“Das Universum der Klänge ist unendlich”

Hier sollte zunächst ein rundum strahlendes Geburtstagsportrait zu 10 Jahren ensemble proton bern stehen. Dazu gehörten zahlreiche Veranstaltungshinweise zur Jubiläumssaison.

Mit Martin Bliggenstorfer, dem Managing director, führte Christian Fluri deshalb kurz nach dem Lockdown der ersten Pandemiewelle ein Gespräch. Zu diesem Zeitpunkt äusserte er sich voller Zuversicht und Tatendrang.

Jetzt, kurz vor der ursprünglich geplanten grossen Geburtstagsfeier am 16. November, stecken wir mitten in der zweiten Welle. Und sie trifft uns mit unerwarteter Heftigkeit.

Wie sich die neue Situation aufs ensemble proton bern und seine Jubiläumssaison auswirkt, besprach ich daher mit Bliggenstorfer nochmals. In einem zweiten Gespräch, direkt nach der Bekanntgabe der neuen Vorgaben des Bundesrates vom 18. Oktober. Seither ändern sich die Maßnahmen laufend weiter und die meisten Aufführungen sind faktisch unmöglich geworden.

Das ensemble proton bern steht damit im Beitrag auch stellvertretend für viele Ensembles, Musikschaffende und Veranstalter, die plötzlich mit Absagen, Verschiebungen und einer unplanbaren Zukunft konfrontiert sind.

ensemble proton bern: Gruppenportrait © Oliver Oettli


Christian Fluri
Das ensemble proton bern forscht mit grosser Passion seit zehn Jahren nach neuen Klängen, neuen Stücken und neuen Komponisten wie Komponistinnen. Es gehört international zu den gefragtesten Ensembles und wird oft an Festivals und zu Konzerten in- und ausserhalb Europas eingeladen.

Seit seiner Gründung 2010 hat das in der Dampfzentrale Bern domizilierte Ensemble in 128 Konzerten 273 Werke von 180 Komponist*innen gespielt, 175 davon waren Uraufführungen. Es trat vor grossem Publikum in der Mariinsky Concert Hall in St. Petersburg auf und tourte nebst weiteren Highlights an der Westküste der USA.

Während der ersten Coronawelle hat das Ensemble noch einigermaßen Glück gehabt, wie Managing Director, Oboist und Lupophonspieler Martin Bliggenstorfer im Gespräch sagt: “Gerade vor dem Lockdown konnten wir in der Dampfzentrale noch das Konzert protonwerk no. 9 spielen. Die Wiederholung im Gare du Nord Basel mussten wir aber bereits absagen.”

protonwerk, das ist ein Förderprogramm für junge Komponist*innen, denen das Ensemble Kompositionen in Auftrag gibt.


Adrian Nagel, Netzwerk, UA: protonwerk no.7 / ensemble proton bern 2017

“Unser auf Mai geplantes Programm terrible ten, ein Konzert mit Uraufführungen von Thomas Kessler (My lady soul) sowie Michael Pelzel und Stefan Wirth, konnten wir kurzfristig verschieben und bereits im September spielen. So ging zumindest nichts von unseren geplanten Programmen ganz verloren“ freut sich Bliggenstorfer.

Gemeinsames Musizieren vermisst

Den Wiedereinstieg ins Konzertleben nach dem Lockdown konnte das Ensemble kaum erwarten. terrible ten war dann auch etwas ganz Besonderes: erstmals wieder gemeinsam zu musizieren und das Musikmachen mit dem Publikum live zu teilen, sei für alle Beteiligten ein Erlebnis gewesen, meint Bliggentorfer.


Thomas Kessler, My lady soul, UA ensemble proton bern 2019

Auch wenn die Musiker*innen des Ensembles die Zeit des Lockdowns produktiv nutzen konnten. “Was uns gefehlt hat, war das gemeinsame Musizieren, der direkte Kontakt miteinander, die Proben mit den Konzerten vor Augen. Zugleich hatte es aber auch etwas Gutes, für ein paar Wochen Kopf und Körper etwas ausruhen zu lassen.”

Existenzangst musste das Ensemble bis zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise keine haben. “Wir mussten für ausgefallene Konzerte keine Subventionen und Unterstützungsbeiträge zurückgeben. So konnten wir unsere Honorare und die unserer Gäste auszahlen.” Bliggenstorfer ist sehr dankbar für die grosszügige Haltung der Geldgeber in der Schweiz.

“Das Universum der Klänge ist unendlich..”

