Durch Musik eins werden mit der Natur

Toshio Hosokawa ist der bekannteste japanische Komponist und diese Saison Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Hosokawa verbindet in seiner Tonsprache die westliche neue Musik mit traditioneller japanischer Musik. Moritz Weber unterhielt sich mit dem Komponisten.

 

Moritz Weber
Vor drei Jahren komponierte Toshio Hosokawa im Auftrag des Pianisten Rudolf Buchbinder eine Variation über den berühmten Walzer von Diabelli in C-Dur, über welchen einst Beethoven seine monumentalen 33 Veränderungen komponiert hatte. «Ich liebe Klavierklänge», sagt Hosokawa im Gespräch, «aber in diesem Walzer hat es sehr viele Töne». Seine Variation klingt denn auch wie in Zeitlupe, er lässt einzelnen Tönen viel Zeit, um sich zu entfalten. Wegen des langsamen Tempos sei das Stück typisch für ihn, sagt der japanische Komponist, und sogar die tonalen Elemente passten zu seiner Musiksprache, denn in den letzten 2 bis 3 Jahren habe er sich wieder mehr für tonale Musik interessiert, «und ich möchte in Zukunft auch tonale Musik komponieren.»

 

Über das Studium in Deutschland zur traditionellen japanischen Musik

Zu seiner eigenen Klangsprache, die fernöstliche und westliche Ästhetik verbindet, fand er über einen Umweg. «Meine Familie war sehr japanisch», sagt er. Mit einem Ikebana-Meister als Grossvater, der auch Nō-Gesang und die Teezermonie liebte, und einer Mutter, die immer Koto spielte, war ihm das dann doch etwas «zu viel». Für ihn waren die traditionellen japanischen Künste damals altmodisch, «langweilig» gar.

Da er sich als Klavierstudent insbesondere für das klassisch-romantische Repertoire begeisterte, wie für die späten Klaviersonaten von Beethoven, ging Hosokawa nach Deutschland, um bei Isang Yun (in Berlin) und Klaus Huber (in Freiburg i. B.) Komposition zu studieren.

 


Klaus Huber, Kompositionsprofessor von Toshio Hosokawa mit seinem fernöstlich inspirierten Stück Plainte – Lieber spaltet mein Herz, Contrechamps 2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Am Meta-Musikfestival im Berlin der 1970er-Jahre wurde neue Musik aus Europa mit traditioneller Musik aus aller Welt kombiniert. György Ligeti mit indonesischer Gamelanmusik, Karlheinz Stockhausens Mantra mit Tempelmusik aus Japan. Dort hörte und erlebte Hosokawa von Europa aus die Musik seiner Heimat ganz anders und entdeckte ihre Schönheit. Gemischt mit Heimweh und dank der Ermunterung seiner Lehrer begann Hosokawa in seinem Stil die fernöstliche Klangsprache und Philosophie mit der europäischen zu verschmelzen.

 

Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik

Ein wichtiger Unterschied zwischen europäischer und japanischer Musik sei, dass letztere keine absolute Musik sei, sondern immer als Atmosphäre oder Hintergrund für bestimmte Ereignisse wie Zeremonien oder Tänze. Sie sei an einen Ort gebunden. Die europäische Musik hingegen sei eine Architektur, die an den unterschiedlichsten Orten gespielt werden könne, so wie man eine Skulptur oder ein Gemälde irgendwo hin transportieren kann, so Hosokawa.

 

Portrait Toshio Hosokawa © KazIshikawa zVg. Tonhalle-Orchester Zürich

 

«In der japanischen Musiktradition ist der Einzelton sehr wichtig. Ich sage immer, unsere Musik sei eine Kaligraphie in Zeit und Raum, und eine musikalische Linie ist wie ein Pinselstrich, mit Anfang und Ende». Die Töne seien vertikale Ereignisse, wie ein kalligraphischer Pinselstrich auf einem weissen Papier. Ganz im Gegensatz zu den zu Motiven verbundenen Tongruppen der westlichen Musik, z.B. das berühmte «ta-ta-ta-taaaaaa» aus Beethovens 5. Sinfonie, singt Hosokawa vor.

