Welle um Welle

Friedemann Dupelius
„Ein Orchester ist kein Kammerensemble. Es hat so eine gewisse Trägheit, die man erstmal überwinden muss, um all seine Instrumente, all seine Klänge zu aktivieren“, sagt Kevin Juillerat. Zwar ist der franko-schweizer Komponist kein Physiker, doch mit den Eigenschaften und Behandlungsmöglichkeiten von Schallwellen kennt er sich ganz gut aus. Davon zeugen die grauen Akustik-Dämmer an den Wänden seiner aktuellen Residenz im Pariser Elektronik-Paradies IRCAM, von wo aus er über sein Stück Waves spricht. Es ist seine erste Komposition für die große Orchester-Besetzung und wird am 16.1.2022 beim 3. Abo-Konzert der Jubiläums-Saison der Basel Sinfonietta uraufgeführt.

Mit Trägheit hat deren Geschichte jedoch wenig zu tun. 1980 gründeten enthusiastische Musiker:innen ein Orchester, das mit seinem ausschließlichen Fokus auf zeitgenössische Musik bis heute einzigartig geblieben ist. Ebenfalls bis heute ist die Basel Sinfonietta selbstverwaltet und basisdemokratisch organisiert. Den Vorstand bilden aus dem Ensemble heraus gewählte Orchestermitglieder, und auch die Programmkommission setzt sich aus solchen zusammen. Mit dazu gehört Daniela Martin, seit September 2020 Geschäftsführerin der Basel Sinfonietta, die konstatiert: „Von seinem freien Spirit ausgehend, ist das Orchester in der professionellen Musikszene inzwischen fest verankert.“

 

Basel Sinfonietta ©Archiv Basel Sinfonietta: Die Basel Sinfonietta präsentiert Musik gern in thematischen Konzerten. Legendär war das Programm „Sport und Musik“ unter der Leitung von Mark Fitz-Gerald im September 1989.

 

Zweifelsohne war das 40. Jahr zugleich das Schwierigste im Bestehen der Basel Sinfonietta. Anstatt einer großen Jubiläumsfeier herrschten Unsicherheit, Distanz zum Publikum und zwischen den Musiker:innen. Plötzlich mussten Abstände zwischen den Pulten eingehalten werden, was auch akustische Folgen hatte – das viel zitierte Distancing bekommt eine hörbare Qualität, wenn die Musiker:innen im Raum auseinander gerissen werden. Mit der nicht minder schwierigen Rückkehr zur normalen Aufstellung ist auch das Publikum in die Konzerte der Basel Sinfonietta zurückgekehrt, und das mit einer erfreulichen Nachricht: Die Zahl der Abonnent:innen hat sich über die Zeiten von Lockdown und Streaming-Konzerten vergrößert. So kann das leicht verspätete Jubiläum „40+1“ in dieser Saison vor einer angewachsenen Gemeinde an Fans und Neugierigen zelebriert werden. Daniela Martin ist begeistert vom Basler Publikum: „Die Leute lassen sich auf die Musik ein. In den Konzerten herrscht eine dichte Atmosphäre, eine spürbare Begeisterung. Man ist nicht zum Kritisieren da, sondern um mit offenen Ohren der neuen und neuesten Musik zu begegnen.“

 


Isabel Klaus, Dried – Für Orchester, UA Basel Sinfonietta 2007, Eigenproduktion SRG/SSR: Zum Kernverständnis der Basel Sinfonietta gehört es, junge Schweizer Komponist*innen eine Plattform zu bieten. Vor Kevin Juillerat haben schon viele andere davon profitiert, etwa Isabel Klaus mit ihrem Stück Dried.
Schaut ein Orchester für zeitgenössische Musik bei einem Jubiläum eher zurück oder nach vorne? Daniela Martin sagt: „Beides. Vor allem aber blicken wir ins Heute und in die Zukunft. Welche gesellschaftlichen Perspektiven und Utopien können wir in unseren Programmen beleuchten?“ In dieser besonderen Spielzeit setzt sich die Basel Sinfonietta unter anderem mit Fragen der Migration und dem Verhältnis westlicher zu non-europäischer Musik auseinander. Im Oktober war bspw. das bolivianische Orquestra Experimental de Instrumentos Nativos zu Gast, um mit der Basel Sinfonietta ein interkontinentales Programm mit Musik südamerikanischer und Schweizer Komponist:innen zu spielen.

