunstraum

Patrick Huber selbst hatte damals schon vielfältige Erfahrung im Organisieren von Ausstellungen, Partys und Festivals. Seit den 1980er Jahren organisierte er Partys: Techno, Hiphop, Drum’n’Bass, kuratierte Ausstellungen in Offspaces und seit 1998 das Experimentalfilmfestival VideoEx.

«Als ich die Leitung des Vereins übernommen habe, gab es sozusagen keine Mitglieder und in der Galerie nicht einmal einen Hammer, um Nägel für die Kunstwerke einzuschlagen.» Das brachte jedoch auch Vorteile mit sich, denn so konnte er von Grund auf Neues schaffen. Dies gelang ihm einerseits dank einem grossen Netzwerk an Freund:innen und andererseits dank seiner Erfahrung als Partyorganisator. «Die ersten paar Jahre haben Partys, oft Techno-Partys, den Kunstraum finanziert.» Die Einnahmen der grossen Partys am Abend wurden in den Kunstraum und in die Ausstellungen am Tag gesteckt. «Ich wusste damals gar nicht, dass man Gesuche für finanzielle Unterstützung stellen kann.» meint Huber lachend. Doch schon bald musste der Kunstraum Walcheturm umziehen. Glücklicherweise bekamen sie eine Zusage für den jetzigen Ort im alten Zeughaushof. «Den Schlüssel haben wir im Januar 2002 bekommen. Den Schlüssel für einen staubigen Raum. Draussen waren es 5 Grad und drinnen auch. Kies am Boden, sonst nichts. Es war nicht viel Geld da, aber ganz viel Hilfe, eine ganze Gruppe von Menschen: Jemand konnte einen Bagger fahren und hat ein paar Kubik Kies rausgebaggert. Jemand konnte stromern, jemand Heizungen montieren usw.» beschreibt Huber den Umzug. «Und im Mai war der Boden drin und das Experimentalfilmfestival VideoEx fand das erste Mal hier statt. Im August gab es dann noch eine offizielle Eröffnung mit einem Projekt mit 12 Schlagzeugern. Eine Performance, die immer noch unter Kunst lief, aber da spielten halt zwölf Schlagzeuger.»

 

Katharina Rosenberger: Ausstellung “quartet”, Kunstraum Walcheturm 2018 ©Lorenzo Pusterla

 


Katharina Rosenberger: REIN, Basel Sinfonietta unter Baldur Brönnimann, UA 2019 in Basel

 

Von der zeitgenössischen Kunst zur experimentellen Musik

Der Wandel vom Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst hin zum Veranstaltungsort für experimentelle Musik schien sich also schon bei der Eröffnung abzuzeichnen. «Mich hat die zeitgenössische, experimentelle Musik interessiert. Ich fand das spannend. Aber es schien auch eine Notwendigkeit für einen solchen Raum in Zürich zu gebe. Denn Raum für zeitgenössische Kunst gab es in Zürich schon immer.» erläutert Patrick Huber diesen Wandel.

 

Julian Sartorius: Locked Grooves Record Release, Kunstraum Walcheturm 2021 ©Lorenzo Pusterla

 


Julian Sartorius: Locked Groove 093, Label OUS 2021

 

Heute finden vor allem Konzerte im Walcheturm statt. Neben einigen wichtigen Festivals wie das VideoEx, das Sonic Matter, das Taktlos Zürich oder das FemaleClassics, spielen im Walcheturm Musiker:innen und Ensembles irgendwo zwischen Noise, Freier Improvisation, Neuer Musik, Klangkunst und Free Jazz. Und die Konzertanfragen trudeln zahlreich bei Patrick Huber ein. Doch das Problem bei der Programmierung ist die Finanzierung. Der Kunstraum Walcheturm wird vom Kanton Zürich unterstützt, was knapp für die Miete des Raums reicht. Darüber hinaus, haben sie sozusagen kein Budget. «Das Erstaunliche am Walcheturm ist die musikalische Diversität trotz den engen finanziellen Leitplanken.» so Huber. Damit das funktioniert, ist eine ordentliche Portion Pragmatismus und gesunder Menschenverstand gefragt. Konkret funktioniert es so, dass die Gruppen, die im Walcheturm spielen, den Walcheturm je nach Höhe der eigenen Finanzierung bezahlen. «Wenn die andere Seite eine Yacht hat, dann soll bitte auf unserer Seite auch ein bisschen Geld ankommen. Aber wenn die in einem kleinen Ruderboot sitzen, dann können wir auch rumrudern. Das haben wir ja schon immer gemacht.» meint Huber lachend. «Auf dem Papier geht unsere Rechnung eigentlich nicht auf. Aber irgendwie geht es dann doch.»

