neue Hörsituationen für neue Musik

Gabrielle Weber
Lucerne Festival Forward
– der Name des Festivals klingt nach Zukunft und genau dafür steht auch das neue Luzerner Festival für zeitgenössische Musik. Vom 19. bis zum 21. November findet es zum ersten Mal statt. Das Lucerne Festival bekennt sich damit einmal mehr zur neuen und neusten Musik und schafft eine weitere Plattform für das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), das erst im Sommer gegründet wurde.

Zukunft – das heisst für das neue Festival: Diversität, Achtsamkeit im Umgang miteinander und mit der Umwelt, ein enger Dialog mit dem Publikum und die Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen unserer Zeit. Hinter dem Festival steht nicht ein einzelner Kopf, sondern ein 18köpfiges Kollektiv. Damit setzt das Festival neue Massstäbe: die Verantwortung für ein ganzes Festival gehört einem Kollektiv aus jungen Musiker:innen, Komponist:innen und Performer:innen.

Vor Beginn habe ich mit Stephen Menotti, Posaunist und Co-Kurator aus Basel, und mit dem Schweizer Komponisten Jessie Cox gesprochen. Von ihm kommt das neue Stück „Alongside a Chorus of Voices for ensemble” zur Uraufführung.

 

Portrait Jessie Cox ©Adrien-H.-Tillmann / zVg. Lucerne Festival Forward. Cox’ Musik befasst sich mit dem Universum und unserer Zukunft darin.

 

Hinter dem Festivalprogramm steckt ein aufwendiger kuratorischer Prozess. Im April 2021 hat es Ausschreibungen im mittlerweile auf 1300 Musiker:innen angewachsenen Academy-Netzwerk gegeben. Dieses besteht aus Musikerinnen und Musikern aus der ganzen Welt, die irgendeinmal die Festival Academy besucht, und im damaligen Academy- und später im Alumni-Orchester mitgespielt haben. Von ihnen wirken viele nun auch im LFCO  mit. Einerseits konnte man sich für ein ‘Leadership-Programm’, andererseits auf einen ‘Call for proposals’ mit eigenen Konzertprogrammen bewerben. Die vielen qualitätsvollen, sich ergänzenden Bewerbungen haben zur hohen Zahl von 18 Kurator:innen geführt, meint Menotti. Dass er nun als Co-Kurator und Contemporary Leader im Kurator:innenkollektiv dabei sein könne, darüber freue er sich sehr.

Das frisch gewählte Kollektiv hat als erstes gemeinsam die Konzertproposals begutachtet. Bestimmte ‘Leitmotive’ seien immer wieder aufgetaucht, erklärt Menotti. Die Zukunft unseres Planeten, unser Zusammenleben und unser Umgang mit der Natur, aber auch das Experimentieren mit Konzertformen und Hörsituationen. Diese Themen wurden zum roten Faden des Festivals und haben die Auswahl der finalen Konzertprogramme geprägt.

Einzigartig an der Arbeit im ungewöhnlich grossen Kurator:innenkollektiv sei gewesen, dass die Mitwirkenden aus ganz unterschiedlichen Ecken der Welt stammten, zum Beispiel aus den USA, aus Asien oder Kanada, und ganz unterschiedliche Perspektiven einbrachten. So hätten alle voneinander profitiert und es sei ein richtig “demokratisches Team” entstanden, sagt Menotti.

Das Festival startet am Freitagabend mit einem ‘Opening/Happening’ im KKL und auf dem Europaplatz mit „Workers Union”, ein offen zu interpretierendes Stück des vor kurzem verstorbenen niederländischen Komponisten Louis Andriessen von 1975 – eine Art politisch engagierte, rhythmische und explizit laute Strassenmusik zwischen Klassik und Jazz. Dass sich das Publikums davon körperlich mitreissen lässt, ist hier ungleich zum klassischen Konzertritual willkommen.

Leisere Töne schlagen die Musiker:innen des LFCO im Kunstmuseum im KKL an: dort improvisieren sie zu Arbeiten der Künstlerin Viviane Suter. Dabei interpretieren sie Suters mitten in den Raum gehängte Werke als visuelle Partituren. Dass es dem Forward-Festival wichtig ist, neue Hörsituationen zu schaffen, zeigt sich auch hier: das Publikum sitzt nicht auf Stühlen, sondern bewegt sich mit den Musiker:innen frei durch den Raum.

