Labyrinthische Spuren gegen fixe Systeme

Jaronas Scheurer
Die Münchener Biennale ist ein Festival für neues Musiktheater, das seit 2016 von Daniel Ott und Manos Tsangaris kuratiert wird. Die Uraufführungen des Festivals sprengen immer wieder die gewohnten Formate und führen das Publikum an überraschende Orte. So auch dieses Jahr vom 7. bis zum 19. Mai: zum Beispiel mit der Produktion
«s p u r e n» der jungen russischen Komponistin Polina Korobkova.

Ich treffe Polina Korobkova einen guten Monat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in einem gemütlichen Basler Café. Nach einem abgeschlossenen Kompositionsstudium in Moskau hat Korobkova in Zürich bei Isabel Mundry und in Basel bei Caspar Johannes Walter studiert. 2021 hat sie in Zürich ihren Master abgeschlossen und wohnt seit kurzem in Berlin. Weitere Studien betreibt sie nun bei Martin Schüttler in Stuttgart. Damit sind schon einige Fixpunkte für Korobkovas Schaffen abgesteckt: Ein waches, sensibles politisches Bewusstsein wie Mundry, ein Interesse für mikrotonale Klangwelten wie Walter und gründliches konzeptuelles Arbeiten wie Schüttler.

 

Die Komponistin Polina Korobkova, zVg. Polina Korobkova


Wendepunkt 24. Februar

Korobkova wirkt bei unserem Treffen erschüttert, jedoch gefasst ob der russischen Invasion in die Ukraine. Sie sei noch daran, die Geschehnisse zu verarbeiten und befinde sich noch im Schockzustand. Obwohl sie sich nicht mit Russland identifiziere, wird sie als gebürtige Russin unweigerlich damit in Verbindung gebracht. Für sie, die wie viele andere russischen Künstler:innen einerseits die russische Invasion vehement ablehnen und öffentlich kritisieren, andererseits beruflich und privat auch unter dem Krieg leiden, stellt der 24. Februar 2022, der Tag an dem Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, einen Wendepunkt dar. Es gäbe für sie eine Zeit davor und eine Zeit danach und sie sei sich gerade noch am neu sortieren und könne noch nicht sagen, wie das Danach überhaupt aussehen werde. Die russische Invasion betrifft auch ihre Münchener Produktion namens «s p u r e n». Der grosse Teil der Arbeit sei vor dem 24. Februar entstanden, aber die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine könnten nicht spurlos an ihrer Produktion vorbeigehen. Wie genau sich das im Resultat, das vom 12. bis 18. Mai an der Münchener Biennale gezeigt wird, niederschlagen wird, wisse sie jedoch noch nicht.

 


Polina Korobkova: flashbacks to perform i, UA: 2021: in der Zürcher Hochschule der Künste.


Verloren im Luftschutzbunker

Ihre Produktion «s p u r e n» ist konzeptuell auf jeden Fall so angelegt, dass der Thematisierung des Ukraine-Kriegs nichts im Wege steht. Die Produktion wird in den Kellerräumen der Hochschule für Musik und Theater in München gezeigt. Das Gebäude hat Adolf Hitler als «Führerbau» in den 1930er Jahren errichten lassen und die Kellerräume waren als Luftschutzbunker gedacht. Ab 1943 boten die Kellerräume, in denen «s p u r e n» spielt, jedoch nicht Menschen Schutz, sondern über 600 grösstenteils geraubten Gemälde, die Hitler in seinem «Führermuseum» in Linz ausstellen wollte. Davon sieht man heute jedoch keine Spur mehr. Die Kellerräume sähen, so Korobkova, alle gleich aus und böten äusserlich keinerlei Hinweise auf Zeit, Land oder ihre Geschichte. Nur ein ungutes, klaustrophobisches Gefühl aufgrund des fehlenden Tageslichts und der dicken Kellerluft bekäme man. Man fühle sich sehr verloren da unten.

Korobkova bespielt die Kellerräume mit einem Popsong, dessen Fragmente von fünf Sängerinnen live gesungen werden. Dieser Song klänge wie ein ganz normaler Popsong, auch der Text sei typisch. Doch aufgrund der persönlichen Geschichte dahinter – Korobkova schrieb diesen Popsong, als sie zwölf Jahre alt war – sei das auch sehr persönlich und intim. Durch die Platzierung dieses Popsongs in den vereinheitlichten, klaustrophobischen Kellerräumen entsteht ein starker Kontrast. Ein ganz anderes Setting als ein konventionelles Konzert – sowohl was die Räumlichkeiten, als auch was das Format betrifft. Denn Korobkova bespielt den ganzen Luftschutzbunker. Das Publikum wird durch die Anlage geführt und sitzt nicht auf zugewiesenen Stühlen.

