Der Komponist Jessie Cox: Mit Musik durch die Planeten reisen

Jessie Cox ist vieles: Drummer und Komponist, Dozent an der Harvard University und Schweizer mit Wurzeln in Trinidad und Tobago. In seiner Musik und Forschung bezieht er sich auf den Afrofuturismus und reist durch irdische und kosmische Räume. Anfang Februar 2025 erscheint sein erstes Buch.

Friedemann Dupelius
„Space is the Place“ verkündete Sun Ra 1973 auf seinem gleichnamigen Album. Der afroamerikanische Komponist und Bandleader träumte nicht nur vom All als imaginäres Ziel – es war für ihn auch eine Metapher für eine neue und fortschrittliche Welt, in der es Schwarzen Menschen besser geht als auf der Erde. Jessie Cox nimmt Sun Ra beim Wort: Sein Stück Enter the Impossible Cosmos führt durch ein musikalisches Weltall. Er entwickelte es im Jahr 2022 für das Sun Ra Arkestra, das auch über 30 Jahre nach dem Tod seines Gründers fortbesteht.

 

Jessie Cox wuchs im Schweizerischen Biel/Bienne auf und lebt mittlerweile in Boston (USA) / © Adrien H. Tillmann

 

Anstelle von Venus und Saturn tragen die Planeten in Cox’ Kosmos Namen wie KB, RT oder LBD-Moon und statt einer Rakete ist es eine virtuelle Welt in der Gaming-Plattform „Unity“, mit der die Reise stattfindet. Sie ist zugleich der visuelle Score der Musik. Idealerweise sieht auch das Publikum diese Welt während der Aufführung des Stücks auf einem Screen, wenn sich die Musiker:innen durch das virtuelle All bewegen und dort verschiedene sogenannte „Adventures“ erleben.

 

Der musikalische Raum der Planeten

Enter the Impossible Cosmos hat Elemente von einem Rollenspiel: Die Planeten haben verschiedene Eigenschaften – festgelegt sind etwa ihre Schwerkraft, ihre Atmosphäre (z.B. gasförmig), ihre Entfernung zur Sonne und die möglichen Lebensformen auf ihnen (z.B. „sound-based life“). Das soll die Musiker:innen dazu animieren, sich eigene Klänge vorzustellen, die zu den Planeten passen, auf denen sie sich gerade während ihrer Reise im Stück befinden. Musikalische Orientierung geben bestimmte Tonhöhen-Bereiche und Klangfarben, die den Planeten zugeordnet sind. „Die Planeten sind Metaphern für musikalische Räume“, erklärt Jessie Cox. „Es geht darum, durch Klänge einen Raum in der Vorstellung zu kreieren. Die Imagination anderer Welten ist zentral im Afrofuturismus – und wenn es nur eine kleine, bessere Welt ist, die wir in der Musik schaffen können.“

 

Eine Aufführung von „Enter the Impossible Cosmos“ mit einem Ensemble des KASK & Konservatorium Gent von 2022

 

Das tun die Musiker:innen, indem sie einen „Character“ für sich auswählen, also in eine bestimmte Rolle schlüpfen. Jeder Character hat verschiedene Fähigkeiten, wie man sich im Kosmos bewegen und mit anderen interagieren kann: „Es geht um Beziehungen, um Encounters – ich mag dieses Wort mit diesem ScFi-Unterton“, sagt Cox. Die Adventures schließlich sind Anweisungen, sich in dem imaginierten All zu bewegen, die Position oder gar den Planeten (also die Klangwelt) zu wechseln. Keine Aufführung von Enter the Impossible Cosmos ist wie die andere, jede ist eine Reise ins Ungewisse. Angetreten werden kann sie mit beliebig großen und besetzten Ensembles.

Den weißen Raum krümmen

Auch Jessie Cox’ Komposition Black/blackness – After Mantra(s) für Klavier solo basiert auf demselben Prinzip, der selben Game World. Entstanden ist es in einem „Encounter“ mit der Thurgauer Pianistin Simone Keller und findet sich auf ihrem Album Hidden Heartache, das sich marginalisierten Komponist:innen der letzten 100 Jahre widmet. In diesem Stück ist einprogrammiert, dass sich die Planeten verändern, je nachdem wie oft man zu ihnen gereist ist. Die Pianistin ist mit „Sense Organs“ ausgestattet – einer speziellen Reihe von Methoden, das Klavier zu spielen.