Intime Hörsituationen bilden die sogenannten one-to-one Performances der Geigerin, Performerin und Kuratorin Winnie Huang. In kurzen Soloauftritten für nur je eine Person passt sie ihre Performance, ihre Mimik und Körpersprache, ganz individuell ihrem Gegenüber an.

 

Konzerte mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra

 

Kirsten Milenko, Traho for orchestra, ein Kompositionsauftrag der Roche Young Composer Commission, wurde am Lucerne Festival 2021 durch das LFCO unter der Dirigentin Lin Liao im KKL Luzern uraufgeführt .

 

Vier Konzerte im Konzertsaal des KKL werden vom Ensemble des LFCO gegeben, unter der Leitung von Mariano Chiachiarini und Elena Schwarz. Die Konzerte tragen Titel wie „Water/Nature“, „From darkness to light“ oder “Rainfall“. Zu hören ist da eine Mischung von Werken junger und arrivierter Komponierender: gemeinsam ist den Stücken, dass sie den Raum einbeziehen, dass sich die Musiker:innen im Saal bewegen, oder das Publikum eingebunden wird. Ein Stück spielt gar im Dunkeln.

Für ein Lernen von der Natur steht “Water and Memory” von Annea Lockwood. Das Stück der neuseeländisch-amerikanischen Elektronikpionierin entwickelt sich aus einem mehrstimmigen Summen, lässt die im Raum verteilten Performer:innen mit persönlichen Erinnerungen zu Wort kommen – und bezieht am Ende auch das Publikum ins gemeinsame Summen mit ein.

 

Portrait Annea Lockwood © Nicole Tavenner / zVg. Lucerne Festival Forward. Lockwoods Musik sich in ihrem Musikschaffen mit der Balance zwischen Natur und Mensch, im Stück “Water and Memory” trägt Wasser persönliche Erinnerungen.

 

 

Space travelling

 

Zukunftsorientierung prägt das neue Stück von Jessie Cox. Der in Biel aufgewachsene Komponist und Perkussionist, studiert zur Zeit in New York und gilt als Geheimtipp. In seiner Musik befasst er sich mit nichts weniger als dem Universum und unserer Zukunft darin. Er bezeichnet seinen Ansatz als „Space-travelling“ und lehnt sich dabei an die Ästhetik des  Afrofuturismus an, wo es darum geht, visionäre Zukunftsräume zu schaffen, in denen Black lives dezidiert willkommen sind.

„Meine Musik lebt vom Austausch zwischen verschiedenen geographischen, kulturellen und zeitlichen Räumen“, sagt Cox. In seinem neuen Stück „Alongside a Chorus of Voices for ensemble”, verwendet Cox kleine Glocken. Sie repräsentierten einerseits einen stereotypen Klang der Schweiz und stehen andererseits für die afroamerikanische Geschichte: sie seien in den USA zu Zeiten der Sklaverei als Kontrollmechanismus zur Ortung von Sklaven durch Gutsherren eingesetzt worden. Diese Bedeutungsebenen verflechten sich.

 


Jessie Cox befasst sich bereits länger mit Glocken. Auch im Streichquartett conscious music spielen Glocken eine sich im Verlauf des Stücks verändernde Rolle – zuerst sind sie lokalisierbar, zum Ende freier Bestandteil der Musik.

 

Die Glocken werden im Verlauf des Stücks von den Musiker:innen ans Publikum weitergegeben und sollen Fragen anstossen, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen. Dabei geht es auch um eine Auseinandersetzung mit Rassismus in der Schweiz. «Die Musik ist ein geeigneter Ort um das zu verhandeln», sagt Cox.
Gabrielle Weber

Louis Andriessen, Annea Lockwood, Winnie Huang, Liza Lim, Kirsten MilenkoMariano Chiachiarini, Elena Schwarz

Lucerne Festival Forward: Freitag, 19., bis Sonntag, 21. November.