 

Nō-Theater und Gagaku-Musik

«In den Stücken des traditionellen japanischen Nō-Theaters aus dem 12. oder 13. Jahrhundert geht es um Seelenheilung, und dieser Gedanke ist auch sehr wichtig für mich», sagt Hosokawa: «Die Verstorbenen kommen zurück, erzählen vom Jenseits, heilen ihre Seelen durch Tanz und Gesang und kehren dann zurück ins Reich der Toten». Musikalisch ist der «Kalligraphie-Gesang» prägend, wie auch das Schlagzeug: Heftige Schläge, welche die Zeit quasi vertikal durchschneiden. Es werden nicht grosse horizontale Räume eröffnet, sondern die Impulse sind für sich selbst Ereignisse. Darauf weise er auch immer hin, wenn er mit Musiker:innen an seinen Stücken arbeite, wie diese Saison als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. «Diese heftigen vertikalen Einschnitte, sie sind stärker als normale Einsätze, auch die plötzlichen Änderungen in der Dynamik. Ich sage immer: Denken sie beim Spielen, sie malen eine Kalligraphie. Denken sie nicht zu formal, sondern dass jeder Moment ein wichtigster Moment ist, jeder Moment eine Ewigkeit.»

 

 


Toshio Hosokawa, Ferne Landschaft III – Seascapes of Fukuyama (1996), Basel Sinfonietta, Dirigent Baldur Brönnimann 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Hosokawa gefallen auch die mikrotonalen Färbungen, welche bei der Gestaltung von Tönen im Nō-Theater wichtig sind. «Um die Zentraltöne herum gibt es immer kleine Veränderungen, und diese möchte ich hören, denn sie machen die Töne lebendig». Auch hier singt er im Interview einen langgezogenen Ton vor und zeichnet dazu mit der Hand in der Luft den Tonverlauf nach.

 

Der Mutterakkord der Shô

Die etwa 500 Jahre ältere und ursprünglich aus China und Korea stammende japanischen Gagaku-Musik ist eine zeremonielle Hofmusik. Der Klang der japanischen Mundorgel Shô ist hier omnipräsent. Er symbolisiert im Hintergrund die Ewigkeit, während darüber Melodieinstrumente wie Hichiriki oder die Drachenflöte Ryūteki klangliche Kalligraphien «zeichnen».

Mit der Shô sei es auch möglich, den Atem und kreisende Zeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Hosokawa nennt das den «Mutterakkord», und er hat diverse Stücke für oder mit Shô geschrieben. Auch diese Kreisläufe seien für ihn sehr wichtig, wie auch der Gedanke, dass Gagaku eher eine kosmische Musik ist als eine menschlich-emotionale.

 

Naturkatastrophen als Opernstoff

Toshio Hosokawa ist mit seiner einzigartigen Tonsprache und seinen Kompositionen in allen Gattungen weltberühmt geworden. Viele seiner Werke drehen sich um Naturkatastrophen wie um das verheerende Tohoku-Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima. «Mein Ziel ist es, durch Musik und durchs Komponieren eins zu werden mit der Natur. Eigentlich ist die japanische Natur sehr schön mit ihren Jahreszeiten, aber sie ist nicht immer freundlich zu den Menschen. Diese Tatsache habe ich erfahren als der Tsunami kam, und ich begann, ganz anders über Natur nachzudenken. Mit meiner vierten Oper Stilles Meer wollte ich ein Klagelied für die Opfer dieses einschneidenden Ereignisses oder ein Requiem für die Toten schreiben.» Nicht nur die Urgewalt hat Hosokawa darin auskomponiert, sondern die schrecklichen Bilder des Verlusts, wie Kinderschuhe oder Spielzeug, welche in den Überschwemmungsgebieten treiben.

 


Toshio Hosokawa, die Oper Stilles Meer ist für Toshio Hosokawa ein Klagelied an die Opfer des Tsunami von 2011, UA Staatsoper Hamburg 2016

 

 

Momentan komponiert Hosokawa seine sechste Oper, auch sie wird sich wieder um Naturkatastrophen drehen. Eine junges Paar, ein Japaner und ein Flüchtling aus der Ukraine, besucht darin verwüstete Orte, verschiedene «Höllen» im Sinne von Dantes Inferno, wo sie die Auswirkungen der Naturkatastrophen sehen, so Hosokawa. Die Oper soll in der Spielzeit 2025/26 uraufgeführt werden.

 

Innere und äussere Ruhe

Um seine innere Ruhe zu finden, geht Hosokawa gerne in den Wald oder ans Meer in der Nähe seines Wohnortes in Nagano. Er meditiert auch täglich, still sitzend und nichts tuend für ein paar Minuten. Eine Kraftquelle für seine kontemplative Zustandsmusik, welche durchsetzt ist von eruptiven Ausbrüchen.