 

Roberto Gerhard, Sinfonie Nr. 4 „New York“ (UA 1967), Basel Sinfonietta 2003, Eigenproduktion SRG/SSR: Migration prägte das Leben des aus Olten stammenden Komponisten Roberto Gerhard. Bereits 2003 spielte die Basel Sinfonietta mit Johannes Kalitzke seine 4. Sinfonie ein, die Erste erklingt im Konzert am 16. Januar.

 

 

Das Konzert am 16.1.2022 im Stadtcasino Basel läuft unter dem Motto „Schwerkraft Migration“. Sowohl äußerliche als auch innere Migrationsbewegungen sind dabei impliziert – erstere etwa bei Roberto Gerhard. Der 1970 verstorbene Komponist wurde in Katalonien geboren, hat familiäre Wurzeln in Olten und schrieb seine Musik vom britischen Exil aus. Er ist mit seiner 1. Sinfonie von 1952/53 vertreten. Bei Hèctor Parra geht die Reise nach innen und ins all-umfassende Außen zugleich – sein Stück InFALL von 2011 handelt von Schwerkraft und kosmologischen Meditationen über die menschliche Existenz.

 

Mit dem Stück Waves, einem Kompositionsauftrag an Kevin Juillerat, setzt die Basel Sinfonietta ihre Mission fort, jungen Schweizer Komponist:innen eine Plattform zu bieten – gerade auch solche, die wie Juillerat, noch nie für Orchester geschrieben haben. Ob dieser sich mit der Aufgabe unter Druck gesetzt fühlt? „Ich würde es eher als Herausforderung beschreiben. Auch wenn ich viel mit Einflüssen der elektronischen oder Rockmusik arbeite, so habe ich mich auch immer der sinfonischen Tradition verbunden gefühlt. Mich erschreckt das nicht. Das Orchester ist ein großartiges Instrument.“

 

 

Portrait Kevin Juillerat © Didier Jordan / Archiv Basel Sinfonietta

 

Damit verrät der Komponist und Saxofonist mit Jahrgang 1987 zugleich seinen Zugriff auf den sinfonischen Klangkörper. Er betrachtet ihn als ein großes Meta-Instrument, mit dem sich durch Kombination und langsame Prozesse neue Klangfarben erzeugen lassen. Dabei bezieht er auch Techniken aus der elektronischen Musik mit ein, etwa die Ringmodulation – eine simple Form der Klangsynthese, bei der sich zwei Klangsignale manipulieren und ein drittes, neues erzeugen lassen.

 

Kevin Juillerat, Le vent d’orages lointains – for piano and strings, Camerata Ataremac / Gilles Grimaitre 2018, Eigenproduktion SRG/SSR: Klangfarben-Schichtungen und sich langsam verändernde Texturen finden sich auch in Kevin Juillerats Stück „Le vent d’orages lointains“ für Klavier und Streicher von 2018.

 

„In meinen letzten elektroakustischen Stücken habe ich viel mit Texturen gearbeitet, die sich langsam verändern. Das wollte ich auch mit dem Orchester umsetzen. So gibt es gegen Ende des Stücks einen Drone, also einen sehr lang gehaltenen Ton, der mit den Mitteln der Ringmodulation in seinem Spektrum verändert wird.“ Konkret setzt Juillerat zu dieser Modulation Töne auf den Drone, die sich aus der Kernzelle seines Stücks ergeben: Sechs Tönen, die sich aus den Buchstaben B-A-S-E-L und SI für Sinfonietta ergeben. „Ich habe viel an Klangfarben gearbeitet, die immer in Veränderung begriffen sind. Dabei habe ich versucht, die einzelnen Instrumente in ihrer Wiedererkennbarkeit zu verschleiern. Es geht ganz um die Farben“, betont Juillerat.

