Holz, Mund, Ritual – Erzählen am Festival Archipel

Gabrielle Weber
‘Holz, Mund, Ritual, Besitz’. Keine übergreifende Gesamtthematik, sondern einzelne Motive prägen die diesjährige Ausgabe des traditionsreichen Genfer Neue Musik-Festival Archipel. Die künstlerischen Leitenden, Marie Jeanson und Denis Schuler, wollen Geschichten erzählen und unerwartete Begegnungen schaffen. Ein spielerischer, heiterer Zugang und das gemeinsame Erleben stehen dabei im Vordergrund.

Jeanson, Veranstalterin aus der experimentellen und improvisierten Musik, und Schuler, Komponist, kuratierten ihre erste gemeinsame Festivalausgabe 2021. Mitten in der Pandemie online, zwar (erfolg-)reich an Konzerten und Begegnungen von Musikschaffenden, aber ohne Live-Publikum. Dieses Jahr wird nun das Stammhaus des Festivals, die ‘Maison communale de Plainpalais‘, an zehn Tagen rund um die Uhr be-spielt und gleichzeitig zum Ort der Begegnung. Nebst dem umfangreichen Konzertprogramm – mit Composer in residence Clara Jannotta oder einem Fokus Alvin Lucier- gibt es Klanginstallationen, gemeinsame, von Musikschaffenden zubereitete Mahlzeiten, nächtliche salons d’écoute, wo Mitwirkende ihre Lieblingsstücke über Dolby-Surround-System vorstellen, oder Talkrunden und Vermittlungsateliers. Daneben ist ein durchgängiges Festivalradio zu hören und gibt es zahlreiche weitere Veranstaltungen, verteilt über die ganze Stadt.

 

Die Motive ziehen sich dabei als verborgener roter Faden durchs gesamte Festival. Eng in die Festivalkonzeption involviert sind verschiedene Komponierende. Sie spinnen aus den Motiven ihre je eigenen Geschichten. Beispielsweise die Genfer Komponistin Olga Kokcharova. Mit ihr unterhielt ich mich in Genf zu ihrem mehrteiligen Festivalprojekt ‘sculpter la voûte‘ – den Harz formen.

 

Portrait Olga Kokcharova, zVg. Festival Archipel

 

 

“Wir haben die Verbindung zur Umwelt verloren – durch Klang lässt sich diese wiederherstellen”, sagt Olga Kokcharova. Die zarte, fast scheu wirkende Komponistin klangmächtiger Natur-Soundscapes widmet sich in ihrem zentralen Festivalprojekt dem Motiv des Holzes.

Sculpter la voûte basiert auf mehrjährigen Forschungen, in denen sich Kokcharova mit dem Wachstum von Bäumen in Tessiner Wäldern beschäftigte. Dabei nimmt sie sowohl Holz als Klangerzeuger als auch den Wald als Bedingung für menschliche Kultur unter die Lupe.

Im Frühling 2021 zeichnete Kokcharova in einem Naturreservat im Tessin Klänge auf. Da hört man die physiologische Aktivität der Bäume. Das sind fast brutale, rohe Klänge – tiefe Sonoritäten, Knacken. Man spürt, dass da Kräfte im Spiel sind, die weit über das Menschliche hinausgehen”, sagt Kokcharova.

Kokcharova stammt ursprünglich aus Sibirien und wanderte im Alter von 16 Jahren in die Schweiz aus. Sie habe da einen regelrechten Kulturschock erlebt, aber auch einen Inspirationsschub. Denn in Sibirien sei sie von Natur umgeben, fern von Städten aufgewachsen und hätte nichts über die europäische Kultur erfahren.

In Genf studierte sie zunächst Architektur, Design und Bildende Kunst, dann Klavier und Komposition. Klang sei ihr von Anfang an wichtig gewesen. Heute arbeitet sie insbesondere mit Klängen aus der Natur, mit field recordings, und integriert diese in Konzertkompositionen, in Installationen, Soundwalks, Klangperformances oder auch in Filmmusik, für Festivals und Institutionen im In- und Ausland.