Seine Musik soll auch für das Publikum ein Ort der Kontemplation sein, ein Ort des Gebets. «In Japan gibt es sehr viele geschnitzte Holzstatuen von anonymen Künstler:innen, bei welchen die Menschen beten. Ich möchte, dass meine Musik eine ähnliche Bedeutung hat. Sie kann die Menschen vielleicht nicht retten, aber irgendwie schützen.»

Die Spiritualität spielt auch in seinen jüngsten Werken eine Rolle: Ceremony für Flöte und Orchester (UA 2022) und Prayer für Violine und Orchester (UA 2023).

 

Das Soloinstrument sei auch in diesen beiden Stücken wie ein Schamane, ein Vermittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits, so Hosokawa, er empfange und höre die Urkraft Ki (気). «Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Komponieren, nicht als ein Ausdruck eines Menschen oder seines Egos, sondern als Empfangen von dem, was schon da ist; die Urkraft der Klänge, den bald lieblichen, bald dramatischen Fluss der Töne. «Das Orchester repräsentiert dabei die Natur. Diese ist also in und um das Soloinstrument bzw. den Schamanen. Er kommuniziert mit ihr, trägt Konflikte aus, und soll zum Schluss zu einer Harmonie mit ihr findet».

Hosokawa sieht sich als ein Vertoner dieser Urkraft, und sagt: «auch ich möchte ein Schamane werden» – wenn er es nicht schon ist.

Wenn er mit Orchestern oder Musiker:innen seine Werke einstudiert, wie jetzt während seiner Zeit als Creative Chair des Tonhalle Orchesters Zürich, sei es vor allem das Zeitgefühl, woran man manchmal etwas mehr arbeiten müsse.
Moritz Weber

Tonhalle-Orchester Zürich: Toshio Hosokawa, Creative Chair, Saison 2022/23
Konzerte: Sonntag, 26.3. Kammermusik
Mittwoch, 29.3.23: Meditation to the victims of Tsunami für Orchester.

 

Rudolf Buchbinder, Isang Yun, Klaus Huber, Shô, Hichiriki, Ryūteki, Gamelan, Karlheinz Stockhausen, Gagaku, György Ligeti, Koto, Metamusikfestival Berlin

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 22.3.23, 20h, 25.3.23, 21h: Musikschamane und Vertoner der Urkraft, Autor Moritz Weber

Neo-Profile:
Toshio Hosokawa, Tonhalle-Orchester Zürich, Klaus Huber

 

Nomaden der Neuen Musik

Seit Herbst 2019 hat das Collegium Novum Zürich einen neuen künstlerischen Leiter: den Cellisten und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Neue künstlerische Perspektiven und eine Erweiterung der Hörerschaft hat sich Knapp für das Spezialistenensemble der Neuen Musik auf die Fahnen geschrieben. Seine erste Saison fiel Pandemiebedingt reduziert aus. Nun startet die erste von Knapp kuratierte Spielzeit. Thomas Meyer sprach ihn vor dem zweiten Konzert: dieses findet am 30. Oktober unter der Leitung von Emilio Pomàrico im frisch restaurierten grossen Saal der Tonhalle in Zürich statt.

 

Portrait Collegium Novum Zürich, Konzert Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Thomas Meyer
Die Neue Musik ist zwar nicht mehr so jung, aber sie versteht es doch immer wieder, sich zu verjüngen. Das wird deutlich, wenn zwei Werke aufeinandertreffen, die im Abstand von einem halben Jahrhundert entstanden sind, ein Klassiker und ein Newcomer wie im 3. Saisonkonzert des Collegium Novum Zürich (CNZ) unter Michael Wendeberg am 18. Dezember. Éclat-Multiples steht dort neben (Re)incarnation [Yerlik]: ein zentrales Werk von Pierre Boulez aus dem Jahr 1970 neben jenem eines 34 Jahre jungen Komponisten, dessen Namen die wenigsten bei uns kennen dürften. Der Kasache Sanzhar Baiterekov verarbeitet darin einen alten tengristischen Mythos aus seiner Heimat, in dem es um Unterwelt und Wiedergeburt geht.