 

Diese Eigenschaft seiner Musik war es auch, die Baldur Brönnimann beeindruckte, als er ein Stück Juillerats mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne aufführte. So schlug ihn der Principal Conductor der Basel Sinfonietta für das Auftragswerk vor, das am 16. Januar seine ersten Wellen vor dem Basler Publikum schlagen wird. So träge, wie es ein Orchester braucht, um so richtig in Wallung zu geraten – und, wenn es dann so weit ist, so behende, wie die Basel Sinfonietta auch die nächsten 40+1 Jahre angehen möchte.
Friedemann Dupelius

 

Die Basel Sinfonietta stellt auf ihrem neo.mx3-Profil eine grosse Auswahl aus ihrem Audio- und Videoarchiv zur Verfügung.

Basel Sinfonietta: Saison 40+1:
die kommenden Konzerte

 

IRCAM, Roberto Gerhard, Daniela Martin, Hèctor Parra, Baldur Brönnimann, Orquestra Experimental de Instrumentos NativosOrchestre de Chambre de Lausanne

 

neo-profiles:
Kevin Juillerat, Basel Sinfonietta, Isabel Klaus, Gilles Grimaitre

 

Hyper Hyper!

Gabrielle Weber
Hyper Hyper!? Hyper Duo beherrscht die Kunst des Steigerns bis zum Exzess. Das Duo mit dem Pianisten Gilles Grimaitre und dem Schlagzeuger Julien Mégroz setzt konsequent auf Energie, Rhythmus und Satire. Grenzen scheint es für sie keine zu geben, weder zwischen Musikstilen noch Aufführungskontexten. Spielerisch und humorvoll unterwandert Hyper Duo gängige Vorstellungen und bewegt sich dabei zwischen klassischer Avantgarde und Pop-Rock. Im Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel- kommt nun das neue Programm Hyper Grid zur Uraufführung.

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 07 octobre 2020. HyperDuo, séance vinyl 01

 

Die beiden Romands bezeichnen ihr Hyper Duo als ‚experimentelle Band‘. Julien Mégroz stammt aus Lausanne und spezialisierte sich nach dem dortigen Studium in Basel an der FHNW auf zeitgenössische Musik. Gilles Grimaitre kommt aus Genf, studierte an der HKB in Bern und war anschliessend Stipendiat der internationalen Ensemble Moderne Akademie in Frankfurt. Beide bezeichnen sich auch als Performer, Improvisatoren, Komponisten oder Projekterfinder.

Stil- und Genre-Grenzen zu überwinden und den Horizont zu erweitern ist das Zentrale ihres Duos, immer auch in enger Zusammenarbeit mit weiteren Kunst- und Musikschaffenden. Energiegeladen und humorvoll bewegt sich Hyper Duo zwischen traditioneller Komposition aus der klassischen Avantgarde, rockiger Elektro-Energie und absurder Poesie. Inspiration und einen Fundus an Werken beziehen sie dabei gleichermassen aus der E- und der U-Musik.

Neue Stücke für Ihre Besetzung und Klassiker der Moderne, ergänzt mit experimenteller Elektronik, Video oder auch Objekten, bilden den musikalischen Kern.  Die Kompositionen stammen von sinnesverwandten Musikschaffenden oder auch von ihnen selbst.

Bereits mehrere Hyper-Programme belegen den unkonventionellen Zugang zum traditionellen Konzertformat. Sie tragen Titel wie Hyper Cut, Hyper Stuck, Hyper Fuzz oder Hyper Rift.