 


Polina Korobkova: anonymous material i, UA 2020: in Apeldoorn (Holland) durch das Orkest De Ereprijs.

 

Unzählige historische Spuren

Zu dem Popsong und den fünf Sängerinnen gesellt sich die Aufnahme einer 36-tönigen Orgel, die durch einen vorprogrammierten Roboter bespielt wird. Diese Orgel namens Arciorgano steht an der Musik Akademie Basel und ist ein Nachbau nach einer Beschreibung des Komponisten und Musiktheoretikers Nicola Vicentino. Er war im 16. Jahrhundert tätig. Vicentino wollte mit dieser Orgel alle Stimmungsprobleme lösen, die damals ausführlich diskutiert wurden: er entwarf eine Art Super-Orgel, die die Idee der “Universalharmonie”, ein wichtiger Bezugspunkt für die Musikphilosophie der Renaissance, mit der immer komplexer werdenden Harmonik vereinen sollte. Vicentino hat also die überbordende Musikpraxis der Zeit mit einem fixen, übergeordneten System zu bändigen versucht. Für Korobkova steht diese Orgel auch für den leicht diktatorischen Versuch, die wild wuchernde Welt der Musik in ein fixes System zu zwängen; daher auch die mechanische Spielweise und die Megafon-Lautsprecher, die an politische Repression egal welcher Couleur erinnern und über die die Orgelaufnahmen abgespielt werden.

Diktatorisch anmutende Megafon-Lausprecher, aus denen die mechanisch klickende Aufnahme einer Super-Orgel aus dem 16. Jahrhundert plärrt; fünf Sängerinnen, die den 08/15-Popsong eines Teenagers singen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufwuchs; die klaustrophobischen, identitätslosen Kellerräume, in denen vor knapp 80 Jahren die Nazis massenhaft Raubkunst lagerten: In
«s p u r e n» von Polina Korobkova fliessen sehr unterschiedliche historische Zeitschichten zusammen, unzählige Spuren sind darin angelegt. Doch alle kreisen irgendwie um die Problematik von fixen Systemen– seien sie nun musiktheoretischer oder politischer Natur. Und dieses Hinterfragen von fixen Gewissheiten und Systemen ist auch ihr kompositorischer Antrieb. Sie frage sich bei jedem Stück immer und immer wieder, wieso sie eigentlich komponiere und wo ihr Platz in der Kunst- und Musikwelt überhaupt sei.
Jaronas Scheurer

Münchener BiennaleManos Tsangaris, Isabel Mundry, Caspar Johannes WalterMartin SchüttlerNicola Vicentino, Arciorgano,  Arciorgano des Studio 31+Führerbau

Erwähnte Veranstaltungen
Die Münchener Biennale findet vom 7. bis 19. Mai 2022 an verschiedenen Orten in München statt.

«s p u r e n» von Polina Korobkova wird vom 12. bis 18. Mai 2022 im Luftschutzbunker der Hochschule für Theater und Musik an der Arcisstrasse 12 in München aufgeführt.

 

Profile neo-mx3:
Polina Korobkova, Daniel Ott, Isabel Mundry

Sprache mischt sich in Musik ein

Musik und Sprache sind vielfältig verflochten. Dem weiten Spektrum geht die diesjährige Darmstädter Frühjahrstagung anhand von Lectures, Roundtables und Konzerten auf die Spur. Zu erleben sind die Slam-Poetin Nora Gomringer oder die Sopranistin Sarah Maria Sun wie auch das ensemble proton bern.
Erstmals online – live gestreamt vom 7. bis zum 10.April 2021.