Solche Begegnungen haben beim CNZ durchaus Tradition. Seit seiner Gründung 1993 verfolgt es diese doppelte Aufgabe. Einerseits führt es die wichtigen Werke der Neuen Musik auf, die gleichsam einen Standard setzen und für die Bildung der MusikerInnen, aber auch des Publikums von Bedeutung sind. Damit hat das CNZ sich seinen festen Platz im Zürcher Musikleben erarbeitet. Einige MusikerInnen sind seit der Gründung mit von der Partie.

Andererseits sucht das Ensemble das junge, unbekannte: die Herausforderung und Öffnung. Eine „Musik, in der sich das Morgen ankündigt“ möchte auch der Cellist und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Vor zwei Jahren übernahm er die künstlerische Leitung und Geschäftsführung. Seine erste Saison fiel coronahalber reduziert aus.

 

Portrait Johannes Knapp ©Alessandra Carosi

 

Nur vier Konzerte konnten vor kleinem Publikum stattfinden. Deshalb wurden einige Auftritte für Idagio gestreamt. Zudem nahm das Ensemble drei CD-Projekte in Angriff, die heuer fertiggestellt werden sollen, etwa je eine CD mit Musik von Boulez und des Westschweizers William Blank sowie eine Reihe von Schüler-Lehrer-Doppelporträts wie Heinz Holliger/Sándor Veress oder Klaus Huber/Willy Burkhard. Hubers „Erinnere dich an Golgatha“ stand deshalb am Anfang der neuen Saison.

 


Klaus Huber, Psalm of Christ, Collegium Novum Zürich, Bariton: Robert Koller, Dirigent Heinz Holliger, Tonhalle Zürich, Eigenproduktion SRG/SSR 2015

 

Mythen und Legenden

Diesmal liegt ein Fokus auf Mythen und Legenden in aktueller Musik. Das eher als anregende Ausgangsidee denn als durchgängiges Motto. Mythen, so meint Knapp, hätten eine tiefe Verbindung zur Musik, weil sie ebenfalls jenseits von Logik und Worten funktionieren und sich nicht eindeutig fixieren lassen. Es seien Versuche, mit dem Ungewissen, ja dem Schrecken umzugehen.

Und so tauchen in diesen Programmen berühmte Mythen auf: Orpheus in Orpheus falling von Sarah Nemtsov, der Schöpfungsmythos (6. Tag) in Eufaunique von Stefano Gervasoni, der ägyptische Sonnengott Ra in Sortie vers la lumière du jour von Gérard Grisey. Die in Bern lehrende Cathy van Eck wird für den Daphne-Mythos in ihrer neuen Performance die Tonhalle in einen „Wald verwandeln, durch den der Wind weht.“

 


Gérard Grisey: Sortie vers la lumière du jour (1978), Ensemble Phoenix Basel, Leitung Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG/SSR, Gare du Nord Basel 2016

 

 

Schliesslich erscheinen Tierlegenden von Igor Strawinsky (Renard), Ruth Crawford Seeger oder Frank Zappa, die am Ende der Spielzeit erklingen. Der Rockmusiker war in seinen Anfängen stark von Edgard Varèse und Strawinsky beeinflusst.

 

Begegnung mit Barockinstrumenten

 

Andererseits werden in solchen Programmen auch die absolutistischen Dogmen Neuer Musik hinterfragt. Warum muss neue Musik immer „neu“ klingen“? Kann sie nicht historische Grenzen überwinden? So kommt es zur Begegnung mit Barockinstrumenten, konkret mit La Scintilla, der Alte Musik-Formation der Zürcher Oper. Der Franzose Philippe Schoeller schreibt dafür ein neues Werk. Kátoptron und erzählt den antiken Mythos von Echo und Narziss neu.

Sie sind also unterwegs. „Crazy nomads of Zurich“ formulierte ein Spassvogel einmal das Kürzel CNZ aus, weil das Ensemble keine feste Spielstätte hat. Stattdessen sucht es immer wieder neue Spielorte auf, heuer die Krypta des Grossmünsters. Und so notiert Knapp denn auch in seinem Saisoneditorial: „Reisen als ein Erwandern von Klanglandschaften mit dem Ohr. Kunst heisst, nie anzukommen.“
Thomas Meyer

 

Pierre Boulez, Sanzhar Baiterekov, Sarah Nemtsov, Stefano Gervasoni, Gérard Grisey, Frank Zappa, Igor Strawinsky, Ruth Crawford Seeger, Edgar Varèse, La Scintilla, Philippe Schoeller, Emilio PomàricoChristoph Delz, Dahae BooKelley SheehanMichael Wendeberg

 