 


Hyper Rift, Trailer ©Musikfestival Bern 2020

 

Hyper Rift bspw. war eine durch seismographische Daten gesteuerte Licht- und Soundinstallation am Musikfestival Bern 2020. Im Innenraum der Monbijoubrücke machte das Duo in einer Liveperformance zusammen mit dem Videokünstler Pascal Meury tektonische Verschiebungen hör- und erfahrbar. Dabei reizte es mit Perkussion und Synthesizer auch das gerade noch erträgliche Lautstärkenlimit aus.

In Hyper Temper, einem Trioprogramm mit dem Perkussionisten Miguel Angel Garcia Martin, hinterfragten die beiden das Instrument Konzertflügel auf seine Rolle im Musikbetrieb, der Musikgeschichte, aber auch als Objekt im Alltag. Im ‘pièce d’ameublement‘ von Cathy van Eck wurde er zum Zierpflanzen-tragenden Möbel und damit zum Sinnbild für bürgerliches Wohnen im 19.Jahrhundert.


E- und U-Musik zusammenführen

In Hyper Grid nun treten die beiden wieder an ihren Kerninstrumenten – verstärktem Klavier, Drumset und Elektronik – auf und knüpfen dabei an die Vorgängerprojekte Hyper Fuzz und Hyper Cut an.

Hyper Cut ergänzte Drumset, Klavier und Elektronik humorvoll mit Video, Stimme und Objekten in neuen Werken von u.a. Simon Steen-Andersen, Sarah Nemtsov oder Wolfgang Heiniger.

 


Hyper Duo: Hyper Cut, Simon Steen-Andersen, difficulties putting it into practice, Video ©Hyper Duo

 

Das Projekt Hyper Fuzz hingegen verband neue, explizit groovige Stücke und Klassiker der Moderne mit Bezug zu Pop, Rock und Jazz, ergänzt mit elektronischen Interludes vom jungen Schweizer Klangerfinder Cyrill Lim. Da hörte man Werke von Frank Zappa, der selbst in ästhetischen Gesamtprojekten E- und U-Musik zusammenführte, neben Musik von Stockhausen oder dem jungen Lausanner Komponisten Nicolas von Ritter. Das Programm kam sowohl in klassischen Konzertsälen und -festivals als auch in Rock- und Jazzclubs zur Aufführung.

 


Hyper Duo / Hyper Fuzz @Taktlos Festival Zürich 2018, Video ©Hyper Duo

 

 

Im neuen Projekt vertieft Hyper Duo die Zusammenarbeit mit zwei Musikschaffenden.

Der serbische Komponist Marko Nikodijevic wirkt in seiner Uraufführung grid/index [ I ] für das Hyper Duo selbst an der Elektronik mit. Nikodijevic arbeitet in seinen Stücken gern mit der Fusion von traditionellen Instrumenten mit digitalen Klängen und setzt Verfahren aus Techno und Pop ein. Grid / index [ I ] geht auf ein gleichnamiges Werk des Künstler Carsten Nicolai zurück, eine riesige Sammlung an Zeichnungen zweidimensionaler Gitter und Muster. Nikodijevic übersetzt die Referenz in einfache rhythmische und melodische Muster, die an den sogenannten ‘Minimal-Techno’ der 90er Jahre erinnern.

 

Portrait Kevin Juillerat © zVg Kevin Juillerat

 

 

Kevin Juillerat, Komponist aus Lausanne, bezieht sich in seinem Werk L’Être-On auf Nikodijevic. Sein Stück basiert auf einem Text des surrealen Dichters Antonin Artaud aus einer von ihm in den 40er Jahren selbst produzierten Radiosendung. Juillerat untersucht darin die Analogie zwischen Poesie und Klang und schafft ein rhythmisches, Elektronik-versehenes, halbstündiges ‘Mini-Oratorium’.