 


Olga Kokcharova und Antoine Läng, Venera, 2018

 

Kokcharova geht es in ihren Arbeiten immer um grössere Zusammenhänge, um die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Umwelt.

 

Knacken von Bäumen beim Wachstum – rohe, brutale Klänge

 

In der Uraufführung von Sculpter la voûte– ‘altération’ (Veränderung) für verstärktes Lautsprecherdispositiv, einer Auftragskomposition des Festivals und gleichzeitig dem ersten Teil ihres Projekts, führt sie die im Tessin aufgenommenen Klänge in einem Lautsprecherorchester zusammen. Realitätsnah verräumlicht wird der Waldklang dabei durch ein Ambisoniksystem, einen raumumspannenden ‘Dom an Lautsprechern’, erstellt in Zusammenarbeit mit der ZHdK Zürich. Dieses wird am Festival auch für andere Konzerte eingesetzt, bspw. für die Schweizer Erstaufführung von Luis Naóns Streichquartett mit électronique ambisonique, aufgeführt durch das Quatuor Diotima am Vorabend.

Kokcharova ergänzt diese ambisonics hingegen durch ein Akusmonium, ein System aus zusätzlichen Lautsprechern, wodurch sie den Klang mit ‘altérations’ stark verfremdet.

“Es ist, wie wenn ich den Wald auferstehen lasse. Man ist direkt in Kontakt mit dem Klang des Lebens, das ihn bevölkert: man fühlt sich mittendrin.”

 

Der Wald ist für Kokcharova kein Ort der Erholung, sondern im Gegenteil ein Ort der höchsten Konzentration, ein Ort, der die Verbindung schafft zu Dingen, die wir nicht verstehen. Darauf macht sie durch die Verfremdungen in ihrem Stück aufmerksam.

 


Olga Kokcharova, Mixotricha Paradoxa – part II, 2019

 

 

Performance installatique et sensorielle

 

Als Performance installatique et sensorielle betitelt Kokcharova den zweiten Teil von Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘ (Auskultivierung), eine Zusammenarbeit mit dem Ensemble Contrechamps Genève. Kokcharova zeichnet in ihrer Installation den Klangweg des Holzes nach: vom lebenden Baum, der durch die Zirkulation des Safts in Schwingung versetzt wird, bis hin zum Tonholz, das in den Händen des Geigenbauers zum Instrument wird und dann gemeinsam mit dem Körper eines Musikers vibriert. Und das spürbar, im wahrsten Sinne des Wortes. Je eine ‘Musiker:in des Genfer Ensemble Contrechamps spielt jeweils für eine einzelne Zuhörer:in. Diese:r kann dabei das Instrument ertasten, seinem Klang und seiner Vibration nachspüren, und so ihre je eigene expérience vibratoire erleben.

 

 

Pour entendre le son on a besoin de la matière..

 

Klang, das ist Vibration: das ist unsere Verbindung zur Welt, meint Kokcharova. Und um Klang zu hören, brauche es Materie, bspw. Holz: diese Verbindung schafft für Kokcharova auch einen grösseren Zusammenhang, der uns im Verborgenen präge: «Wenn man über die Menschheitgeschichte spricht, geht es immer um den Menschen mit Werkzeugen und Tieren. Pflanzen werden nicht erwähnt – aber ohne die Pflanzen wäre der Mensch nichts”. Ihr gehe es darum auf zu zeigen, wie andere Lebensformen -in diesem Falle die Bäume-  alle Facetten unseres Lebens, und auch unsere kulturelle Produktion beeinflussen.

Mensch und Natur stehen seit jeher in Beziehung, sagt Kokcharova. Und so erzählt sie in ihrem Festivalprojekt eine etwas andere, sehr persönliche Geschichte vom Holz und vom Menschen.
Gabrielle Weber

 

Olga Kokcharova, Lutherie Guidetti, Locarno

 

Festival Archipel Genève: 1.-10.April Genf

Clara Ianotta, italienische Komponistin ist artist en residence und am gesamten Festival anwesend.

Alvin Lucier, dem 2021 verstorbenen US-Elektropionier ist eine Hommage mit drei Performance-Installationen gewidmet.