Portrait Collegium Novum Zürich @Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Kommende Konzerte CNZ:
Grosse Tonhalle Zürich, 30.10.21: And falls into the Netherworld, Dirigent: Emilio Pomàrico, Werke von Sarah Nemtsov, Aureliano Cattaneo, Rebecca Saunders, Stefano Gervasoni
Grosse Tonhalle Zürich, 4.12.21: Konzert 3, Dirigent: Johannes Schöllhorn, Stefan Wirth Klavier; Werke von Kelley Sheehan, Tobias Krebs, Dahae Boo, Christoph Delz

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 1.12.21: Konzert CNZ, Tonhalle Zürich, 30.10.21

neo-profiles:
Collegium Novum Zürich, William Blank, Heinz Holliger, Sandor Veress, Klaus Huber, Willy Burkhard, Cathy van Eck, Gare du Nord, Ensemble Phoenix Basel, Rebecca Saunders, Tobias Krebs

Ein Prost auf die Neue Musik!

RTR feiert den Launch von neo.mx3 mit einem Extrakonzert am 11. Oktober in Chur – zusammen mit dem Bündner Ensemble ö!. Dabei werden zahlreiche Werke von Schweizer Musikschaffenden aufgeführt. RTR zeichnet sie per Video auf und stellt sie anschliessend umgehend auf neo.mx3 und rtr.ch/musica zur Verfügung.

Thomas Meyer im Gespräch mit dem Geiger und Komponisten David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter des Ensemble ö!.


Asia Ahmetjanova, La voix, UA ensemble ö!, Chur 2020

Seit 2002 existiert das Ensemble ö! Es entstand damals aus einem ebenfalls von Ihnen 1991 gegründeten Streicherensemble (Musicuria). Sie waren damals noch im Gymnasium… Was war Ihr Anliegen?

Schon bei Musicuria integrierten wir in jedem Programm ein Stück Neue Musik, ja manchmal auch eine Uraufführung. Das Interesse verlagerte sich dann immer mehr in diese Richtung, und schliesslich entstand daraus mit einigen Streichern von Musicuria sowie Bläsern, Klavier und Schlagzeug das neue Ensemble ö!.

David Sontòn-Caflisch & Ensemble ö!

Was bedeutet der ungewöhnliche Name?

Als ich das Ensemble präsentierte und dabei sagte, man solle den Unterschied zwischen E und U nicht mehr machen, hat die Bündner Presse das eigenwillig interpretiert: e und u ergäben zusammen eu und das werde, französisch ausgesprochen, zum ö. Ursprünglich jedoch dachte ich an das ö!, mit dem man sich im Bündnerland zuprostet. Es ist schlicht ein Prost auf die Neue Musik.

In der Programmation nehmen Sie sich jeweils bestimmte Themen vor.

Wir setzen uns pro Saison ein Thema, das wir mit sechs Programmen im Detail beleuchten. Es geht mir als künstlerischem Leiter nicht nur darum, gute Stücke auszuwählen, sondern auch gescheite Programme zu machen, die eine Geschichte erzählen und so aufgebaut sind, als gäbe es pro Abend ein grosses Stück, an dem verschiedene Komponisten beteiligt sind.


Stephanie Hänsler, Im Begriffe, ensemble ö! 2017

Die Weite des Alls und die Einzigartigkeit der Kunst..

Die laufende Saison steht unter dem Motto „Sonnen“.

…ein weites Feld. Wenn man in den Sternenhimmel schaut, vergisst man ja häufig, dass fast alle diese leuchtenden Punkt Sonnen sind. Jede von ihnen hat ihre eigene Welt, und diese Welten sind unglaublich weit voneinander entfernt. Unser nächster Nachbar schon ist über vier Lichtjahre weit weg. Das zeigt einerseits, wie klein, andererseits, wie einzigartig wir sind. Wir sind in der Lage, die Welt über Kunst bzw. über Musik zu reflektieren! Die Weite des Alls steht also neben der Einzigartigkeit der Kunst.

Diese Aspekte beleuchten Sie auf unterschiedliche Weise: Die Konzerte heissen „Lichtjahre“, „Unzugänglichkeit“, „Energie“, „Opium“… Wie gestalten Sie die Programme?