Erwähnte Konzerte:
Opening/Happening, Freitag, 19.11., 22h, Europlatz
Museum Concert, Samstag, 20.11., 16h, Kunstmuseum
Forward Concert 1, Samstag, 20.11.21, 19:30h: “Water/Nature
Forward Concert 2, Samstag, 20.11.21, 22h: “From Darkness to light

neo-blog-Lesende erhalten vergünstigte Karten für folgende Konzerte:
-Forward-Konzert 1: 20.11., 19.30h mit Werken von Annea Lockwood, George Lewis und Liza Lim unter Angabe des Codes PRO1M0AR
-Forward-Konzert 2: 20.11., 22.00h mit Werken von Pauline Oliveros, Luis Fernando Amaya, José-Luis Hurtado und Jessie Cox unter Angabe des Codes PROMA1KR.

 

Radiosendungen SRF 2 Kultur:
Kultur kompakt, Fr. 19.11.21, Redaktion Annelis Berger
MusikMagazin, Sa/So, 20./21.11.21, Café mit Winnie Huang, Redaktion Annelis Berger
Musik unserer Zeit, 1.12.21: Lucerne Festival Forward – neue Hörsituationen für neue Musik, Redaktion Gabrielle Weber

neoblogs:
Exzellenzorchester für neue MusikAutor Benjamin Herzog, online 26.8.2021

Lucerne Festival – Engagement für neue und neuste Musik, Autorin Gabrielle Weber, online 1.8.2021

neo-profiles:
Jessie Cox, Stephen Menotti, Lucerne Festival Contemporary, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), Lucerne Festival Academy

Unser Gedächtnis neigt dazu, sich an Extreme zu erinnern

Gabrielle Weber
100 Jahre Donaueschinger Musiktage – ein historisches Ereignis: 100 Jahre schon setzt sich die epochemachende Institution für Erhalt und Verbreitung der Gegenwartsmusik ein. Das wichtigste europäische Festival der musikalischen Moderne, Uraufführungsschmiede, Ort der Begegnung und der Debatte feiert das Jubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen unter Mitwirkung von langjährigen WeggefährtInnen vom 14. bis zum 17. Oktober.

Ein Ensemble, das mitfeiert, ist das junge, in der Schweiz basierte Ensemble Nikel. Yaron Deutsch, E-Gitarrist und Kopf von Nikel, war mit dem Ensemble und als Solist bereits mehrfach in Donaueschingen dabei. Zum Jubiläum führt Nikel neue Stücke von Rebecca Saunders und der jungen türkischen Komponistin Didem Coskunseven auf. Deutsch ist zudem Solist im neuen Stück von Stefan Prins mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg.

 

Portrait Ensemble Nikel 2016 © Markus Sepperer
Ensemble Nikel  2016, zVg. Ensemble Nikel

 

Gegründet 2006, tourt Nikel mittlerweile weltweit und blickt dieses Jahr auf sein fünfzehnjähriges Bestehen zurück. Ein ‚alternativer Kammermusikklang‘ aus einer Mischung von elektronischen und instrumentalen Klängen ist charakteristisch für das Ensemble. Die ungewöhnliche Besetzung, E-Gitarre, Klavier, Saxophon und Perkussion geht auf den allerersten Auftritt zurück. Das sich laufend erweiternde Repertoire besteht ausschliesslich aus Stücken, die für Nikel komponiert werden.

Mit Yaron Deutsch unterhielt ich mich per Zoom an einem Samstag frühmorgens, er im Hotel in Parma. Er sei ein Morgenmensch und bereits um 4:30h aufgestanden. Nach einem Auftritt am Festival für zeitgenössische Musik Traiettorie ging es weiter zu Proben nach Bern.

Wie fanden Sie mit der E-Gitarre zur zeitgenössischen klassischen Musik..?

2005 befand ich mich in einer Phase der Suche nach meinem eigenen musikalischen Weg. Mit der E-Gitarre war ich assimiliert in der Musik des Rock und Jazz, fühlte mich aber dort wie eine ‘Copy Cat’ einer amerikanischen Kultur, die nicht meine ist. Da stiess ich über ein Stück von Louis Andriessen: ‘Hout‘ (1991) für die Besetzung Saxophon, E-Gitarre, Percussion und Klavier. Es fühlte sich wie ein ‘Heureka’-Moment an. Das Stück mischt Musikgenres und -elemente unkompliziert. Ich fand darin eine Verbindung zu meinen europäischen Wurzeln und fühlte mich wie zuhause angekommen in der europäischen klassischen Musikavantgarde. Es gab mir eine Art Richtung vor, in welche Klangwelt ich gehen wollte.