Und so machen sie weiter – dieser unmögliche Raum mitten in Zürich: Zwei bis vier Konzerte pro Woche, mit der Hilfe von Freund:innen, mit einer gesunden Portion Pragmatismus und vor allem mit viel Liebe und Engagement für die Musik.
Jaronas Scheurer

 

Die Saison 2023/2024 des Kunstraum Walcheturm begann am 2. September mit einem Jubiläumskonzert des Collegium Novum Zürich.
Weitere Anlässe im September:
7. September – CD Release «The Five»,
9. September – Guy Mintus Songbook,
14. September – IGNM Konzert: Tomoko Sauvage und Christoph Rüttimann mit «Kakteenmusik / Wasserschalen»,
16. September – Zapparoli, Hofmann und Lorenz,
21. September – Insub Meta Orchestra,
22. September – Under the Olive Tree,
29. September – News3Art plays Stockhausens «Kontakte».

 

Sendungen SRF Kultur:
SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess.
Musikmagazin, 22.7.23Carlo Balmelli: Ein Leben für die Blasmusik, Redaktion Annelis Berger, Musiktalk mit Carlo Balmelli (ab Min 9:40).
Musikmagazin, 17.6.23, Inspirationen mit offenem Ende: Die Vokalkünstlerin Saadet Türköz, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Saadet Türköz (ab Min 8:38).
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Musiktalk mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

 

Neo-profiles:
Kunstraum Walcheturm, Luigi Archetti, Katharina Rosenberger, Julian Sartorius, Collegium Novum Zürich, Martin Lorenz, Sebastian Hofmann, Insub Meta Orchestra, Sonic Matter.

Durch Musik eins werden mit der Natur

Toshio Hosokawa ist der bekannteste japanische Komponist und diese Saison Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Hosokawa verbindet in seiner Tonsprache die westliche neue Musik mit traditioneller japanischer Musik. Moritz Weber unterhielt sich mit dem Komponisten.

 

Moritz Weber
Vor drei Jahren komponierte Toshio Hosokawa im Auftrag des Pianisten Rudolf Buchbinder eine Variation über den berühmten Walzer von Diabelli in C-Dur, über welchen einst Beethoven seine monumentalen 33 Veränderungen komponiert hatte. «Ich liebe Klavierklänge», sagt Hosokawa im Gespräch, «aber in diesem Walzer hat es sehr viele Töne». Seine Variation klingt denn auch wie in Zeitlupe, er lässt einzelnen Tönen viel Zeit, um sich zu entfalten. Wegen des langsamen Tempos sei das Stück typisch für ihn, sagt der japanische Komponist, und sogar die tonalen Elemente passten zu seiner Musiksprache, denn in den letzten 2 bis 3 Jahren habe er sich wieder mehr für tonale Musik interessiert, «und ich möchte in Zukunft auch tonale Musik komponieren.»

 

Über das Studium in Deutschland zur traditionellen japanischen Musik

Zu seiner eigenen Klangsprache, die fernöstliche und westliche Ästhetik verbindet, fand er über einen Umweg. «Meine Familie war sehr japanisch», sagt er. Mit einem Ikebana-Meister als Grossvater, der auch Nō-Gesang und die Teezermonie liebte, und einer Mutter, die immer Koto spielte, war ihm das dann doch etwas «zu viel». Für ihn waren die traditionellen japanischen Künste damals altmodisch, «langweilig» gar.

Da er sich als Klavierstudent insbesondere für das klassisch-romantische Repertoire begeisterte, wie für die späten Klaviersonaten von Beethoven, ging Hosokawa nach Deutschland, um bei Isang Yun (in Berlin) und Klaus Huber (in Freiburg i. B.) Komposition zu studieren.

