Uraufführung in 100 Jahren?

„Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen“ heißt ein Projekt zum 100. Geburtstag SUISA. 40 Schweizer Musikerinnen und Musiker sollten ihre Ideen zu einer Musik notieren, die erst in hundert Jahren uraufgeführt werden soll: Ein Gruß aus der Gegenwart für das Jahr 2123 zum hoffentlich 200. Geburtstag der SUISA. Am 16. April 2024 wurde das Projekt im Yehudi Menuhin Forum in Bern vorgestellt. Bettina Mittelstraß hat sich unter beteiligten Musikerinnen und Musikern umgehört.

Die Komposition des HYPER DUOs trägt als Titel die Anzahl Sekunden die von Jetzt aus bis 2123 vergehen – 3 406 699 560, hier eine Aufnahme des HYPER DUOs an einer Vinylséance am 21.11.2020 © 2020 Pablo Fernandez.

 

Bettina Mittelstrass
Helena Winkelman, das HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann oder Nik Bärtsch – das sind nur sieben von insgesamt 40 Schweizer Musikerinnen und Musikern, deren „Zukunftsmusik“ im April 2024 in einer Archivbox landete, ohne zuvor zu Gehör zu kommen. Hermetisch verschlossen wird dieses Archiv für 100 Jahre von der eidgenössischen Nationalphonothek in Lugano beaufsichtigt und im Eingangsbereich der «Città della Musica» ausgestellt. Erst 2123 wird das Archiv hoffentlich wieder geöffnet, die Musik aus dem Dornröschenschlaf geweckt und für ein Publikum gespielt, das heute noch nicht einmal geboren ist.

Leo Hofmann beschreibt seine Zukunftsmusik in grafisch gestaltetem Text.

 

 

Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren?

Wie klingt die Schweiz in 100 Jahren? Eine erste Antwort könnte in der Archivbox schlummern. Leicht fielen die Antworten den 40 Befragten nicht. Skepsis herrschte vor. Welche Instrumente stehen in 100 Jahren überhaupt zur Verfügung? Gibt es noch westliche Notenschrift? Holzinstrumente? Oder hat der Klimawandel die Bäume dahingerafft? Man könne nicht wissen, ob man vor dem Hintergrund schwindender Ressourcen auf diesem Planeten „schlussendlich die Geige verbrennen muss, um nicht zu erfrieren, oder ob man dann die Darmseiten aufkochen muss, um nicht zu verhungern“, sagt der Schlagzeuger Fritz Hauser. Daher hat er seine Komposition in Morsezeichen hinterlegt – in der Hoffnung, dass diese archaischen Zeichen die Menschen der Zukunft zum rhythmischen Musizieren inspirieren, mit welcher Instrumentierung dann auch immer.

Fritz Hauser notiert seine Zukunftsmusik in reinem Morsecode. Hier sein Schraffur für Gong und Orchester, Basel Sinfonietta 2010, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Musik als Botschafterin des Zusammenspiels?

Bei aller Skepsis gegenüber dem, was in 100 Jahren Musik noch ausmacht oder überhaupt möglich macht – zwei gesellschaftliche Funktionen werden ihr wohl bleiben, meint die schweizerisch-niederländische Komponistin und Violinistin Helena Winkelmann: Musik als Botschafterin des Zusammenspiels und als Vermittlerin einer integrierenden guten Energie. Noch eine andere Sache bleibe menschlichen Gesellschaften wahrscheinlich erhalten, nämlich „dass die Menschen auch zukünftig Probleme mit Ihrem Zusammenleben haben werden.“