Antoine LängQuatuor Diotima, Denis Schuler, Marie Jeanson

 

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 2.4.: UA Olga Kokcharova ‘Sculpter la voûtealtération’, und’Mycenae Alpha‘ von Iannis Xenakis (1978), zu Ehren von dessen 100jährigem Geburtstag, Olga Kokcharova am’système ambisonique‘.

3.-10.April: Olga Koksharova: Sculpter la voûte –  ‘auscultation‘:

Samstag, 9.4., 14h: Gespräch ‘arbre, bois, vibration, transmission‘ mit Ernst Zürcher, Schriftsteller, und Christian Guidetti, Laute.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
in: Musikmagazin, Sa, 2.4.22, 10h /So, 3.4.20h, von Benjamin Herzog: Café mit Olga Kokcharova, Redaktion Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, Mi, 22.6.22, 20h/Sa, 25.6.22, 21h: Erzählen am Festival Archipel Genève 2022, Redaktion Gabrielle Weber

Profile neo-mx3:
Festival Archipel, Olga Kokcharova, Contrechamps, Luis Naon

Concerts à l’aube: Nichts für Morgenmuffel

 

Ensemble Batida @ Les aubes musicales Genève ©zVg Batida

 

Gabrielle Weber
Den Sonnenaufgang, direkt am Genfersee erleben, dazu Live-Musik open air: was gibt es Schöneres? Die ‘Musiques à l’aube‘ in Lausanne und ‘les aubes musicales‘ in Genf, zwei open air-Konzertreihen laden Frühaufsteher und Frühaufsteherinnen zum frühmorgendlichen Konzertgenuss. ‘Vivre la musique’ – das könnte als Motto über dem Sommer in der Romandie stehen.

Die Lausanner ‘musiques à aubes’ gibt es seit 2017. Jeweils samstags, frühmorgens um 6h, treffen sich da am zentralen Stadthafen ‘jetée de la Compagnie’ Kenner, Liebhaberinnen und Neugierige zum einzigartigen Tagesbeginn mit Live-Musik.

Die Reihe wurde von vier Jazzliebhaberinnen gegründet und fokussierte in den ersten Jahren mit zunächst fünf Konzerten ganz auf Jazz. Dieses Jahr ist das Programm breiter gefasst und es stehen zehn Konzerte an: “Der Live-Moment ohne Zwang und ohne Grenzen, für ein Publikum mit neugierigen Gourmet-Ohren” soll im Zentrum stehen, meinen dazu die Kuratorinnen. Das Programm variiert diese Saison zwischen Jazz, Improvisation, experimenteller Moderne, Elektroakustik und Rock. Ganz selbstverständlich stehen da Solo-Konzerte der Pianisten Nik Bärtsch oder Cédric Pescia neben Auftritten von Louis Jucker oder Evelinn Trouble.

Am 10. Juli ist bspw. der Zürcher Pianist Nik Bärtsch zu hören. Allein am Konzertflügel spielt er Stücke aus seiner neuen CD ‚Entendre‘. Sie kam im März 2021* heraus und versammelt von Bärtsch so bezeichnete “Module”, solo interpretiert von ihm am Klavier. Die “Module” sind über die Jahre entstandene, variabel zu interpretierende, repetitive minimale Stückvorgaben – Bärtsch spielt sie auch immer wieder mit seiner Band Ronin. Zwischen Komposition und Improvisation erstehen sie mit jeder Live-Performance neu und anders.

 


Nik Bärtsch & Ronin, Modul 58, Eigenproduktion SRG/SSR 2018

 

Zu hören ist auch der Lausanner Pianist Cédric Pescia. Er spielt am 31. Juli auf einem präpariertem Klavier die ‘Sonatas and Interludes’ von John Cage (1946-48). Bestückt mit Objekten aus Holz, Metall oder Plastik zwischen den Saiten wird das Klavier hier zum kleinen Perkussionsemble.