 


Kevin Juillerat, le vent d’orages lointains, for piano and strings, UA 2018

 

Experimentell sind sie unterwegs, die zwei Romands, und subversiv witzig, aber auch musikalisch-poetisch sind ihre Programme allemal. Davon kann man sich in ihren zahlreichen Videos überzeugen. Ob Hyper Hyper noch gesteigert werden kann, davon überzeugt man sich am besten live im neuen Programm Hyper Grid, am 2.6. im Gare du Nord und ab November an weiteren Orten. Zumal nun nach so langer Zeit wieder live Konzerte möglich sind.
Gabrielle Weber

 

Hyper Duo © 2020 Pablo Fernandez. Bienne, le 21 novembre 2020. HyperDuo, séance vinyl 02

 

Der Gare du Nord – Bahnhof für Neue Musik Basel lädt in Fokus Romandie über drei Saisons Ensembles aus der Romandie ein. Hyper Grid ist das dritte und letzte Romandie-Programm dieser ersten Saison.

Im Programm kommen die neuen Werke «L’Être-On» für verstärktes Klavier, Schlagzeug, Stimme und Effekt-Pedale von Kevin Juillerat sowie «grid/index [ I ]» für Drumset, Klavier und Electronica von Marko Nikodijevic zur Uraufführung.

Concerts
2.6. 21 Gare du Nord Basel
4.11.21 IGNM Zürich
17.12.21 Salle Farel, Bienne

Indigne de nous , das erste Studioalbum von Hyper Duo wird am 5. Juni 2021 bei Everest Records veröffentlicht.

Marko Nikodijevic, Frank Zappa, Karlheinz Stockhausen, Carsten Nicolai, Antonin Artaud, Sarah Nemtsov, Wolfgang HeinigerMiguel Angel Garcia Martin

 

neo-Profiles:
HYPER DUOKevin Juillerat, Gilles Grimaitre, Julien Mégroz, Cathy van Eck, Simon Steen-Andersen, Cyrill Lim, Nicolas von Ritter, Gare du Nord

Musique de création –  Geheimtipp aus Genf im GdN Basel

Ungewöhnlich ist die Besetzung, und überzeugend : drei Schlagzeuge und zwei Klaviere. Und noch ungewöhnlicher ist die Zusammenarbeit mit dem Cartoon-Kollektiv Hécatombe. In Diĝita verbindet das Genfer Ensemble Batida Musik mit Comics. Zu erleben am 26. November im Gare du Nord, im Saisonschwerpunkt „Romandie“.

Der Schwerpunkt des Basler Bahnhofs für Neue Musik erstreckt sich gleich über drei Saisons, mit drei mal drei Konzerten. Damit stärkt er längerfristig Brücken zur anderen Schweizer Sprachregion. Und gerade jetzt sind diese wichtig: denn die Ensembles aus der frankophonen Schweiz können aufgrund des Lockdowns in der Romandie dort nicht auftreten.

Der neoblog portraitiert die Gastensembles und neo.mx3 begleitet zusammen mit RTS Livesendungen zu den Konzerten.

Folge eins: Ensemble Batida Genève: Ein Portrait

Gabrielle Weber
Zum Gespräch traf ich Jeanne Larrouturou, Perkussionistin und Co-künstlerische Leiterin, per Zoom, im Genfer Lockdown. Larrouturou stammt aus Frankreich und wuchs in Genf auf. Nach dem Studium an der Haute école de musique Genève (HME) spezialisierte sie sich an der Hochschule für Musik Basel (FHNW) auf zeitgenössische Musik. Seither agiert sie als Brückenbauerin zwischen den Szenen der beiden Regionen.