Helena Winkelmann hat daher die Anleitung zu einem „Musikrat“ der Zukunft in die Archivbox gelegt. Es ist die musikalische Variante eines tausende Jahre alten Konzepts, dem „Council of Chiefs“ indigener amerikanischer Gesellschaften. In einem Kreis übernehmen Musizierende unterschiedliche Funktionen – musikalisch wie gesellschaftlich. Es gibt zum Beispiel eine hinterfragende, eine erfinderische, eine bewahrende, eine warnende, eine erzählerische und eine entwickelnde Stimme. „Das ist dann auch die Magie von diesem ganzen Kreis, dass das, was uns wirklich weiterbringt, der Austausch von Perspektiven ist.“


Helena Winkelmann trägt zur Archivbox die Anleitung zu einem Musikrat der Zukunft bei. Auch in Geisterlieder, einem Zyklus über Gedichte in 18 europäischen Originalsprachen mit Begleitung verschiedener Instrumentalgruppen, befasst sich Helena Winkelmann mit der Überwindung von zeitlichen und regionalen Grenzen, UA 5.8.2023, Kirche Ernen, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Ein Raumschiff voller Perspektiven und Gegenwartskritik

„In diesem kleinen Raumschiff befindet sich im Grunde ein Querschnitt durch das momentane Schweizer Musikschaffen“, so beschreibt es der Musikethnologe und Kurator Johannes Rühl, Erfinder der Projekts. Neue Musik, elektronische Musik, Jazz, Pop und Volksmusik sind unter den 40 Kompositionsvorschlägen vertreten, aber auch Klanginstallationen und so verrückte Ideen wie eine Musik mit Pilzen, deren Aminosäuren man heute schon in Klänge umwandeln kann. Ein anderer Vorschlag nimmt das Geräusch von schmelzenden Gletschern auf und transportiert es in Form von DNA in eine Zukunft, in der es in den Schweizer Alpen vermutlich kein ewiges Eis mehr geben wird.

Das Geräusch von schmelzenden Gletschern transportiert Pablo Diserens in listening to glacial thaw in der Form von DNA in die Zukunft. © Clément Coudeyre.

 

Die meisten der eingereichten Vorschläge für die Archivbox wurden von einem skeptischen und gesellschaftskritischen Zeitgeist geprägt, bestätigt Johannes Rühl. Der Versuch, dem Zeitgeist zu entkommen, müsse verständlicherweise scheitern. „Wir kommen aus dem Jetzt offensichtlich nicht raus. Man hat zudem das Gefühl, dass heutzutage eine Dynamik in der Entwicklung ist, die es in der Vergangenheit so nicht gegeben hat.“ Ob das so stimmt? Wir werden 2123 nicht mehr da sein, um das zu überprüfen. Mögen die nach uns „unsere“ Zukunftsmusik spielen oder nicht.
Bettina Mittelstrass

 

Zukunftsmusik – dem Zeitgeist entkommen: 100 Jahre SUISA.
Die Idee stammt von Johannes Rühl, dem Ethnologen und Kurator von Musikprogrammen.
Città della Musica 

Sendung SRF Kultur:
Zukunftsmusik, Passage, 12.4.2014: Redaktorin Bettina Mittelstrass

Neoprofile:
Helena Winkelman, HYPER DUO, Joke Lanz, Martina Berther, Patrick Frank, Annette Schmucki, Fritz Hauser, Leo Hofmann, Nik Bärtsch, u.a.

Geteilte Aufmerksamkeit – Leo Hofmann und seine Hörräume

Friedemann Dupelius
„Mit welcher Maschine würdest du gerne mal essen gehen (Smartphones zählen nicht)?“ – Leo Hofmann überlegt und entscheidet sich für ein rollendes, selbstspielendes Klavier, auf dem er auch selbst mal spielen kann.
Die Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen, oder hipper formuliert: zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen, sind derzeit ein beliebtes Thema in Kunst und Diskurs, nicht zuletzt ausgelöst durch die neueste Hype-Welle um Künstliche Intelligenz. In ihrem Musiktheater-Stück All watched over by machines of loving grace behandeln der Komponist Leo Hofmann und der Regisseur Benjamin van Bebber diese Relationen in intimen Bühnen-Situationen. 1967 schrieb Richard Brautigan in seinem gleichnamigen Gedicht von einer „cybernetic meadow / where mammals and computers / live together in mutually / programming harmony“, also einer „kybernetische(n) Wiese, auf der Säugetiere und Computer in programmierter Harmonie zusammenleben“.