Das ensemble proton bern  ist also  nach wie vor bestens aufgestellt und will sich stetig weiter entwickeln. Dies jedoch ohne seinen langjährigen Dirigenten Matthias Kuhn, der seit der Gründung dabei war. “Er will sich künstlerisch neu ausrichten.” Das versteht Bliggenstorfer, so wichtig Kuhn für den Aufbau des jungen Ensembles gewesen ist. Künftig arbeitet das Ensemble mit achtköpfiger Stammbesetzung und ohne festen Dirigenten. Kammermusikalische Projekte sollen so vorangetrieben werden, wie auch Konzerte und Auftritte mit grösseren Besetzungen und Gastdirigenten.

Ungebrochen ist die Leidenschaft für die Neue Musik in ihren unterschiedlichen Stilen und Ausrichtungen. Denn Scheuklappen hat das ensemble proton bern keine. Es zeigt mit seiner Spielfreude, wie lustvoll, lebendig und vital zeitgenössiche Musik ist. “Das Universum der Klänge und deren Kombinationsmöglichkeiten ist unendlich”, weiss Bliggenstorfer: “Es gibt ein Leben lang Neues zu entdecken”.


Verschiedene Komponisten click & faun, ensemble proton bern 2019

Auch seien die Klangmöglichkeiten der neuen Instrumente noch lange nicht ausgeschöpft: so die von Richard Haynes wiederentdeckte Klarinette d’amore, die von Martin Bliggenstorfer und Elise Jacoberger gespielten Doppelrohrblattinstrumente Lupophon und Kontraforte, auch Maximilian Hafts Strohgeige – oder die Vielfalt im Bereich der elektronischen Klangerzeugung. Das ensemble proton bern wird weiter forschen.
Christian Fluri

2. Gespräch am 21. Oktober 2020:
Gabrielle Weber
Trotz der wachsenden Unsicherheit und drohender Einschränkungen war Bliggenstorfer am 21. Oktober noch zuversichtlich, Konzerte so lange als möglich durchzuführen: “Kulturelle Veranstaltungen sollten nicht abgesagt werden, solange sie nicht verboten sind. Natürlich muss das Schutzkonzept perfekt umgesetzt sein. Das funktionierte bislang auch gut.”

Fest standen noch Auftritte als main act im Jubiläumsprogramm „5 Jahre Kultur-Kino Rex“ zusammen mit zwei Visual Artists. Da sollte der Komponist Ennio Morricone von einer unbekannten Seite beleuchtet werden. „Morricone kennt man ja landläufig als Filmmusikkomponisten – er war aber auch in der ‘Kunstmusik’ aktiv, u.a. als Trompeter der Gruppo di improvisazzione Nuova Consonanza, in den 60er/70er Jahren”.

Mit den neuen Berner Auflagen vom 23. Oktober – Kinos und Museen waren per sofort zu schliessen – mussten die Konzerte aber wenig später abgesagt werden.

“fette fête” – das Konzert zum 10 Jährigen Bestehen des Ensembles

Die “fette fête” war für den 16. November in Bern geplant: eine grosse Geburtstagsfeier mit Uraufführungen und Werken von Louis Andriessen, Christian Henking und Annette Schmucki. Ausserdem vergab das Ensemble einen Kompositionsauftrag an den jungen Schweizer Komponisten Tobias Krebs. “Wir freuen uns ausserordentlich darüber – er ist ein hervorragender junger Komponist, den wir von protonwerk kennen”.


Tobias Krebs, ambra, UA Duo Vers 2018

An einer Durchführung hielt Bliggenstorfer beim Gespräch noch fest, denn “solange es möglich ist, Kunst live erlebbar zu machen, wollen wir die Möglichkeit zu Konzertieren nicht aufgeben. Wir wollen verantwortungsvoll mit der Situation umgehen, indem wir das Schutzkonzept einhalten”.

Auf das Konzert muss nun leider – seit den neuesten Auflagen – doch ganz verzichtet werden (Stand 30.10.20). Es soll im Februar 2021 nachgeholt werden (tbc.)..

Eine weitere Planungsunsicherheit kommt für zukünftige Projekte mit Gästen aus dem Ausland hinzu: “Wenn sie nicht einreisen können, müssen wir nach Ersatz suchen.” Und geplante Auslandengagements fallen vorläufig aus. Für die Jubiläumssaison hatte das Ensemble Einladungen bspw. nach New York und Salzburg.

Was das alles finanziell bedeutet,  ist noch nicht abzuschätzen: “Momentan stehen wir finanziell immer noch gut da. Aber ungewiss sind die mittel- bis langfristigen Auswirkung der Krise auf die Förderlandschaft.”