 

„Black/blackness – After Mantra(s)“ erschien 2024 auf Simone Kellers Album „Hidden Heartache“

 

Bevor die Reise durch die Planeten beginnt, spielt Simone Keller am Anfang von Black/blackness – After Mantra(s) eine Tonleiter – gefühlt endlos schreitet sie nach unten, dann doch nach oben, und plötzlich ist da ein zu großes Intervall. Es wird klar: Der wohltemperierte Raum der weißen Tasten, die in immer gleichem Abstand zueinander angeordnet sind, wird gekrümmt und aufgebrochen. Für Jessie Cox ist das auch eine Anspielung auf ein akustisches Phänomen: „Im Weißen Rauschen sind alle Frequenzen zu gleichen Anteilen enthalten. Als Teil der Sound Art ist das White Noise heute etabliert und markiert das Weiße als eine bestimmte, normative Kondition des Daseins. Ich aber möchte das aufbrechen. Ich mag, dass der Begriff des Rauschens im Deutschen selbst eine Ambiguität mit sich bringt.“ Jessie Cox geht es darum, Räume zu öffnen, in denen Widersinniges stattfinden kann – und mit diesen Räumen auch unsere Beziehung zu ihnen, zur Umwelt und zum Leben überhaupt zu reflektieren. „Das bedeutet auch über Ausbeutung, Kolonialismus und Anti-Blackness nachzudenken – aber auch, positiver: über Blackness, Kreolität, Utopien und Solidarität!“

 

Jessie Cox’ Buch “Sounds of Black Switzerland” erscheint im Februar 2025 bei Duke University Press

 

Jessie Cox’ Forschungen und Gedanken der letzten Jahre sind nun in einem Buch gemündet: Anfang Februar 2025 erscheint mit Sounds of Black Switzerland ein Novum – das erste Buch, das sich dezidiert Schwarzem Musikleben in der Schweiz widmet. „Die Begriffe ‘Black Switzerland oder Afro Swiss’ waren während des Schreibens in kaum einer Publikation auffindbar. Ich möchte einen Diskurs öffnen, eine Sprache finden, wo es noch keine gibt. Musik kann eine Methode dafür sein.“ Quer durch die Genres, von neuer Musik über Rap und Elektronik bis zum Pop, stellt Cox Musiker:innen und Stücke vor und diskutiert an ihnen „Black Life“ in der Schweiz. Nicht zuletzt möchte Jessie Cox – mit dem Buch und mit seiner Musik – zu neuen Weisen des Hörens anregen. Es gibt einen weiten, noch unbekannten Space, den wir mit unseren Ohren erkunden können.
Friedemann Dupelius

 

Website Jessie Cox
Webseite Sun Ra Arkestra
Die Virtuelle Game World von „Enter the Impossible Cosmos“
Simone Keller: Hidden Heartache auf Bandcamp
Buch: Sounds of Black Switzerland (erscheint am 11.02.2025 bei Duke University Press)

Termine:
18.1.2025Uraufführung neues Stück mit dem Ictus Ensemble – Hellerau, Dresden
2.2.2025Uraufführung Black/blackness mit Simone Keller – Sonic Matter Festival Zürich
14.3.2025Uraufführung neues Stück mit Eklekto – Geneva Percussion Center

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Neo-Profile:
Jessie CoxSimone Keller

Klangkunst und Musik von Martina Lussi

Die Luzernerin Martina Lussi hat Kunst studiert. Über das Hören kam sie dazu, selbst Klangkunst und Musik zu produzieren. Mit Mikrofonen und Audiorekorder bewegt sie sich durch Natur und Alltag und geht mit ihren Eindrücken zurück ins Studio. Dort verdichtet sie ihre Hörerlebnisse in Installationen, Performances und Studioalben, aber auch in Fieldrecordings und Soundwalks.

Friedemann Dupelius
Am Anfang unseres Zoom-Gesprächs gesteht Martina Lussi ein, dass sie sich etwas unsortiert fühlt. Sie arbeitet gerade viel in einer Kunst-Bibliothek, so fehle momentan die Zeit, die für sie so wichtig ist: Zum Hören, sich auf Klänge einzulassen. „Hören ist etwas sehr Langsames. Man kann nicht einfach in etwas hineinhören – man muss von vorne beginnen und sich darin absorbieren, sonst verliert man den Zusammenhang. Wer hat denn heute noch wirklich Zeit zu hören?“

Martina Lussi © Calypso Mahieu

Um sich auf unsere Unterhaltung einzustimmen, hat sie an diesem Morgen ihre Routine-Route am Vierwaldstätter See zu einem Soundwalk gemacht – zu einem Spaziergang also, bei dem man aktiv auf die Umgebung hört. Sie liest mir ihr Hör-Protokoll wie eine Einkaufsliste vor: „Rollkoffer, Gespräche, vorbeirennende Joggerin, meine Jacke, Atmen eines Hundes, Schiffsmasten, ein Mensch ahmt eine Ente nach…“ Wir merken beide, dass wir uns zwar die einzelnen Geräusche vorstellen können, dass solch einer Beschreibung aber eines abgeht: Die Räumlichkeit und Gleichzeitigkeit der Szenerie. „Meine Musik lebt davon, dass sich viele unterschiedliche Geräusche miteinander verbinden und ineinander fließen. Sie ist wie ein Stream, in dem Klänge plötzlich ganz nahe sind, um sich dann wieder in etwas aufzulösen.“