 

Leo Hofmann im Kunsthaus Langenthal

 

Die Utopie, die Brautigan beschreibt, entspringt der Hippie-Ära. Die Gegenbewegungen der 1960er-Jahre sahen in der aufkommenden Computertechnologie ein revolutionäres, humanistisches Potenzial für eine bessere Welt. Sogar die Gründungen der ersten Firmen im Silicon Valley lassen sich darauf zurückführen. Lang ist’s her.

Nach einer coronabedingten Film-Premiere von All watched over… im Jahr 2021 feierte das Stück im Mai seine Premiere in physischer Ko-Präsenz im Roxy Birsfelden. Im Juni findet sich der gemischte Chor nochmals für zwei Aufführungen im Berliner Ballhaus Ost zusammen.

 


Film: All watched over by machines of loving grace

 

Menschliche und nichtmenschliche Klangkörper

Wie die Technologien des 21. Jahrhunderts unser Zusammenleben verändern, davon handelt das Musiktheater All watched over…. Dabei geht es insbesondere um Klang. Wie lässt sich inmitten der omnipräsenten Dauerbeschallung verantwortungsvoll handeln? Wo entsteht Raum für Intimität? Und was ist das mit den Maschinen und uns? Der „extrem gemischte Chor“, den Hofmann und van Bebber für ein anderes Projekt gegründet hatten, stellt den menschlichen Part der Akteur:innen auf der Bühne. Extrem gemischt heißt, dass hier Profis und sogenannte Laien mit unterschiedlichsten Hintergründen singen. Hinzu kommen nichtmenschliche Klangkörper, etwa Lautsprecher. Hier zeigt sich ein Spezifikum der Arbeit Hofmanns und van Bebbers. „Ich bin elektronischer Komponist und denke vom Hörspiel und vom Lautsprecher aus“, sagt Leo Hofmann. „Wenn man mit fertiger Musik arbeitet, schafft das eine neue Freiheit auf der Bühne. Es stellt sich die Frage nach einer Ko-Präsenz in der Inszenierung.“

Dafür haben Hofmann und van Bebber für sich den Begriff der „Ergänzungshandlung“ gefunden. Was machen befreite Körper, wenn die Musik aus dem Lautsprecher kommt und nicht erst performt werden muss? Die Performer:innen werden zu ko-präsenten Vermittler:innen der Musik und können durch kleine Handlungen und Gesten die Aufmerksamkeit auf bestimmte musikalische Details lenken. Einen anderen Begriff finden die Musiktheatermacher beim Prinzip des „Ritournelle“ von den Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Demnach eröffnet sich die Option, einen eigenen akustischen Handlungsraum zu schaffen, etwa indem der oder die Performer:in durch leises Summen oder Murmeln ein inneres Sicherheitgefühl etabliert, aus dem heraus der Chor in All watched over… improvisatorisch agieren kann. Leo Hofmann spricht gern von einem Hörraum, in den Performer:innen und Publikum gemeinsam eintreten und in dem dadurch eine „geteilte Aufmerksamkeit“ entstehe.