 


Klaus Huber, Kompositionsprofessor von Toshio Hosokawa mit seinem fernöstlich inspirierten Stück Plainte – Lieber spaltet mein Herz, Contrechamps 2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Am Meta-Musikfestival im Berlin der 1970er-Jahre wurde neue Musik aus Europa mit traditioneller Musik aus aller Welt kombiniert. György Ligeti mit indonesischer Gamelanmusik, Karlheinz Stockhausens Mantra mit Tempelmusik aus Japan. Dort hörte und erlebte Hosokawa von Europa aus die Musik seiner Heimat ganz anders und entdeckte ihre Schönheit. Gemischt mit Heimweh und dank der Ermunterung seiner Lehrer begann Hosokawa in seinem Stil die fernöstliche Klangsprache und Philosophie mit der europäischen zu verschmelzen.

 

Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik

Ein wichtiger Unterschied zwischen europäischer und japanischer Musik sei, dass letztere keine absolute Musik sei, sondern immer als Atmosphäre oder Hintergrund für bestimmte Ereignisse wie Zeremonien oder Tänze. Sie sei an einen Ort gebunden. Die europäische Musik hingegen sei eine Architektur, die an den unterschiedlichsten Orten gespielt werden könne, so wie man eine Skulptur oder ein Gemälde irgendwo hin transportieren kann, so Hosokawa.

 

Portrait Toshio Hosokawa © KazIshikawa zVg. Tonhalle-Orchester Zürich

 

«In der japanischen Musiktradition ist der Einzelton sehr wichtig. Ich sage immer, unsere Musik sei eine Kaligraphie in Zeit und Raum, und eine musikalische Linie ist wie ein Pinselstrich, mit Anfang und Ende». Die Töne seien vertikale Ereignisse, wie ein kalligraphischer Pinselstrich auf einem weissen Papier. Ganz im Gegensatz zu den zu Motiven verbundenen Tongruppen der westlichen Musik, z.B. das berühmte «ta-ta-ta-taaaaaa» aus Beethovens 5. Sinfonie, singt Hosokawa vor.

 

Nō-Theater und Gagaku-Musik

«In den Stücken des traditionellen japanischen Nō-Theaters aus dem 12. oder 13. Jahrhundert geht es um Seelenheilung, und dieser Gedanke ist auch sehr wichtig für mich», sagt Hosokawa: «Die Verstorbenen kommen zurück, erzählen vom Jenseits, heilen ihre Seelen durch Tanz und Gesang und kehren dann zurück ins Reich der Toten». Musikalisch ist der «Kalligraphie-Gesang» prägend, wie auch das Schlagzeug: Heftige Schläge, welche die Zeit quasi vertikal durchschneiden. Es werden nicht grosse horizontale Räume eröffnet, sondern die Impulse sind für sich selbst Ereignisse. Darauf weise er auch immer hin, wenn er mit Musiker:innen an seinen Stücken arbeite, wie diese Saison als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. «Diese heftigen vertikalen Einschnitte, sie sind stärker als normale Einsätze, auch die plötzlichen Änderungen in der Dynamik. Ich sage immer: Denken sie beim Spielen, sie malen eine Kalligraphie. Denken sie nicht zu formal, sondern dass jeder Moment ein wichtigster Moment ist, jeder Moment eine Ewigkeit.»

 

 


Toshio Hosokawa, Ferne Landschaft III – Seascapes of Fukuyama (1996), Basel Sinfonietta, Dirigent Baldur Brönnimann 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hosokawa gefallen auch die mikrotonalen Färbungen, welche bei der Gestaltung von Tönen im Nō-Theater wichtig sind. «Um die Zentraltöne herum gibt es immer kleine Veränderungen, und diese möchte ich hören, denn sie machen die Töne lebendig». Auch hier singt er im Interview einen langgezogenen Ton vor und zeichnet dazu mit der Hand in der Luft den Tonverlauf nach.

 

Der Mutterakkord der Shô

Die etwa 500 Jahre ältere und ursprünglich aus China und Korea stammende japanischen Gagaku-Musik ist eine zeremonielle Hofmusik. Der Klang der japanischen Mundorgel Shô ist hier omnipräsent. Er symbolisiert im Hintergrund die Ewigkeit, während darüber Melodieinstrumente wie Hichiriki oder die Drachenflöte Ryūteki klangliche Kalligraphien «zeichnen».