 

Ensemble Nikel / Yaron Deutsch 2016, zVg. Ensemble Nikel

 

Wie kam’s zu Nikel? Wieso diese Besetzung?

Mit ‘Hout‘ gaben wir unser erstes Konzert in Tel Aviv. Die Instrumente des Stücks wurden zur festen Besetzung von Nikel. Nach wenigen Wechseln bilden wir nun seit ungefähr zehn Jahren die feste Stammformation: Brian Archinal an der Perkussion, Antoine Françoise, Klavier, Patrick Stadler, Saxofon, und ich mit der E-Gitarre. Wir inspirieren uns gegenseitig.

Woher stammt der Name Nikel?

Drei Punkte: Zuerst wollte ich keinen Namen der Musik assoziiert. Im Namen sollte zudem ‘Metall’ als eine unserer Klangfarben anklingen. Und zuletzt erinnert Nikel an die israelische Künstlerin Lea Nikel und ihre abstrakten farbintensiven Arbeiten. Sie war In den sechziger und siebziger Jahren in Paris und New York tätig und verstarb 2005 in Tel Aviv.

 

Es ist wie wenn Wassertropfen langsam zu einem Organismus zusammenfinden.

 

Wie kam es zum Standort Schweiz..?

Dass drei von vier Mitgliedern in der Schweiz sind, ergab sich von selbst. Ich war immer ein ‘Missionar’ für Musikschaffen ohne Nationalität, für ein Modell von Ensembles ohne eine nationale oder lokale Festlegung: es geht mir darum, mit den Musikern zusammenarbeiten, die ich am spannendsten finde, die mich inspirieren, egal wo sie leben. So kam es bspw. zu Patrick Stadler in Basel. Unsere Vision ist aber eine internationale.
Es ist wie wenn Wassertropfen langsam zu einem Organismus zusammenfinden.

Ausgehend von einer Einladung für ein Konzert finden wir zusammen. Unsere Aufgabe als Künstler ist es, so faszinierend, interessant und auch gut zu sein, um einen Bedarf zu schaffen. Es geht dabei um Passion: solange wir passioniert sind, existieren wir als Gruppe.

 


Anne Cleare, the square of yellow light that is your window (excerpt), UA 2014 Ensemble Nikel

 

Wie kam’s zum ersten Auftritt in Donaueschingen?

2010 traten wir an den Darmstädter Ferienkursen auf. Der damalige neue künstlerische Leiter Thomas Schäfer wollte in seiner ersten Ausgabe neue Stimmen präsentieren und lud uns ein. Der Auftritt hatte ein grosses Echo. Kurz danach rief uns Armin Köhler, der damalige Intendant von Donaueschingen an, und lud uns zwei Jahre später ans Festival ein. 2012 waren wir erstmals dort.

Was bewirkte dieser Auftritt für Nikel?

Der Auftritt vor grossem Publikum mit internationaler Resonanz war das eine. Donaueschingen ermöglichte uns aber auch, vier Uraufführungen von vier substanziellen Komponisten zu spielen, die ihre Stücke extra für unsere Besetzung schrieben. Wir hatten nicht die finanziellen Möglichkeiten, solche Stücke selbst in Auftrag zu geben. Diese völlig unterschiedlichen Stücke spielten wir seither in der ganzen Welt.

Und dieser Mechanismus geht seither weiter: wenn wir eingeladen werden, geben die Festivals Stücke für uns in Auftrag. Diese behalten wir danach im Repertoire. Bei der Auswahl bringen wir uns immer ein und schlagen KomponistInnen vor, von denen wir begeistert sind. In unseren Auftritten ist dann diese Begeisterung spürbar.

Sie führen an der Jubiläumsausgabe eine neues Stück von Rebecca Saunders auf, zusammen mit der Kontra-Altistin Noa Frenkel, und ein weiteres der jungen türkischen Komponistin Didem Coskunseven: wie kam es zu dieser Stückauswahl?