 


Leo Hofmann: Ritournelle

 

Gastfreundschaft im Musik-Haushalt

Einen solchen Hörraum richtet das Duo auch im Juli bei den Musikinstallationen in in Nürnberg ein. Das Festival findet erstmals statt und möchte den Raum als zentrales Erfahrungsmoment von Musik erforschen – in bewusster Abgrenzung zu Formen wie Klanginstallation, Musiktheater oder Konzert. Leo Hofmann interpretiert die Vorgabe so: „Darin liegt für mich ein Versprechen, dass durchgehend Musik von agierenden Körpern produziert wird, die aber instabil sind.“ Wobei, könnte nicht schon eine Bar mit Hintergrundbeschallung, mit dem richtigen Framing als Musikinstallation bezeichnet werden? Anyway, bei Hofmann und van Bebber erklingt die Musik live. Für die vier Festivaltage nisten sie sich in den kollektiven Räumlichkeiten der Nürnberger Band Borgo ein und haben verschiedene Musiker:innen zu Gast. „Wir möchten Gastfreundschaft auf verschiedenen Ebenen verhandeln. Es wird kein Werk, kein Totalraum, sondern wir leben, schlafen und essen für vier Tage in diesem Raum, machen ein Tagesprogramm und unsere Gast-Musiker:innen bringen mit, was sie schon haben“, erzählt Leo Hofmann. Die Composer-Performerin Francesca Fargion etwa komponiert Schlafsongs und arbeitet mit ästhetisierten Tagebüchern. Ein Besuch bei Hofmann/van Bebber soll wie ein Hausbesuch funktionieren. Im Gegensatz zu oft autark laufenden Klanginstallationen wird dieser musikalische Haushalt erst durch seine Bewohner:innen und Gäste klanglich aktiviert. Das Publikum ist selbstverständlich ebenso in diesen Raum geteilter Aufmerksamkeit eingeladen.

 


Leo Hofmann: Kapriole, erschienen 2022 bei Präsens Editionen

 

Intime Kapriolen

Eine andere Art inszenierter Hörräume verewigte Leo Hofmann im Frühjahr 2022 auf Vinyl-Platte. Zwar ist der Absolvent der Hochschule der Künste Bern in den letzten Jahren vor allem mit seinen Musiktheater-Produktionen in Erscheinung getreten, doch schon viel früher hatte er Hörspiele und Musik produziert. Kapriole ist dennoch sein erstes „richtiges“ Musik-Album und erscheint beim umtriebigen Luzerner Label Präsens Editionen. Verteilt auf acht Tracks zeigt Leo Hofmann seine Interpretation zeitgenössischer Soundpraktiken. In seinen Live-Stücken setzt er sich häufig mit haptischen Audiotechnologien aus dem Consumerbereich, also beispielsweise Bluetooth-Boxen, auseinander. Vor allem interessiert ihn deren ästhetische und soziale Bedeutung – welche Hör-, Schutz- und Privaträume eröffnet zeitgenössische Audiotechnologie?

 

„Eigentlich höre ich privat nur Renaissance-Musik und Shoegaze-Bands.“ (Foto © Robin Hinsch)

 

Die Musik auf Kapriole klingt intim und nah, auch durch den behutsamen Einsatz von Stimme, die mitunter so wirkt, als sänge oder spräche sie nur für die Hörer:in selbst. Hofmann erzählt, dass die größte Herausforderung für ihn war, Platz im Hörraum zu schaffen. „Ich höre oft, dass meine Musik sehr dicht ist und viel Aufmerksamkeit erfordert. Bei der Arbeit an dem Album habe ich immer wieder entdichtet, weggenommen und Klänge im Hintergrund gelassen. Aber man soll auch jederzeit hinhören und etwas entdecken können.“ Ob in geteilter Aufmerksamkeit vor der Musiktheaterbühne oder auf der inneren Bühne zwischen zwei Ohrstöpseln: In den Hörräumen von Leo Hofmann kann man sich aufgehoben fühlen.
Friedemann Dupelius

 

11.+12. Juni, Ballhaus Ost, Berlin: Leo Hofmann & Benjamin van Bebber: All watched over by machines of loving grace

Hofmann/van Bebber im Interview über All watched over…

7.-10. Juli: Musikinstallationen Nürnberg – Festival for Space Time Body Musics 

Leo HofmannBenjamin van BebberPräsens Editionen, Richard Brautigan, Gilles Deleuze, Félix Guattari

neo-Profil: Leo Hofmann