Mit der Shô sei es auch möglich, den Atem und kreisende Zeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Hosokawa nennt das den «Mutterakkord», und er hat diverse Stücke für oder mit Shô geschrieben. Auch diese Kreisläufe seien für ihn sehr wichtig, wie auch der Gedanke, dass Gagaku eher eine kosmische Musik ist als eine menschlich-emotionale.

 

Naturkatastrophen als Opernstoff

Toshio Hosokawa ist mit seiner einzigartigen Tonsprache und seinen Kompositionen in allen Gattungen weltberühmt geworden. Viele seiner Werke drehen sich um Naturkatastrophen wie um das verheerende Tohoku-Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima. «Mein Ziel ist es, durch Musik und durchs Komponieren eins zu werden mit der Natur. Eigentlich ist die japanische Natur sehr schön mit ihren Jahreszeiten, aber sie ist nicht immer freundlich zu den Menschen. Diese Tatsache habe ich erfahren als der Tsunami kam, und ich begann, ganz anders über Natur nachzudenken. Mit meiner vierten Oper Stilles Meer wollte ich ein Klagelied für die Opfer dieses einschneidenden Ereignisses oder ein Requiem für die Toten schreiben.» Nicht nur die Urgewalt hat Hosokawa darin auskomponiert, sondern die schrecklichen Bilder des Verlusts, wie Kinderschuhe oder Spielzeug, welche in den Überschwemmungsgebieten treiben.

 


Toshio Hosokawa, die Oper Stilles Meer ist für Toshio Hosokawa ein Klagelied an die Opfer des Tsunami von 2011, UA Staatsoper Hamburg 2016

 

 

Momentan komponiert Hosokawa seine sechste Oper, auch sie wird sich wieder um Naturkatastrophen drehen. Eine junges Paar, ein Japaner und ein Flüchtling aus der Ukraine, besucht darin verwüstete Orte, verschiedene «Höllen» im Sinne von Dantes Inferno, wo sie die Auswirkungen der Naturkatastrophen sehen, so Hosokawa. Die Oper soll in der Spielzeit 2025/26 uraufgeführt werden.

 

Innere und äussere Ruhe

Um seine innere Ruhe zu finden, geht Hosokawa gerne in den Wald oder ans Meer in der Nähe seines Wohnortes in Nagano. Er meditiert auch täglich, still sitzend und nichts tuend für ein paar Minuten. Eine Kraftquelle für seine kontemplative Zustandsmusik, welche durchsetzt ist von eruptiven Ausbrüchen.

Seine Musik soll auch für das Publikum ein Ort der Kontemplation sein, ein Ort des Gebets. «In Japan gibt es sehr viele geschnitzte Holzstatuen von anonymen Künstler:innen, bei welchen die Menschen beten. Ich möchte, dass meine Musik eine ähnliche Bedeutung hat. Sie kann die Menschen vielleicht nicht retten, aber irgendwie schützen.»

Die Spiritualität spielt auch in seinen jüngsten Werken eine Rolle: Ceremony für Flöte und Orchester (UA 2022) und Prayer für Violine und Orchester (UA 2023).

 

Das Soloinstrument sei auch in diesen beiden Stücken wie ein Schamane, ein Vermittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits, so Hosokawa, er empfange und höre die Urkraft Ki (気). «Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Komponieren, nicht als ein Ausdruck eines Menschen oder seines Egos, sondern als Empfangen von dem, was schon da ist; die Urkraft der Klänge, den bald lieblichen, bald dramatischen Fluss der Töne. «Das Orchester repräsentiert dabei die Natur. Diese ist also in und um das Soloinstrument bzw. den Schamanen. Er kommuniziert mit ihr, trägt Konflikte aus, und soll zum Schluss zu einer Harmonie mit ihr findet».

Hosokawa sieht sich als ein Vertoner dieser Urkraft, und sagt: «auch ich möchte ein Schamane werden» – wenn er es nicht schon ist.

Wenn er mit Orchestern oder Musiker:innen seine Werke einstudiert, wie jetzt während seiner Zeit als Creative Chair des Tonhalle Orchesters Zürich, sei es vor allem das Zeitgefühl, woran man manchmal etwas mehr arbeiten müsse.
Moritz Weber

Tonhalle-Orchester Zürich: Toshio Hosokawa, Creative Chair, Saison 2022/23
Konzerte: Sonntag, 26.3. Kammermusik
Mittwoch, 29.3.23: Meditation to the victims of Tsunami für Orchester.