Rebecca Saunders wollte schon lange mit uns zusammenarbeiten, da ich in anderen Kontexten Stücke von ihr interpretierte, bspw. mit dem Klangforum Wien. Es kam aber noch nie dazu. Nun hatten wir Glück. Ein grosses Auftragsstück konnte aufgrund der Pandemie nicht realisiert werden und Rebecca schlug als Alternative vor, ein Stück mit uns und einer Sängerin zu erarbeiten. Die Komponistin Didem Coskunseven ergab sich dazu im Gespräch mit Björn Gottstein.

Die Auftritte von Nikel sind bekannt für einen oft radikal lauten Elektroniksound – Wie arbeitet Nikel mit der Stimme zusammen..?

Zuerst muss ich das Prädikat ‘lautes’ Ensemble zurückweisen: Wir spielen auch viele subtile Stücke, stille, taktile Musik. Wahrscheinlich führt unsere virtuose Qualität zum Eindruck: “die Musiker können spielen, dass die Wände wackeln..”. (lacht..)

Ein maskuliner Power, das ist nicht unser Ding. Unser Gedächtnis neigt dazu, sich an Extreme zu erinnern. Aber es geschieht so viel ausserhalb der Extreme, eigentlich das Meiste..

Nach der ersten Probenwoche betonte Rebecca die gute Balance zwischen der Sängerin und uns. Wir ‘dienen’ ihrer Musik: wir geben der Sängerin einen Raum und fanden einen spezifischen Klang für das Stück. Wir sind wie ein ‘elektrifiziertes Streichquartett’, ein Organismus der sehr gut zusammen funktioniert und dessen Klang sich sehr gut mischt. Wir können ganz fein abstufen zwischen laut und leise.

 


Stefan Prins, Fremdkoerper 2 (excerpt), UA 2010 Ensemble Nikel

 

Gibt es einen spezifischen Nikel-Sound?

Wir spielen immer wieder Stücke die eklektisch sind, die Elemente mischen, aber nie zufällig oder unnötig. Eine klare musikalische, nicht eindimensionale Linie verbindet alles. Nikel-Konzerte klingen immer anders. In diesem Konzert sind zwei völlig verschiedene Seiten, zwei völlig unterschiedliche Klangfarben zu hören.

Und wie klingt die Klangfarbe in Didem Coskunsevens Stück ?

Ihr Stil lässt sich nicht in einem Satz zusammenzufassen, das würde ihr nicht gerecht. Man kann sicher sagen: sie arbeitet mit minimalistischem Material, sehr farbenreich und expressiv, auf subtile Weise, nicht laut. Durch Kontinuität und Minimalismus kommen so Variationen zum Tragen.

 

Didem Coskunseven, Day was departing, UA Manifeste 2021, Ircam / Paris

 

Gehen wir nochmals etwas zurück: war der erste Auftritt in Donaueschingen für Nikel  ein Karrierestart?

Donaueschingen war nicht der Start, aber es war ein entscheidender ‘boost’, ein Schub: die Vertrautheit mit der internationalen Szene, das war sehr wichtig für unser Wachstum.

 

Musikmachen ist vergleichbar mit Sport. Wir wollen immer das Beste geben..

 

Nun sind Sie am 100Jahr-Jubiläum dabei: was bedeutet das für Nikel?

Da gibt’s zwei Antworten: ein Konzert ist ein Konzert. Musikmachen ist vergleichbar mit Sport. Wir wollen immer das Beste geben, egal wie gross oder klein der Rahmen ist.

Aber darüber hinaus: es ist für uns eine unglaubliche Ehre. Wir sind historisch bewusste Menschen und Musiker. Donaueschingen ist eine ‘ historische Plattform ‘, das am längsten existierende Neue Musik-Festival. Wir sind dankbar, dass unsere Arbeit so geschätzt wird, dass wir gefragt wurden, Teil dieses wichtigen Anlasses zu sein.
Interview: Gabrielle Weber

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Ensemble Nikel, Louis AndriessenThomas Schäfer, Armin KöhlerBjörn Gottstein, Didem Coskunseven, Stephen MenottiTrio Accanto

 

Uraufführungen Schweizer Musikschaffende @ Donaueschinger Musiktage 2021:
Donnerstag, 14.10., 20h: UA Beat Furrer, neues Werk für Orchester, SWR Symphonieorchester, Solist: Stephen Menotti, Posaune (CH)

15./16./1.10., 9:45h: Johannes Kreidler ‘Rhythms of history’ für Film, mit Alexandre Babel

Freitag, 15.10., 14h/17h: Trio Accanto, SWR Experimentalstudio

Samstag, 16.10., 16h: UA Daniel Ott, Donau Rauschen, Landschaftskomposition

Samstag, 16.10., 20h: Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Baldur Brönnimann

 

Auftritte Ensemble Nikel / Yaron Deutsch Donaueschingen:
Freitag, 15.10.2021, 20h: Soloauftritt, Uraufführung von Stefan Prins, Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter Stefan Volkov.