Ensemble Batida: Concert Le Scorpion © Pierre-William Henry

Zur Besetzung von Batida kam es eher zufällig. Als “klassische Bartok-Formation ” sei Batida ursprünglich entstanden, sagt Larrouturou. Sie bezieht sich damit auf Bartoks  Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von 1937/38 für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge. Dazu formierten sich 2010 vier der Ensemblemitglieder für ein Schlusskonzert an der HME. Weitere gemeinsame Auftritte folgten. Als eine Perkussionistin die Gruppe für einen Auslandaufenthalt verliess, sprang Larrouturou ein, und blieb anschliessend gleich dabei. Die Kernformation besteht seither unverändert: die drei Perkussionistinnen Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon und Anne Briset ergänzen Viva Sanchez Reinoso und Raphaël Krajka am Klavier.

Ein Glücksfall, denn für die einmalige Besetzung entstanden viele neue Werke. Einerseits von befreundeten KomponistInnen, andererseits durch kollektives Komponieren der Ensemblemitglieder. Und auch das begann zufällig. In einem Projekt mit einer Tanzkompagnie habe der Choreograph Batida gebeten, etwas zu komponieren. “So kamen wir zum ersten Kompositionsauftrag. Und das gemeinsame Komponieren führten wir anschliessend weiter. Als nächstes komponierten wir für ein Projekt mit einem Marionettentheater”, so Larrouturou.

Ensemble Batida, Haïku, kollektive Komposition 2013

“Die Art wie wir komponieren kommt stark aus dem Experimentieren. Wir haben eine Idee der generellen Struktur, eines Konzepts. Dann ‘machen’ wir: wir spielen, wir hören uns gegenseitig an, nehmen uns auf, hören das Aufgezeichnete gemeinsam. Wir strukturieren, organisieren und notieren “. Eine Art der Kreation also, die Improvisation und Notation verbindet. In der Regel werden auch improvisatorische Elemente beibehalten.

musique de création

In einem musikalischen Genre will sich Batida nicht eindeutig verorten. “Wir sehen uns in der zeitgenössischen Musik. Wir mögen aber nicht so sehr was hinter dem Etikett steht”, meint Larrouturou. In Frankreich gäbe es verschiedene gelungenere Bezeichnungen: ‘Musique de création’ sei für sie am treffendesten: “der Begriff ist genug offen, schliesst aber gleichzeitig die alte „zeitgenössische Musik’ aus”.

Ensemble Batida: Mean E, kollektive Komposition 2013

Batida hatte bislang kaum Auftritte in der Deutschen Schweiz. Nach dem Concours Nicati in Bern 2014 folgten Auftritte beim Festival Zeiträume Basel und in Andermatt. Ganz im Gegenteil zur französischen Schweiz wo das Ensemble an vielen Festivals präsent ist, wie auch zum Ausland. In Frankreich, Russland, Portugal, Zypern waren sie bereits auf Tournee. Eine weitere – mit Diĝita in die USA – ist geplant (und wegen der Pandemie bereits schon  verschoben).

Wie erklärt sich Larrouturou diesen überschaubaren Austausch der Sprachregionen?

“Ich lebe seit zirka vier Jahren in Basel und habe mein Netzwerk in Basel, Genf und Lausanne. Mich erstaunt immer wieder, dass die Szenen sich gegenseitig wenig kennen. An der Hochschule in Basel stellte ich fest, dass es grundsätzliche Unterschiede in der ästhetischen Ausrichtung gab. An gewissen Musikschaffenden kommt man in Basel nicht vorbei, die waren aber in der Romandie kaum präsent. Die französische Schweiz ist stärker mit Frankreich, die deutsche Schweiz stärker mit Deutschland vernetzt”, meint Larrouturou.

Zusammen mit dem Komponisten Kevin Juillerat, Basler Studienkollege und in Lausanne domiziliert, kuratiert Larrouturou die Lausanner Konzertreihe Fracanaüm. Dort versuchen die beiden solche Gräben zu überwinden. ” Die Frage woher jemand kommt stellen wir uns gar nicht. Wir laden unser Netzwerk aus beiden Regionen ein. Aus solchen kleinen Initiativen entstehen Beziehungen auf lange Sicht “, ist Larrouturou überzeugt.