Frösche oder Holz?
Ende 2019 war Martina Lussi auf einer Residency im brasilianischen Regenwald und konnte dort in eine unbekannte Klangwelt eintauchen. „Manche Sounds waren beunruhigend, weil ich sie nicht kannte, vor allem nachts. Und es gab einen Frosch, der wie Holz klingt – das musste mir erst jemand erklären.“ Ihre Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk basiert auf einem Hörspaziergang in dem gleichnamigen Ort.

Hören als gemeinsame Erfahrung: Martina Lussi und ihre Soundwalk-Gruppe im Regenwald von Brasilien, © Karina Duarte

Schritte einer Gruppe von Menschen knirschen auf unebenem Untergrund und geben den Rhythmus vor, über dem die Stimmen verschiedener Vögel zirpen. Allmählich steigt eine Synthesizer-Klangfläche wie Nebelschwaden aus der Geräuschkulisse des Regenwaldes und geht über in sanften tropischen Regen, bis irgendwann die Frösche klappern. Es geht Martina Lussi nicht darum, die Umwelt wiederzugeben, wie sie scheinbar real klingt – sie fügt künstliche Klänge hinzu und erzeugt so neue Klangräume, wie traumhafte Erinnerungen. Auch den Wind, der manchmal in den Audiorekorder pustet, hat sie nicht herausgeschnitten. Manche Fieldrecording-Purist:innen würden das für eine schlechte Aufnahme halten. Martina Lussi nicht.


Die Komposition Serrinha Do Alambari Soundwalk erschien 2020 auf Vinyl beim Label Ōtium, zusammen mit einem Stück von Loïse Bulot.

Jacke oder Vögel?
Im Gegenteil: Immer wieder lässt sie in ihren Arbeiten ungewollte Nebengeräusche mit in die Kompositionen einfließen. In ihrem Stück The Listener werden diese sogar zum einzigen Klangmaterial. Es besteht ausschließlich aus den Geräuschen von Jacken. Die gerieten in Martina Lussis Fokus, als sie im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Vogelklängen Aufnahmen in der Natur machte: „Man stellt sich das so idyllisch vor, aber frühmorgens ist es oft so kalt, dass ich friere und mich ständig bewegen muss. Und in einer dicken Jacke eingepackt, klingt diese eben mit.“ Ihr fiel auf, dass diese Klänge oft selbst wie die Stimmen oder auch die Flügelschläge von Vögeln anmuteten. Sie nahm vier Jacken, improvisierte mit jeder für zehn Minuten und erstellte daraus eine Vierkanal-Installation und eine Komposition.


Das Stück The Listener ist Teil der Compilation Synthetic Bird Music und 2023 auf dem Label mappa als Kassette erschienen

Die 4-Kanal-Klanginstallation „The Listener“ wurde 2022 im Kunstraum sic! Elephanthouse in Luzern gezeigt, © Andri Stadler

Martina Lussi schärft ihre Ohren nicht bewusst mit Hörübungen, bevor sie sich ins Feld begibt: „Das passiert ganz beiläufig. Wenn ich in den Wald gehe, rieche ich die Öle der Bäume, ich sehe nicht weit, da komme ich automatisch in einen aufmerksamen Zustand, auf den ich mich gar nicht vorbereiten muss.“ So eindringlich, wie sie Jahre später noch vom brasilianischen Regenwald erzählt, wird klar: Hören geht über den Moment hinaus. Es erzeugt Erinnerungen, die lange nachwirken und von denen man auch in unruhigeren Zeiten zehren kann.
Friedemann Dupelius

Portrait Martina Lussi © Johanna Saxen

Martina LussiMartina Lussi auf BandcampSerrinha Do Alambari (Vinyl)Forschungsprojekt „Birdscapes“Kunstraum sic! Elephanthouse in LuzernCompilation: „Synthetic Bird Music“

Kommende Veranstaltungen:
18.05.2024 – Konzert in Tbilisi (Georgien), Left Bank
24.05.2024 – Moa Espa, Genf (Soundwalk)
18.06., 19:30 Uhr – Dampfzentrale Bern (UA Proximity mit dem Ensemble Proton, + Offene Probe am 17.06.)
23.06., 17 Uhr – Postremise Chur

neo-Profil: Martina Lussi