 

Cédric Pescia ©zVg Musiques à l’aube Lausanne 

 

Eine akustische Oase inmitten von Lärm und Asphalt – im heissesten Monat August

 

Auch in der Stadt Genf gibt es eine eigene Reihe für Frühaufsteher, Les Aubes musicales, jeweils sonntags um 6h früh. Mitten in der Stadt, im Stadtbad ‚jetée des paquis‘ seit 2007, präsentiert sie sich als frühmorgendliches Fenster zur Welt. Sie ist eine akustische Oase inmitten von Lärm und Asphalt, im heissesten Monat August.

Auch hier ist die stilistische Offenheit charakteristisch. Auch hier geht es ums gemeinsame Erleben. “Die Reihe ist etwas Einzigartiges, mit nichts zu Vergleichendes. Da geht es um den magischen Moment zwischen Dunkelheit und Licht”, sagt Marie Jeanson, Co-Leiterin der Reihe und nun auch Intendantin des Neue Musik-Festival Archipel Genève.

Das Genfer Neue Musik-Ensemble Contrechamps eröffnet mit seinem Auftritt an ‚Les Aubes musicales‘ jeweils die Saison. Auch für Serge Vuille, den künstlerischen Leiter von Contrechamps, ist das immer “ein magisches Ereignis”. Dieses Jahr spielt Contrechamps am 22. August Gérard Griseys ‚Prologue‘ von 1976, dazu das Stück ‚Mantiq-al-Tayr‘ von Geneviève Calame, entstanden 1973, sowie Claude Debussys ‘Sonate’ von 1915.

 

Seong-Whan Lee, Là où les eaux se mêlent, Contrechamps, création 2021, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Geneviève Calame, die 1993 verstorbene Genfer Komponistin, widmete sich insbesondere der Kombination von Elektronik mit akustischen Instrumenten oder der elektroakustischen Musik. Nach Studien in den USA, Paris und Stockholm begründete sie in Genf das ‚Studio de musique électronique, Vidéo et d’informatique‘ mit, und komponierte zahlreiche -immer noch wenig bekannte Stücke – für klassisches Orchester, Synthesizer oder audiovisuelle Installationen.

Beide Reihen verschreiben sich lokalen, aber international ausstrahlenden Musikschaffenden. Und beide verstehen zeitgenössisches Musikschaffen umfassend und offen.

Bewundernswert unkompliziert ist in der Romandie der Umgang mit Musikgenres – Barrieren sind kaum zu spüren, weder bei den Veranstaltern noch beim Publikum.

Das gemeinsame Erleben und die Offenheit für Unbekanntes stehen im Vordergrund.

Musik ist Leben und Lebensgenuss, Sinnlichkeit und Poesie: Dafür steht man in Lausanne und Genf auch gerne früh auf.
Gabrielle Weber

 

Nik Bärtsch ©zVg Musiques à l’aube Lausanne

Nik Bärtsch: Entendre, ECM, März 2021

 

Musiques à l’aube, Lausanne, Konzerte samstags um 6h, 26. Juni – 28. August, Ort: ‘La Jetée de la Compagnie & Le Minimum’. Bei schlechtem Wetter: Verschiebedatum jeweils folgender Sonntag, Entscheid am Vorabend.

Les Aubes musicales, Genève, Konzerte sonntags um 6h, 1. – 29.August, Ort: bain des Paquis. Bei schlechtem Wetter inhouse im: l’Abri

Festival de la Cité de Lausanne, 6.-11.7., Konzerte ganze Stadt, rund um die Uhr

 

Sendungen SRF 2 Kultur
Klangfenster, 20.6.21: Nik Bärtsch, Entendre, Redaktion Cécile Olshausen

Jazz & World aktuell, 16.3.21: Mehr als die Summe, Nik Bärtsch im Interview, Redaktion Roman Hošek

Blick in die Feuilletons, musique à l’aube, 13.7.21 (min 00:18), autor Gabrielle Weber

neo-profiles:
Nik Bärtsch, Contrechamps, Ensemble Batida, Festival Archipel

“partage de l’écoute”

Archipel, das Genfer Festival für zeitgenössische Musik, findet statt: live on stream vom 16. bis zum 25.April. Archipel sous surveillance, das Festival-Web-TV, bringt das Festival live ins Zuhause des Publikums.