Batida geht es aber auch um Brücken zwischen den Sparten. Die meisten Projekte sind  transdisziplinär angelegt und entstehen in Kollaboration mit weiteren Kunstschaffenden, mit Tanz, Marionettentheater, Architektur, Video oder Comiczeichnern.

Mit dem Genfer Zeichnerkollektiv Hécatombe kollaborieren Batida seit einem ersten gemeinsamen Projekt 2016 laufend.

Ensemble Batida & Hécatombe: Oblikvaj, kollektive Komposition 2016-2018

“Beim ersten gemeinsamen Projekt Oblikvaj (2016-2018 ) stellte sich gleich heraus, dass wir dieselbe Wellenlänge hatten. Jedes der fünf Hécatombe-Mitglieder schuf eine grafische Partitur, je einen 24seitigen schwarz-weiss Comic. Batida reagierte darauf mit kollektiven Kompositionen. Das funktionierte blendend”. Später gab es dann Konzerte mit Live-Begegnungen.

In Diĝita geht es nun erstmals um den gemeinsamen Kreationsprozess. “Im Sommer 2019 vergruben wir uns alle zusammen in einer 14tägigen Retraite in einem alten Hof ‘au milieu de nulle part’. Wir brachten keine Instrumente mit, sondern sammelten vorhandene Klänge und zeichneten diese auf, bspw. von grossen Maschinen, Traktoren und Motoren.”

Diĝita, Trailer ©Gare du Nord, Batida & Hécatombe

Der Titel Diĝita steht einerseits konkret für die ‘Finger’, andererseits für digital vs. analog. Die aufgezeichneten und gesampelten Klänge verweisen auf das Digitale, die Musikerperformer auf die Arbeit mit Fingern. Die Musiker spielen innerhalb eines transparenten Kubus. Die Wände sind Screens, auf die 3D-Videos der Zeichner projiziert werden: lebensgrosse Comicfiguren auf den Videos überlagern und verfremden so die realen Musikerkörper im Kubus.

Diĝita konnte am 31. Oktober noch ein Konzert in Lausanne geben: “Das war ein Erlebnis in extremis. Uns war klar, dass wir sobald nicht mehr live spielen würden und wir haben den Moment noch stärker ausgekostet” meint Larrouturou dazu. Die weitere Diĝita -Tournee mit Folgekonzerten in Genf ist nun durch den Lockdown der Romandie unterbrochen.

En passant stellte sich im Gespräch heraus, dass Batida dieses Jahr gerade sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ein Fest mit Partnern und Publikum in Genf sei geplant, aufgrund der Pandemie werde es aber sicherlich erst 2021 stattfinden.
Gabrielle Weber

 

Ensemble Batida Portrait ©Batida

Ensemble Batida: Klaviere: Viva Sanchez Reinoso, Raphaël Krajka
Percussion; Jeanne Larrouturou, Alexandra Bellon, Anne Briset
Diĝita: Video: Giuseppe Greco, Ton: David Poissonnier

Gare du Nord: Batida & Hécatombe: Diĝita, 26.11.20, 20h
(aufgrund des Basler Lockdowns spielten sie 2x für 15 Personen, mit Livestream für alle anderen)

Ensemble Batida, FracanaümKevin Juillerat, haute école de musique genève – neuchâtel, Hochschule Musik Basel, Hécatombe,

Sendung RTS:
l’écho des pavanes, 20.11.20, rédaction Anne Gillot, Gespräch mit Désirée Meiser, Intendantin Gare du Nord
Sendung SRF 2 Kultur:
in: Musik unserer Zeit zu neo.mx3, 21.10.20, Redaktion Florian Hauser / Gabrielle Weber

neo-Profiles: Ensemble Batida, Gare du NordAssociation Amalthea, Kevin Juillerat