Sonntag, 17.10.2021, 11h: Ensemble Nikel und Noa Frenkel (Kontra-Alt), UA Rebecca Saunders und Didem Coskunseven


Weitere kommende Auftritte Ensemble Nikel:

November Music, s’Hertogenbosch:
12.11.21: Wiederholung Konzert Donaueschingen: UA Rebecca Saunders / Didem Coskunseven
WienModern:
14./27./28.11.21: Werke von Thomas Kessler, Klaus Lang, Hugues Dufourt, Leitung Jonathan Stockhammer

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Künste im Gespräch, 14.10.21, 9:00 Uhr: 100 Jahre Donaueschinger Musiktage, Redaktion Florian Hauser

Kultur Aktuell, 18.10.21, 8:15 Uhr: Redaktion Florian Hauser

Musik unserer Zeit, 3.11.21, 20 Uhr: 100 Jahre Donaueschinger Musiktage, Redaktion Florian Hauser

 

neo-Profiles:
Ensemble Nikel, Donaueschinger Musiktage, Rebecca Saunders, Beat Furrer, Alexandre Babel, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Daniel Ott, Johannes Kreidler, Marcus Weiss, Thomas Kessler, Jonathan Stockhammer

“Das Universum der Klänge ist unendlich”

Hier sollte zunächst ein rundum strahlendes Geburtstagsportrait zu 10 Jahren ensemble proton bern stehen. Dazu gehörten zahlreiche Veranstaltungshinweise zur Jubiläumssaison.

Mit Martin Bliggenstorfer, dem Managing director, führte Christian Fluri deshalb kurz nach dem Lockdown der ersten Pandemiewelle ein Gespräch. Zu diesem Zeitpunkt äusserte er sich voller Zuversicht und Tatendrang.

Jetzt, kurz vor der ursprünglich geplanten grossen Geburtstagsfeier am 16. November, stecken wir mitten in der zweiten Welle. Und sie trifft uns mit unerwarteter Heftigkeit.

Wie sich die neue Situation aufs ensemble proton bern und seine Jubiläumssaison auswirkt, besprach ich daher mit Bliggenstorfer nochmals. In einem zweiten Gespräch, direkt nach der Bekanntgabe der neuen Vorgaben des Bundesrates vom 18. Oktober. Seither ändern sich die Maßnahmen laufend weiter und die meisten Aufführungen sind faktisch unmöglich geworden.

Das ensemble proton bern steht damit im Beitrag auch stellvertretend für viele Ensembles, Musikschaffende und Veranstalter, die plötzlich mit Absagen, Verschiebungen und einer unplanbaren Zukunft konfrontiert sind.

ensemble proton bern: Gruppenportrait © Oliver Oettli


Christian Fluri
Das ensemble proton bern forscht mit grosser Passion seit zehn Jahren nach neuen Klängen, neuen Stücken und neuen Komponisten wie Komponistinnen. Es gehört international zu den gefragtesten Ensembles und wird oft an Festivals und zu Konzerten in- und ausserhalb Europas eingeladen.

Seit seiner Gründung 2010 hat das in der Dampfzentrale Bern domizilierte Ensemble in 128 Konzerten 273 Werke von 180 Komponist*innen gespielt, 175 davon waren Uraufführungen. Es trat vor grossem Publikum in der Mariinsky Concert Hall in St. Petersburg auf und tourte nebst weiteren Highlights an der Westküste der USA.