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

Gabrielle Weber
2020 war in mancher Hinsicht ein besonderes Jahr für das legendäre Genfer Festival. Nach langjähriger Intendanz des Musikwissenschaftler Marc Texier trat ein neues Intendantenduo an. Marie Jeanson -sie stammt aus der experimentellen und improvisierten Musik- und Denis Schuler -er ist Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide- wollen das Festival umkrempeln.

Das neue Intendantenduo erklärte mir im letzten Frühjahr, kurz vor dem geplanten Start, seine Vision des idealen Festivals. In einer eintägigen Carte Blanche sollte diese Vision exemplarisch umgesetzt werden.

Das Festival fiel als eines der ersten dem ersten Lockdown zum Opfer.
Dieses Jahr findet es online statt.

 

 So präsentierten Marie Jeanson und Denis Schuler sich und ihre eintägige Carte blanche, geplant für ihre erste Festivalausgabe 2020. Video Genf März 2020 ©neo.mx3

 

Die Vision von Jeanson und Schuler hörte sich an wie ein Fünf-Punkte-Plan: wie steht es nun damit? Was wurde -trotz Pandemie und Streaming- umgesetzt? Ich nahm unser Gespräch nochmals hervor… Ein Abgleich zeigt die Schnittmenge:

 

Der fünf-Punkte-Plan von 2020 – das Festival 2021: ein Vergleich

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

2020: Alles ist eine Einheit – Musik und Leben gehören zusammen. Die Carte Blanche sollte einen ganzen Tag dauern, alles an einem Ort stattfinden -in der maison communale de Plainpalais-, und Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gelegenheiten zum Austausch im Zentrum stehen. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, sagt Schuler.

2021: Umgesetzt ist die Einheit von Leben und Musik in Archipel sous surveillance’. Das experimentelle Festival-Web-TV begleitet on- &backstage hautnah vor Ort und bringt das Festival ins Wohnzimmer des Publikums, täglich von 12h-00h. Das Publikum lebt -wenn es möchte- mit dem Festival.. 

  

Archipel sous surveillance ©zVg Festival Archipel

 

‘cohérence poétique’

2020: Das Festival will sich in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, sagt Jeanson.

2021: Vier Klanginstallationen bespielen vier Räume der Maison communale de Plainpalais. Sie sind während des ganzen Festivals online begehbar. Das charakteristische, historische Festivalstammhaus ersteht online neu und bildet einen durchgängigen poetischen Raum zwischen Fiktion und Realität.. 

 

Benoît Renaudin, 1000 flûtes, installation sonore, maison communale de plainpalais ©zVg Festival Archipel

 

‘faire exister la création’

2020: Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht (mehr) mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, sagt Schuler. Dem Intendantenduo geht es aber darum, “die Kreation lebendig zu erhalten”. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht.

2021: Komposition und Improvisation begegnen sich an vielen Konzerten. Bspw. die Improvisatorin Shuyue Zhao und das Basler Ensemble neuverBand. Zhao hinterfragt in ihren Performances die Rolle der Interpretin und arbeitet mit Live-Elektronik, noise und Improvisation. Werke u.a. von Sofia Gubaidulina oder Junghae Lee, interpretiert vom Ensemble neuverBand, bilden zusammen mit Zhaos Improvisationen ein neues Ganzes.

 


Shuyue Zhao: noise fragments, 2019

 

‘partage de l’écoute’

2020: Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen, in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille nahekomme. “An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit”.

2021: die salons d’écoute finden etwas anders statt: CDs können zwar nicht mitgebracht werden. Aber jeden Mittag um 12h gibt es sogenannte ‘partages d’écoute’ an denen ein*e Komponist*in seine/ihre Hörschätze (mit)teilt. Bspw. lassen sich da gemeinsam mit dem Komponisten Jürg Frey oder der Komponistin-Sängerin Cassandra Miller ihre Trouvaillen entdecken.

 

Rencontres à l’improviste – Unverhoffte Begegnungen

2020: Musikschaffende, die sich vorher nicht kannten, werden von den Kuratoren zusammengeführt. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass das Publikum überrascht wird”, meint Schuler.