Beim Programm „Lichtjahre“ jetzt im September standen einander beispielsweise Masse und Leere gegenüber: Die Masse von einer Milliarde Sternen kann man sich gar nicht vorstellen; zwischen den Sternen aber ist eine grosse Leere. Zwei Werke des Konzerts (von Vladimir Tarnopolski und Gwyn Pritchard) sind unglaublich dicht komponiert, so dicht, dass man nicht jeder Note folgen kann, sondern nur einer Gesamtidee. Die Stücke von Luciano Berio und von Roland Moser arbeiten hingegen mit der Leere und sind sehr leise. Jenes von Marc-André Dalbavie schliesslich kombiniert beide Elemente.


Jannis Xenakis, Dikhthas, Ensemble ö! 2017

Neu ist, dass Sie für diese Programme mit einem Kuratorium zusammenarbeiten.

Bisher hatte ich mich jeweils intensiv in die Materie eingelesen. Dafür wollte ich nun Fachleute beiziehen. Dieses Jahr sind das ein Philosoph/Psychologe, ein Journalist, eine Schriftstellerin und ein Astrophysiker. Dadurch kommt viel Fachwissen zusammen, um die Themen, die ich wähle, zu vertiefen. In unserer ersten Sitzung gingen wir zusammen jedes Programm im Detail durch und liessen Aspekte aus allen Disziplinen einfliessen. Daraus entstehen dann kurze literarische Texte, die im Konzert eingeflochten werden. Ich möchte dem Publikum nichts rein Theoretisches zumuten; deshalb setzt die Schriftstellerin die Gedanken literarisch um. Die Texte regen aber auch dazu an, das nächste Stück intensiver zu erleben. Sie bilden einen roten Faden zur Musik, die immer noch im Vordergrund steht. Weiterhin gibt es vor dem Konzert Einführungen, in denen ich stärker auf die Musik eingehe.

Die Diskussionen gehen also den Konzerten voraus.

In diesem Jahr schon, es ist ein Pilotprojekt. Später wollen wir diese Sitzungstage auch für die Musiker und fürs Publikum öffnen. Das könnte mit der Zeit eine Begleitung zu den Konzerten werden.

Es handelt sich also um ein vermittelndes und interdisziplinäres Projekt…

Vielleicht eher „transdisziplinär“. Es sind mehrere Disziplinen, die die Musik vertiefen sollen. Es ist ja immer noch etwas in Mode, dass man Konzerte interdisziplinär mit Videoelementen oder Lichtevents anreichert. Das ist berechtigt, aber man muss aufpassen, dass es nicht nur eine äusserliche Ablenkung bleibt. Unsere Musik braucht eine ziemliche Konzentration und soll intelligent kombiniert werden. Da kann man nicht bloss Unterhaltungselemente hinzufügen.

Drei Komponisten tauchen mehrmals auf: der Franzose Tristan Murail, der Österreicher Klaus Lang und der 2017 verstorbene Schweizer Klaus Huber.

Murail schreibt eine sehr sinnliche Musik. Es ist mir wichtig, diesen Aspekt zu betonen, weil gern behauptet wird, dass Neue Musik zu abstrakt sei. Bei Lang fasziniert mich, wie er auf ganz eigene Weise musikalische Weiten schafft. Und bei Huber erinnern wir an einen grossen Schweizer Komponisten, der zurzeit nicht so häufig gespielt wird. Zeitlebens hat er sich mit der Rolle des kleinen Menschen im Universum auseinandergesetzt. Bei seinem Flötensolostück „Ein Hauch von Unzeit“ hat er übrigens einst die Interpreten aufgefordert, neue Versionen herzustellen. Wir stellen gleich zwei neue Ensemblefassungen davon vor.


Klaus Huber, Ein Hauch von Unzeit IV (Fassung für Sopran, Klavier, Flöte, Klarinette und Orgel), Ensemble Neue Horizonte Bern, 1976

Mit den Uraufführungen von Duri Collenberg und Martin Derungs verweisen Sie auch auf Ihre Bündner Ursprünge…

Die beiden stehen für die jüngste und die älteste Generation von Bündner Komponisten, dies innerhalb der „Tuns contemporans“ (Zeitgenössische Töne), unserer Biennale, die wir vor zwei Jahren zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden gegründet haben. Wir fanden es nötig, dass sich die beiden professionellen Klangkörper des Kantons zusammenschliessen. Es soll die Schwellenangst gegenüber Neuer Musik nehmen. Der Finne Magnus Lindberg wird nächstes Mal als Composer-in-residence dabei sein.

Ladies only!

Für das Festival lancierten Sie auch einen Call for Scores… An wen richtete er sich?