INMM 2021 Verflechtungen II © zVg INMM

Thomas Meyer
Darmstadt, die ehrwürdige und traditionsreiche Stadt in Hessen, die als „Zentrum des Jugendstils“ gilt, ist auch für die Musik des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Sie beherbergt nicht nur das Jazz-Institut mit dem europaweit bestbestückten Archiv. Alle zwei Jahre finden dort im Sommer auch die berühmten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik statt, bei denen sich die besten DozentInnen mit dem Nachwuchs treffen, dozieren und diskutieren. Seit der Gründung 1946 ist Darmstadt ein Ort der Diskussion, an dem die ästhetischen Richtungen vorgegeben werden – der wichtigste Ort neben Donaueschingen. Die Stadt hat der von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen angeführten Avantgarde denn auch den Namen gegeben: die Darmstädter Schule.

Etwas weniger bekannt ist, dass damals auch eine Frühjahrstagung ins Leben gerufen wurde, in der es zwar auch um Neue Musik, in der künstlerischen Produktion und in der Musikwissenschaft, geht, vor allem aber um ihre Vermittlung gerade in der Musikpädagogik. Veranstalter ist das ‘Institut für Neue Musik und Musikerziehung’ (INMM). Der Verein bietet im Rahmen der Frühjahrstagungen auch Kompositionskurse für Kinder und Jugendliche an und initiierte das Forschungsprojekt ‘Campus Neue Musik’, das kooperative Kompositionsprojekte mit Schulklassen begleitet.


INMM Trailer Konzert mit Sarah Maria Sun, 9.4.21 ©INMM 2021

Die Tagung wird seit jeher von einem Kollektiv-Vorstand aus Künstler*innen, Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen vorbereitet und durchgeführt, was in der Zusammensetzung den Gedanken der Kooperation verkörpert. Es versteht sich, schreibt das INMM auf seiner Homepage, als „Forum des interdisziplinären Diskurses zwischen Produktion, Reproduktion und Reflexion innovativer künstlerischer Konzepte der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit und ihrer musikpädagogischen Vermittlung“. 

Brandaktuelle Themen und Grenzbereiche

Zur Diskussion standen dort seit je brandaktuelle Themen und Grenzbereiche, in den letzten Jahren etwa zur Körperlichkeit, zu Film/Video oder zum Aufeinanderprallen von Kulturen. „Wir möchten schauen, wie unterschiedliche Dinge zueinander kommen“, sagt der Musikwissenschaftler Till Knipper, der im Vorstand mitwirkt. Heuer stehen die vielfältigen Verflechtungen von Wort und Sprache mit der Musik zur Debatte – ein uraltes, eigentlich fast fundamentales Thema, das aber noch etliches Potenzial birgt. Ja, in der Neuen Musik öffnen sich dafür ganz neue Bereiche, die in der Tagung diesmal thematisiert werden sollen.

Annette Schmucki musikalisiert Sprache: Skizze © zVg Annette Schmucki

Die Pandemie lässt ein Live-Durchführung nicht zu. Erstmals läuft nun alles übers Internet, nach einem klugen Zeitplan, bei dem man nicht mit Material überfüttert wird. Zum einen sind da vorproduzierte Beiträge, die man sich online anschauen kann. Sie bieten quasi ein künstlerisches Statement zu dem, was ab 16 Uhr erst in Lectures und ab 18 Uhr in Roundtable-Gesprächen thematisiert wird. Der Abend ist Performances bzw. Konzerten vorbehalten. Die Verbindung von Musik und Sprache bietet da ein weites Spektrum. Gewiss kommt dabei auch die herkömmliche Art des Vertonens vor. Sie steht am zweiten Tag auch im Zentrum, aber so herkömmlich gerät sie dann doch auch wieder nicht, etwa wenn die Slam-Poetin Nora Gomringer mit Günter Baby Sommer interagiert, einem Schlagzeuger, der einst schon mit Günter Grass auftrat.

Nora Gomringer und Günter Baby Sommer © zVg INMM 2021

Am ersten Tag werden die Verflechtungen bis hinein ins Theatrale aufgenommen, am dritten meldet sich die Stimme selber zu Wort (und Ton), eben jenes so individuelle wie belastbare Transportmedium. The Voice gehört diesmal der herausragenden Sopranistin Sarah Maria Sun.
Sie performt bzw. singt zum Beispiel neue Lieder des Deutschen Rolf Riehm und des Kanadiers Thierry Tidrow. Er fügt seinen Morgenstern-Vertonungen eine Subebene aus emoticons hinzu.