 

Rudolf Buchbinder, Isang Yun, Klaus Huber, Shô, Hichiriki, Ryūteki, Gamelan, Karlheinz Stockhausen, Gagaku, György Ligeti, Koto, Metamusikfestival Berlin

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 22.3.23, 20h, 25.3.23, 21h: Musikschamane und Vertoner der Urkraft, Autor Moritz Weber

Neo-Profile:
Toshio Hosokawa, Tonhalle-Orchester Zürich, Klaus Huber

 

Hyper Hyper!

Gabrielle Weber
Hyper Hyper!? Hyper Duo beherrscht die Kunst des Steigerns bis zum Exzess. Das Duo mit dem Pianisten Gilles Grimaitre und dem Schlagzeuger Julien Mégroz setzt konsequent auf Energie, Rhythmus und Satire. Grenzen scheint es für sie keine zu geben, weder zwischen Musikstilen noch Aufführungskontexten. Spielerisch und humorvoll unterwandert Hyper Duo gängige Vorstellungen und bewegt sich dabei zwischen klassischer Avantgarde und Pop-Rock. Im Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel- kommt nun das neue Programm Hyper Grid zur Uraufführung.

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 07 octobre 2020. HyperDuo, séance vinyl 01

 

Die beiden Romands bezeichnen ihr Hyper Duo als ‚experimentelle Band‘. Julien Mégroz stammt aus Lausanne und spezialisierte sich nach dem dortigen Studium in Basel an der FHNW auf zeitgenössische Musik. Gilles Grimaitre kommt aus Genf, studierte an der HKB in Bern und war anschliessend Stipendiat der internationalen Ensemble Moderne Akademie in Frankfurt. Beide bezeichnen sich auch als Performer, Improvisatoren, Komponisten oder Projekterfinder.

Stil- und Genre-Grenzen zu überwinden und den Horizont zu erweitern ist das Zentrale ihres Duos, immer auch in enger Zusammenarbeit mit weiteren Kunst- und Musikschaffenden. Energiegeladen und humorvoll bewegt sich Hyper Duo zwischen traditioneller Komposition aus der klassischen Avantgarde, rockiger Elektro-Energie und absurder Poesie. Inspiration und einen Fundus an Werken beziehen sie dabei gleichermassen aus der E- und der U-Musik.

Neue Stücke für Ihre Besetzung und Klassiker der Moderne, ergänzt mit experimenteller Elektronik, Video oder auch Objekten, bilden den musikalischen Kern.  Die Kompositionen stammen von sinnesverwandten Musikschaffenden oder auch von ihnen selbst.

Bereits mehrere Hyper-Programme belegen den unkonventionellen Zugang zum traditionellen Konzertformat. Sie tragen Titel wie Hyper Cut, Hyper Stuck, Hyper Fuzz oder Hyper Rift.

 


Hyper Rift, Trailer ©Musikfestival Bern 2020

 

Hyper Rift bspw. war eine durch seismographische Daten gesteuerte Licht- und Soundinstallation am Musikfestival Bern 2020. Im Innenraum der Monbijoubrücke machte das Duo in einer Liveperformance zusammen mit dem Videokünstler Pascal Meury tektonische Verschiebungen hör- und erfahrbar. Dabei reizte es mit Perkussion und Synthesizer auch das gerade noch erträgliche Lautstärkenlimit aus.

In Hyper Temper, einem Trioprogramm mit dem Perkussionisten Miguel Angel Garcia Martin, hinterfragten die beiden das Instrument Konzertflügel auf seine Rolle im Musikbetrieb, der Musikgeschichte, aber auch als Objekt im Alltag. Im ‘pièce d’ameublement‘ von Cathy van Eck wurde er zum Zierpflanzen-tragenden Möbel und damit zum Sinnbild für bürgerliches Wohnen im 19.Jahrhundert.


E- und U-Musik zusammenführen

In Hyper Grid nun treten die beiden wieder an ihren Kerninstrumenten – verstärktem Klavier, Drumset und Elektronik – auf und knüpfen dabei an die Vorgängerprojekte Hyper Fuzz und Hyper Cut an.

Hyper Cut ergänzte Drumset, Klavier und Elektronik humorvoll mit Video, Stimme und Objekten in neuen Werken von u.a. Simon Steen-Andersen, Sarah Nemtsov oder Wolfgang Heiniger.