Während der ersten Coronawelle hat das Ensemble noch einigermaßen Glück gehabt, wie Managing Director, Oboist und Lupophonspieler Martin Bliggenstorfer im Gespräch sagt: “Gerade vor dem Lockdown konnten wir in der Dampfzentrale noch das Konzert protonwerk no. 9 spielen. Die Wiederholung im Gare du Nord Basel mussten wir aber bereits absagen.”

protonwerk, das ist ein Förderprogramm für junge Komponist*innen, denen das Ensemble Kompositionen in Auftrag gibt.


Adrian Nagel, Netzwerk, UA: protonwerk no.7 / ensemble proton bern 2017

“Unser auf Mai geplantes Programm terrible ten, ein Konzert mit Uraufführungen von Thomas Kessler (My lady soul) sowie Michael Pelzel und Stefan Wirth, konnten wir kurzfristig verschieben und bereits im September spielen. So ging zumindest nichts von unseren geplanten Programmen ganz verloren“ freut sich Bliggenstorfer.

Gemeinsames Musizieren vermisst

Den Wiedereinstieg ins Konzertleben nach dem Lockdown konnte das Ensemble kaum erwarten. terrible ten war dann auch etwas ganz Besonderes: erstmals wieder gemeinsam zu musizieren und das Musikmachen mit dem Publikum live zu teilen, sei für alle Beteiligten ein Erlebnis gewesen, meint Bliggentorfer.


Thomas Kessler, My lady soul, UA ensemble proton bern 2019

Auch wenn die Musiker*innen des Ensembles die Zeit des Lockdowns produktiv nutzen konnten. “Was uns gefehlt hat, war das gemeinsame Musizieren, der direkte Kontakt miteinander, die Proben mit den Konzerten vor Augen. Zugleich hatte es aber auch etwas Gutes, für ein paar Wochen Kopf und Körper etwas ausruhen zu lassen.”

Existenzangst musste das Ensemble bis zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise keine haben. “Wir mussten für ausgefallene Konzerte keine Subventionen und Unterstützungsbeiträge zurückgeben. So konnten wir unsere Honorare und die unserer Gäste auszahlen.” Bliggenstorfer ist sehr dankbar für die grosszügige Haltung der Geldgeber in der Schweiz.

“Das Universum der Klänge ist unendlich..”

Das ensemble proton bern  ist also  nach wie vor bestens aufgestellt und will sich stetig weiter entwickeln. Dies jedoch ohne seinen langjährigen Dirigenten Matthias Kuhn, der seit der Gründung dabei war. “Er will sich künstlerisch neu ausrichten.” Das versteht Bliggenstorfer, so wichtig Kuhn für den Aufbau des jungen Ensembles gewesen ist. Künftig arbeitet das Ensemble mit achtköpfiger Stammbesetzung und ohne festen Dirigenten. Kammermusikalische Projekte sollen so vorangetrieben werden, wie auch Konzerte und Auftritte mit grösseren Besetzungen und Gastdirigenten.

Ungebrochen ist die Leidenschaft für die Neue Musik in ihren unterschiedlichen Stilen und Ausrichtungen. Denn Scheuklappen hat das ensemble proton bern keine. Es zeigt mit seiner Spielfreude, wie lustvoll, lebendig und vital zeitgenössiche Musik ist. “Das Universum der Klänge und deren Kombinationsmöglichkeiten ist unendlich”, weiss Bliggenstorfer: “Es gibt ein Leben lang Neues zu entdecken”.


Verschiedene Komponisten click & faun, ensemble proton bern 2019

Auch seien die Klangmöglichkeiten der neuen Instrumente noch lange nicht ausgeschöpft: so die von Richard Haynes wiederentdeckte Klarinette d’amore, die von Martin Bliggenstorfer und Elise Jacoberger gespielten Doppelrohrblattinstrumente Lupophon und Kontraforte, auch Maximilian Hafts Strohgeige – oder die Vielfalt im Bereich der elektronischen Klangerzeugung. Das ensemble proton bern wird weiter forschen.
Christian Fluri

2. Gespräch am 21. Oktober 2020:
Gabrielle Weber
Trotz der wachsenden Unsicherheit und drohender Einschränkungen war Bliggenstorfer am 21. Oktober noch zuversichtlich, Konzerte so lange als möglich durchzuführen: “Kulturelle Veranstaltungen sollten nicht abgesagt werden, solange sie nicht verboten sind. Natürlich muss das Schutzkonzept perfekt umgesetzt sein. Das funktionierte bislang auch gut.”