2021:  Insub.distances#1-8  verlinkt remote Musikschaffende. Cyril Bondy, der Leiter des Genfer Insub Meta Orchestra und d’Incise, Träger eines Schweizer Musikpreises 2019, initiierte das Projekt für Archipel’21. Dabei komponierten vier Genfer und vier internationale Komponierende je ein Stück für ein Duo: im harten Genfer Lockdown, von September bis Dezember 2020. Alle haben Nähe und Distanz zum Thema. Die Stücke wurden remote geprobt, eingespielt und online gestellt. Nun sind sie alle verteilt übers ganze Festival zu hören.


Insub Meta-Orchestra / Cyril Bondi & d’incise: 27times, 2016

 

Erstaunlich, wie passgenau sich Marie Jeansons und Denis Schulers im Kleinen angelegte Festivalvision nun im Grossen wiederfindet. Und das trotz Pandemie und Streaming.
Gabrielle Weber

 

Festival Archipel Teaser 2021

 

Das Genfer Festival Archipel findet vom Freitag, 16. bis zum Sonntag, 25. April statt. An zehn Tagen treten internationale Interpret*Innen und Ensembles wie Ensemble Ictus, Collegium Novum Zürich, ensemble Contrechamps, Eva Reiter mit Werken von u.a. Clara Iannotta, Alvin Lucier, Jürg Frey, Helmuth Lachenmann, Eliane Radigue, Cassandra Miller, Morton Feldman, John Cage oder Kanako Abe auf. Alle Konzerte sind per Stream kostenlos zugänglich.

Archipel sous surveillance sendet täglich von 12h-24h durchgehend von allen Austragungsorten, back- und onstage. Beteiligt sind die Genfer Filmcrew Dav tv und das alternative Fernsehen neokinok.tv.

 

Sendungen:
RTS:
Le festival Archipel met à l’honneur les musiques experimentales
SRF 2 Kultur:

neoblog, 12.3.2020Ma rencontre avec le future – ANNULÉ, Gabrielle Weber im Gespräch mit dem Intendantenduo Jeanson/Schuler.

Neo-Profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, Jürg Frey, Insub Metha Orchestra, Ensemble Batida, Ensemble Contrechamps, Patricia Bosshard, d’Incise

Ma rencontre avec le futur – ANNULÉ!

Passages – so lautet das Motto des Genfer Festivals für zeitgenössische Musik Archipel. Vom 26. März bis zum 6. April widmet sich Archipel der musikalischen Vision einer Gesellschaft ohne Grenzen. Zwischen Menschen, Kulturen, Generationen und Künsten. Die Schweiz steht dabei für einen zentralen Knotenpunkt innerhalb Europas in einer Welt in Transformation. Und Musik für eine vibrierende Kunstform im Fluss, die Brücken bildet und Grenzen überwindet.

Marc Texier, scheidender Intendant, kuratiert die diesjährige Ausgabe letztmals. Einen Ausblick in die Zukunft bildet die ganztägige Carte Blanche Ma rencontre avec le futur am 31. März, programmiert vom designierten Intendantenduo Marie Jeanson und Denis Schuler.

Gabrielle Weber
Wie soll sich Archipel in Zukunft positionieren und wie sieht die Zusammenarbeit als Duo aus? Wie bezieht sich die Carte Blanche auf die übergreifende Thematik Passages und inwiefern weist Ma rencontre avec le futur auf die zukünftige Ausrichtung des Festivals? Im Gespräch stellt sich das Intendantenduo vor und präsentiert die Carte Blanche wie auch die Sicht aufs zukünftige Festival.

Marie Jeanson kommt als Veranstalterin aus den Bereichen experimentelle und improvisierte Musik wie auch Klangkunst und radiophone Musik. Das Einbringen ihrer Schwerpunkte ins Festival bedeute Kontinuität. Denn Archipel sei zwar in der komponierten zeitgenössischen Musik verankert. Improvisierte Musik wie auch Klangkunst bildeten aber immer schon einen Teil. “Es handelt sich weniger um einen Richtungswechsel als um ein Zurückkehren der experimentellen Musik ans Festival”, so Jeanson.
Für Denis Schuler, Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide, ist die neue Tätigkeit als Festivalintendant eine Weiterführung dessen was er aktuell tut. Die gemeinsame Co-Intendanz sei eine ideale Kombination. Denn beide brächten ihre individuelle Erfahrung und ihr Netzwerk ein. Ein gemeinsames ästhetisches Terrain und gegenseitige Neugierde sehen beide als Grundvoraussetzung der Zusammenarbeit.