An Komponistinnen jeden Alters aus aller Welt. Das Motto lautet: “Ladies only!”. Es sind 126 Partituren eingetroffen, von denen wir drei bei der Biennale aufführen. Aus diesem Riesenfundus werde ich aber sicher noch das eine oder andere in einer künftigen Saison berücksichtigen.
Interview: Thomas Meyer 

Ensemble ö!-Verbeugung

Concert spezial launch neo.mx3 &Ensemble ö!. 11. Oktober 2020:
Stephanie Hänsler: Im Begriffe, Alfred Knüsel: Mischzonen, Asia Ahmetjanova: La voix, David Sontòn Caflisch: aqua micans (danach als Video auf neo.mx3 und rtr.ch/musica).

Ensemble ö!: Saison 20/21
Tuns contemporans, Biennale für Neue Musik Chur: 9.-11. April 2021

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 11.11.20.: ö! Ensemble für neue musik, Redaktion Florian Hauser

Stephanie Haensler, Asia AhmetjanovaMagnus Lindberg, Tristan MurailVladimir Tarnopolski, Gwyn Pritchard, Klaus LangMarc-André DalbavieAsia Ahmetjanova

Neo-profiles: Ensemble ö!, David Sontòn CaflischKlaus Huber, Stephanie Hänsler, Martin Derungs, Roland Moser, Alfred Knüsel

Der Tausendsassa der Neuen Musik

Heinz Holliger zum 80. ist das nächste Konzert der Basel Sinfonietta gewidmet. Bei dieser Gelegenheit wird die neue SRG-Plattform neo.mx3.ch für die Deutsche Schweiz lanciert.

Heinz Holliger © Daniel Vass

Thomas Meyer
„Tausendsassa“ ist das dritte Konzert dieser Saison überschrieben, das die Basel Sinfonietta unter der Leitung von Peter Rundel vorstellt. Mit dem Titel gemeint ist jener Schweizer Komponist, Oboist, Dirigent, Pianist u.a., der seit über sechs Jahrzehnten massgeblich am Glanz helvetischen Musikschaffens beteiligt ist: Heinz Holliger. Es kommt mir ein bisschen überflüssig hervor, hier nochmals all die Verdienste dieser Musikerpersönlichkeit aufzuzählen, die er sich dabei erworben hat, angefangen von seinen vorzüglichen Interpretationen über seinen instrumentalen Erfindungsreichtum (die Oboe klingt nach Holliger anders als früher) bis hin zu seinen Kompositionen, ganz abgesehen von seiner Begeisterung für seine KollegInnen und für die Literatur. Der Platz würde ohnehin nicht reichen.

Vielmehr möchte ich – das als persönliche Reminiszenz – den unbedingten, glühenden Furor hervorheben, mit der sich dieser Vollblutmusiker engagiert. Begegnet bin ich ihm erstmals, als ich vor vielen Jahrzehnten seinen Siebengesang hörte. Vom ersten Ton der Oboe weg bleibt man durchdrungen von dieser Musik, die sich in all den Jahrzehnten zwar deutlich gewandelt, dabei aber nichts von ihrer Intensität verloren hat. 


Heinz Holliger, (S)irato, Monodie für grosses Orchester (1992), Basel Sinfonietta Musicaltheater Basel 2020

Nach seinem 80. Geburtstag am vergangenen 21. Mai ist ihm vielerorts gehuldigt worden. Er hat es angenommen – und sich bei der Gelegenheit weiter für die Musik eingesetzt. Die Musik-Akademie Basel, wo er allerdings nie studierte oder fest unterrichtete, hat so derzeit einen Fokus auf Holliger gesetzt. Bis 9. März noch sind zahlreiche Veranstaltungen angesagt. In der Vera Oeri-Bibliothek ist zudem eine höchst informative Ausstellung über den Musiker zu sehen.