Rolf Riehm, Ausschnitte aus Liederzyklus nach Heine / Hölderin, Der Asra, Orpheus Euphrat Panzer, Hyperions Schicksalslied, Sarah Maria Sun, Jan Philip Schulze, UA INMM 2021

Zum samstäglichen Abschluss gibt’s mit den «Transformationen» einen helvetischen Schwerpunkt. Beim Konzert des ensemble proton bern ist kein Text, zumindest kein herkömmlicher, zu vernehmen, vielmehr wird Sprache in Musik verwandet, und das kommt nicht von ungefähr, denn die Schweiz verfügt über einige besondere Worttonkünstler*innen: Komponist*innen, die Sprache eben auch in blosse Töne transferieren und transformieren und dabei zu erstaunlichen Resultaten gelangen.

Vorbilder in der ältesten Generation gibt es etliche wie Heinz Holliger, Urs Peter Schneider oder Roland Moser. Da kann es – wie bei Moser – auch mal vorkommen, dass nur die Interpunktion eines Texts musikalisiert wird.

Und die Jüngeren sind ihnen gefolgt, haben weiterentwickelt, Neues eingebracht. Die Komponistin Annette Schmucki etwa gehört hierher, die gerne von Wortlisten ausgeht, sie analysiert und durchdringt und daraus ihre Musik entstehen lässt: Auf vielerlei Ebenen: Mal wird der Text einfach gesprochen, mal erscheint die Sprache als Notenbild, mal prägt sie die Struktur der Musik Ihr brotkunst… /54 Stück/farbstifte papier tabak basiert zum Beispiel auf Texten von Adolf Wölfli. Was es wohl mit ihrer neuen Komposition drei möbelstücke auf sich hat?


Annette Schmucki, brotkunst / 54 stück / farbstifte papier tabak, UA ensemble proton bern 2016

Daniel Ott, der Gründer des Festivals Rümlingens, der heute mit seinem Kollegen Manos Tsangaris die Münchner Biennale für Neues Musiktheater leitet, war immer auch politisch motiviert. Eine seiner ersten Kompositionen, molto semplicemente für Akkordeon solo entstand vor dem Hintergrund des Basler Chemiebrandes 1986 und brachte das auch zur Sprache. In 6/7 Gare du Sud geht er von der unzumutbaren Situation aus, der sich MigrantInnen im Bahnhof Chiasso konfrontiert sehen: Alltägliches fliesst in die Musik ein. Das sind ungewöhnliche Umsetzungen, die neuartige Aspekte des Sprachmaterials zutage fördern.

Von Isabel Klaus erklingt ein älteres Werk aus dem Jahr 2013: and then? für Kontraforte (eine neuentwickelte Art Kontrafagott) und Ensemble. Und es zeigt die Liebe dieser Komponistin zum Schrägen, etwas Absonderlichen, zum Beharrlichen und leise-verspielt Kabarettistischen.
Eine Sprachvertonung ist das nicht mehr, viel mehr mischt sich der Dirigent nicht nur gestisch, sondern auch sprechend in die Musik ein. Ja, manche hätten die Musik gerne textlos rein, aber so puristisch ist sie nun einmal nicht immer zu haben…
Thomas Meyer

Annette Schmucki Skizze © zVg Annette Schmucki

Die 74. Frühjahrstagung des INMM – Verflechtungen II Musik und Sprache in der Gegenwart- findet vom Mittwoch 7. bis zum Samstag 10. April 2021 online statt: alle Veranstaltungen sind öffentlich und kostenlos zugänglich.
Die Vorträge von Christa Brüstle und Christian Grüny sind bereits jetzt online.

Konzerte:
Donnerstag, 8.4., 20h: Betrommeltes Sprachvergnügen, Nora Gomringer und Günter Baby Sommer
Freitag, 9.4., 20h: Sarah Maria Sun, Kilian Herold, Jan-Philipp Schulze
Samstag, 10.4., 20h: ensemble proton bern: Werke von Annette Schmucki, Isabel Klaus, Daniel Ott, Lauren Redhead

Nora Gomringer, Günter Baby Sommer, Rolf Riehm, Thierry Tidrow, Adolf Wölfli, Manos Tsangaris, Münchener Biennale für Neues Musiktheater, Christa Brüstle, Christian Grüny

neo-Profiles
Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Roland Moser, Annette Schmucki, Daniel Ott, Neue Musik Rümlingen, Isabel Klaus, Sarah Maria Sun, ensemble proton bern