Marie Jeanson & Denis Schuler © Gabrielle Weber, neo.mx3

Ma rencontre avec le futur ist in vielerlei Hinsicht repräsentativ. Denn jedes Einzelprojekt repräsentiert sie beide als Duo, beinhaltet also sowohl Komposition als auch Improvisation.

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

Offenheit ist durchgängiges Prinzip. Das zeigt sich an der Dauer -ein ganzer Tag-, dem einheitlichen Ort -die maison communale de Plainpalais wird gesamthaft bespielt-, dem Rahmen -Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gefässen für den Austausch-. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, so Schuler.

‘cohérence poétique’

Im Unterschied zur langjährigen Intendanz von Marc Texier will sich das Festival in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, so Jeanson.

‘faire exister la création’

Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, so Schuler. Dem Duo geht es hingegen darum, die Kreation am Leben zu erhalten. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht. Bspw. wird an der Carte Blanche die holländisch-schweizerische Klangkünstlerin Cathy van Eck in ihrer Performance Klangverordnung die ganze maison communale bespielen und kurzfristig entscheiden wo sie wann auftritt.


Cathy van Eck, Klangverordnung, a performance for mobile loudspeaker horns 2012

‘partage de l’écoute’

Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille fast nahekomme. An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit.

Carte Blanche = ‘Mega-Metakonzert

Und es werden Musikschaffende zusammengeführt, die sich vorher nicht kannten. An der Carte Blanche treten bspw. Shuyue Zhao (Klarinette, China-CH) und Maximilian Haft (Geige, USA-Genf) erstmals zusammen auf. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass es auch das Publikum überrascht wird”, so Schuler. Auch das Basler Ensemble Neuverband trifft neu auf die Improvisatorin Shuyue Zhao in einem komponierte-improvisierten Programm, u.a. mit einer Uraufführung der Komponistin Junghae Lee. Und zum Schluss tritt der Perkussionist Will Guthrie zusammen mit einem Gamelanorchester auf. Dabei geht es nicht zuletzt darum, wie verschiedene musikalische Kulturen kombiniert werden, ohne einer Art von Exotismus zu erliegen.


Shuyue Zhao, Noise fragments

Passages sind auch bei Ma rencontre avec le future zentral – zwischen Ländern, Genres, Musiker*innen und Publikum. “Ein Meta-Megakonzert mit allem was dazu gehört”, so Jeanson.
Interview Gabrielle Weber, Genf, 26. Februar 2020

Das Genfer Festival Archipel findet vom 26. März bis 6. April statt. Eingebunden sind alle wichtigen Klangkörper Genfs, zudem arbeiten zahlreiche Institutionen erstmals zusammen. Highlights bilden u.a. Coro von Luciano Berio, ein ‘Fresko’ für 40 Stimmgruppen als Koproduktion der Musikhochschulen Genf, Lausanne und Lugano in der Victoria Hall, oder eine Opern-Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Genève.

Ma rencontre avec le futur, 31. März 2020, 12-24h: Carte Blanche – Marie Jeanson & Denis Schuler, mit: Maximilian Haft & Shuyue Zhao, Cathy van Eck, Ensemble neuverBand, Will Guthrie & Ensemble Nist-Nah

Grand théâtre de Genève, Will Guthrie & Ensemble Nist-NahCathy van Eck, Maximilian Haft, Ensemble Vide, Denis Schuler

Sendungen SRG
RTS: Musique d’avenir, Redaktion Anne Gillot
SRF2 Kultur: Musikmagazin, 21./22.3., Redaktion Florian Hauser (abgesagt)

neo-profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, NeuverBand, Denis Schuler, Ensemble Vide, Cathy van Eck