Der komponierende Interpret

Und nun erscheint seine Musik auch bei der Basel Sinfonietta, gleich in mehreren Facetten. Da ist zum einen der Komponist mit seinem Orchesterstück (S)irató von 1992. Da ist aber auch der komponierende Interpret in den beiden Liszt-Transkriptionen, bei denen Holliger nicht einfach späte Klavierstücke orchestriert, sondern sie gleichsam ins Orchester weiterkomponiert hat. Es sei der „Versuch, die beiden wie erratische Blöcke, aber auch wie Wegweiser ins Unbekannte in der Musiklandschaft des späten 19. Jahrhunderts stehenden Enigmen des alten Liszt „hinüber zu schieben“ (zu transkribieren) in meine eigene Art zu sprechen, zu denken, – die Stücke aus meinem Unterbewusstsein wieder heraufzuholen…“

Heinz Holliger © Priska Ketterer / Lucerne Festival
Heinz Holliger © Priska Ketterer/ Lucerne Festival

Schliesslich setzte sich Holliger ja zeitlebens für die Musik seiner KollegInnen ein, gab Aufträge für neue Oboenstücke oder dirigierte ihre Stücke.
So ist hier das Orchesterwerk Tenebrae des 2017 verstorbenen Klaus Huber zu hören.


Klaus Huber, Tenebrae für grosses Orchester (1966/67), Basel Sinfonietta, Musicaltheater Basel 2020

Ausserdem erklingt ein ganz junges Werk. Die Schweizer Erstaufführung des deutschen Komponisten, Pianisten und Sänger Steffen Wick: Autobiography, ein Auftragswerk der Basel Sinfonietta, beschreibt jenen Moment, in dem ein ganzes Leben kondensiert an einem vorbeigleitet.

Steffen Wick, Autobiography, UA 2020 Basel Sinfonietta

Deutschschweizer Lancierung neo.mx3

Vorgestellt wird bei dieser so günstigen Gelegenheit schliesslich auch diese neue gesamthelvetische Plattform für zeitgenössisches Schweizer Musikschaffen, die die SRG im Sommer 2019 als Pilotprojekt lanciert hat: neo.mx3.ch.
Sie bietet einen Einblick insbesondere ins aktuelle komponierte wie improvisierte Musikschaffen hierzulande. Aber auch internationale Ereignisse mit Schweizbezug werden reflektiert wie kürzlich die Uraufführung der neuen Oper „Orlando“ von Olga Neuwirth in Wien mit Beteiligung des Schweizer Perkussions-Solisten Lucas Niggli.

Es ist ein Ort der Vorschauen, Porträts und Debatten, aber auch der Diskussionen in dem von Redaktorin Gabrielle Weber betreuten neo-blog. Zudem können sich Musikschaffende, Ensembles und Kulturinstitutionen hier selbst präsentieren, in Ton, Video, Bild und Text.
Endlich – muss man sagen, denn neo.mx3.ch schliesst eine lange klaffende Lücke im Schweizer Musikleben.

Angesagt ist nun also die offizielle Deutschschweizer Eröffnung: Im Rahmen des Konzerts stellen wir neo.mx3 mit einem kurzen Surprise-Talk erstmals einem Publikum in der deutschen Schweiz vor – und in der Pause gibt es eine weitere kleine Surprise..
Thomas Meyer

Über Ihre Kommentare auf dem neoblog zu Text, Konzert, neo.mx3-Launch oder auch zu den Heinz Holliger-Sendungen auf SRF 2 Kultur freuen wir uns!

2.2.2020, 19h, 3. Abo-Konzert Basel Sinfonietta, Musicaltheater Basel, Leitung: Peter Rundel
18:15h Einführung: Florian Hauser im Gespräch mit Heinz Holliger

Programm:
Heinz Holliger, Zwei Liszt-Transkriptionen (1986)
Klaus Huber, Tenebrae (1966/67)
Stephen Wick, Autobiography (2017, CH-Erstaufführung)
Heinz Holliger, (S)irató (1992)

Lancierung neo.mx3: Nach der Pause: Surprise-Talk:
Florian Hauser im Gespräch mit:
Barbara Gysi, Leiterin Radios & Musik SRF Kultur
Gabrielle Weber, Redaktorin / Kuratorin neo.mx3
Katharina Rosenberger, Komponistin

Basel Sinfonietta, Heinz Holligersonic space Basel / FHNWMondrian Ensemble, Klaus HuberSteffen Wick

SRF 2 Kultur
:
Kultur-Aktualität, 21.6.2019: Neue Schweizer Plattform für zeitgenössische Musik

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 15.1.2020, 20h: Heinz Holliger und die Literatur
Neue Musik im Konzert, Mittwoch, 15.1.2020, 21h: Portraitkonzert Heinz Holliger
Musikmagazin mit Moritz Weber, Aktuell, 1./2.2.2020

neo-profiles
: Heinz Holliger, Basel Sinfonietta, Klaus Huber, Mondrian Ensemble, Katharina Rosenberger