Fest standen noch Auftritte als main act im Jubiläumsprogramm „5 Jahre Kultur-Kino Rex“ zusammen mit zwei Visual Artists. Da sollte der Komponist Ennio Morricone von einer unbekannten Seite beleuchtet werden. „Morricone kennt man ja landläufig als Filmmusikkomponisten – er war aber auch in der ‘Kunstmusik’ aktiv, u.a. als Trompeter der Gruppo di improvisazzione Nuova Consonanza, in den 60er/70er Jahren”.

Mit den neuen Berner Auflagen vom 23. Oktober – Kinos und Museen waren per sofort zu schliessen – mussten die Konzerte aber wenig später abgesagt werden.

“fette fête” – das Konzert zum 10 Jährigen Bestehen des Ensembles

Die “fette fête” war für den 16. November in Bern geplant: eine grosse Geburtstagsfeier mit Uraufführungen und Werken von Louis Andriessen, Christian Henking und Annette Schmucki. Ausserdem vergab das Ensemble einen Kompositionsauftrag an den jungen Schweizer Komponisten Tobias Krebs. “Wir freuen uns ausserordentlich darüber – er ist ein hervorragender junger Komponist, den wir von protonwerk kennen”.


Tobias Krebs, ambra, UA Duo Vers 2018

An einer Durchführung hielt Bliggenstorfer beim Gespräch noch fest, denn “solange es möglich ist, Kunst live erlebbar zu machen, wollen wir die Möglichkeit zu Konzertieren nicht aufgeben. Wir wollen verantwortungsvoll mit der Situation umgehen, indem wir das Schutzkonzept einhalten”.

Auf das Konzert muss nun leider – seit den neuesten Auflagen – doch ganz verzichtet werden (Stand 30.10.20). Es soll im Februar 2021 nachgeholt werden (tbc.)..

Eine weitere Planungsunsicherheit kommt für zukünftige Projekte mit Gästen aus dem Ausland hinzu: “Wenn sie nicht einreisen können, müssen wir nach Ersatz suchen.” Und geplante Auslandengagements fallen vorläufig aus. Für die Jubiläumssaison hatte das Ensemble Einladungen bspw. nach New York und Salzburg.

Was das alles finanziell bedeutet,  ist noch nicht abzuschätzen: “Momentan stehen wir finanziell immer noch gut da. Aber ungewiss sind die mittel- bis langfristigen Auswirkung der Krise auf die Förderlandschaft.”

Das ensemble proton bern zeigt sich weiterhin voller Tatendrang. Forscher- und Innovationsgeist sind ungebrochen, Spiel- und Entdeckungslust ebenso. Wie aber die langfristigen Folgen für Konzerte, und insbesondere die weitere internationale Positionierung, ist gerade nicht abzusehen.
Gabrielle Weber

 

ensemble proton bern Gruppenportrait © Oliver Oettli

 

Konzerte Jubiläumssaison 20/21 &aktuelle updates

30.Oktober: The dark side of Ennio Morricone, Kino Rex Bern: ABGESAGT

16. November: “fette fête” – 10Jahre proton, Dampfzentrale Bern: ABGESAGT: VERSCHIEBEDATUM 2. Februar 2021 (tbc)**
17. November, 20h, Konzert Gare du Nord Basel: protonwerk nr.9 (Wiederaufnahme)

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 28.10.20: Redaktion Florian Hauser, Gespräch zu My lady soul, mit Thomas Kessler, Martin Bliggenstorfer, Bettina Berger, Vera Schnider
Neue Musik im Konzert
, 28.10.20: My lady soul mit terrible ten, Konzertaufzeichnung vom 15.9.20, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.
Musikmagazin, 25.7.20: u.a. Richard Haynes, Redaktion Florian Hauser

**DATUM OFFEN: Neue Musik im Konzert: “fette fête”, Konzertaufzeichnung, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.

ensemble proton bern, Martin Bliggenstorfer, Matthias Kuhn, Richard HaynesHanspeter Kyburz, Louis Andriessen

neo-profiles: ensemble proton bern, Thomas Kessler, Michael Pelzel, Stefan Wirth, Christian Henking, Annette SchmuckiTobias KrebsTobias Krebs