 


Hyper Duo: Hyper Cut, Simon Steen-Andersen, difficulties putting it into practice, Video ©Hyper Duo

 

Das Projekt Hyper Fuzz hingegen verband neue, explizit groovige Stücke und Klassiker der Moderne mit Bezug zu Pop, Rock und Jazz, ergänzt mit elektronischen Interludes vom jungen Schweizer Klangerfinder Cyrill Lim. Da hörte man Werke von Frank Zappa, der selbst in ästhetischen Gesamtprojekten E- und U-Musik zusammenführte, neben Musik von Stockhausen oder dem jungen Lausanner Komponisten Nicolas von Ritter. Das Programm kam sowohl in klassischen Konzertsälen und -festivals als auch in Rock- und Jazzclubs zur Aufführung.

 


Hyper Duo / Hyper Fuzz @Taktlos Festival Zürich 2018, Video ©Hyper Duo

 

 

Im neuen Projekt vertieft Hyper Duo die Zusammenarbeit mit zwei Musikschaffenden.

Der serbische Komponist Marko Nikodijevic wirkt in seiner Uraufführung grid/index [ I ] für das Hyper Duo selbst an der Elektronik mit. Nikodijevic arbeitet in seinen Stücken gern mit der Fusion von traditionellen Instrumenten mit digitalen Klängen und setzt Verfahren aus Techno und Pop ein. Grid / index [ I ] geht auf ein gleichnamiges Werk des Künstler Carsten Nicolai zurück, eine riesige Sammlung an Zeichnungen zweidimensionaler Gitter und Muster. Nikodijevic übersetzt die Referenz in einfache rhythmische und melodische Muster, die an den sogenannten ‘Minimal-Techno’ der 90er Jahre erinnern.

 

Portrait Kevin Juillerat © zVg Kevin Juillerat

 

 

Kevin Juillerat, Komponist aus Lausanne, bezieht sich in seinem Werk L’Être-On auf Nikodijevic. Sein Stück basiert auf einem Text des surrealen Dichters Antonin Artaud aus einer von ihm in den 40er Jahren selbst produzierten Radiosendung. Juillerat untersucht darin die Analogie zwischen Poesie und Klang und schafft ein rhythmisches, Elektronik-versehenes, halbstündiges ‘Mini-Oratorium’.

 


Kevin Juillerat, le vent d’orages lointains, for piano and strings, UA 2018

 

Experimentell sind sie unterwegs, die zwei Romands, und subversiv witzig, aber auch musikalisch-poetisch sind ihre Programme allemal. Davon kann man sich in ihren zahlreichen Videos überzeugen. Ob Hyper Hyper noch gesteigert werden kann, davon überzeugt man sich am besten live im neuen Programm Hyper Grid, am 2.6. im Gare du Nord und ab November an weiteren Orten. Zumal nun nach so langer Zeit wieder live Konzerte möglich sind.
Gabrielle Weber

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 21 novembre 2020. HyperDuo, séance vinyl 02

 

Der Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel lädt in Fokus Romandie über drei Saisons Ensembles aus der Romandie ein. Hyper Grid ist das dritte und letzte Romandie-Programm dieser ersten Saison.

Im Programm kommen die neuen Werke «L’Être-On» für verstärktes Klavier, Schlagzeug, Stimme und Effekt-Pedale von Kevin Juillerat sowie «grid/index [ I ]» für Drumset, Klavier und Electronica von Marko Nikodijevic zur Uraufführung.

Concerts
2.6. 21 Gare du Nord Basel
4.11.21 IGNM Zürich
17.12.21 Salle Farel, Bienne

Indigne de nous , das erste Studioalbum von Hyper Duo wird am 5. Juni 2021 bei Everest Records veröffentlicht.

Marko Nikodijevic, Frank Zappa, Karlheinz Stockhausen, Carsten Nicolai, Antonin Artaud, Sarah Nemtsov, Wolfgang HeinigerMiguel Angel Garcia Martin

 

neo-Profiles:
HYPER DUOKevin Juillerat, Gilles Grimaitre, Julien Mégroz, Cathy van Eck, Simon Steen-Andersen, Cyrill Lim, Nicolas von Ritter, Gare du Nord