Das ensemble proton bern zeigt sich weiterhin voller Tatendrang. Forscher- und Innovationsgeist sind ungebrochen, Spiel- und Entdeckungslust ebenso. Wie aber die langfristigen Folgen für Konzerte, und insbesondere die weitere internationale Positionierung, ist gerade nicht abzusehen.
Gabrielle Weber

 

ensemble proton bern Gruppenportrait © Oliver Oettli

 

Konzerte Jubiläumssaison 20/21 &aktuelle updates

30.Oktober: The dark side of Ennio Morricone, Kino Rex Bern: ABGESAGT

16. November: “fette fête” – 10Jahre proton, Dampfzentrale Bern: ABGESAGT: VERSCHIEBEDATUM 2. Februar 2021 (tbc)**
17. November, 20h, Konzert Gare du Nord Basel: protonwerk nr.9 (Wiederaufnahme)

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 28.10.20: Redaktion Florian Hauser, Gespräch zu My lady soul, mit Thomas Kessler, Martin Bliggenstorfer, Bettina Berger, Vera Schnider
Neue Musik im Konzert
, 28.10.20: My lady soul mit terrible ten, Konzertaufzeichnung vom 15.9.20, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.
Musikmagazin, 25.7.20: u.a. Richard Haynes, Redaktion Florian Hauser

**DATUM OFFEN: Neue Musik im Konzert: “fette fête”, Konzertaufzeichnung, Dampfzentrale Bern, Redaktion Florian Hauser.

ensemble proton bern, Martin Bliggenstorfer, Matthias Kuhn, Richard HaynesHanspeter Kyburz, Louis Andriessen

neo-profiles: ensemble proton bern, Thomas Kessler, Michael Pelzel, Stefan Wirth, Christian Henking, Annette SchmuckiTobias KrebsTobias Krebs

Ma rencontre avec le futur – ANNULÉ!

Passages – so lautet das Motto des Genfer Festivals für zeitgenössische Musik Archipel. Vom 26. März bis zum 6. April widmet sich Archipel der musikalischen Vision einer Gesellschaft ohne Grenzen. Zwischen Menschen, Kulturen, Generationen und Künsten. Die Schweiz steht dabei für einen zentralen Knotenpunkt innerhalb Europas in einer Welt in Transformation. Und Musik für eine vibrierende Kunstform im Fluss, die Brücken bildet und Grenzen überwindet.

Marc Texier, scheidender Intendant, kuratiert die diesjährige Ausgabe letztmals. Einen Ausblick in die Zukunft bildet die ganztägige Carte Blanche Ma rencontre avec le futur am 31. März, programmiert vom designierten Intendantenduo Marie Jeanson und Denis Schuler.

Gabrielle Weber
Wie soll sich Archipel in Zukunft positionieren und wie sieht die Zusammenarbeit als Duo aus? Wie bezieht sich die Carte Blanche auf die übergreifende Thematik Passages und inwiefern weist Ma rencontre avec le futur auf die zukünftige Ausrichtung des Festivals? Im Gespräch stellt sich das Intendantenduo vor und präsentiert die Carte Blanche wie auch die Sicht aufs zukünftige Festival.

Marie Jeanson kommt als Veranstalterin aus den Bereichen experimentelle und improvisierte Musik wie auch Klangkunst und radiophone Musik. Das Einbringen ihrer Schwerpunkte ins Festival bedeute Kontinuität. Denn Archipel sei zwar in der komponierten zeitgenössischen Musik verankert. Improvisierte Musik wie auch Klangkunst bildeten aber immer schon einen Teil. “Es handelt sich weniger um einen Richtungswechsel als um ein Zurückkehren der experimentellen Musik ans Festival”, so Jeanson.
Für Denis Schuler, Komponist und künstlerischer Leiter des Genfer Ensemble Vide, ist die neue Tätigkeit als Festivalintendant eine Weiterführung dessen was er aktuell tut. Die gemeinsame Co-Intendanz sei eine ideale Kombination. Denn beide brächten ihre individuelle Erfahrung und ihr Netzwerk ein. Ein gemeinsames ästhetisches Terrain und gegenseitige Neugierde sehen beide als Grundvoraussetzung der Zusammenarbeit.

Marie Jeanson & Denis Schuler © Gabrielle Weber, neo.mx3

Ma rencontre avec le futur ist in vielerlei Hinsicht repräsentativ. Denn jedes Einzelprojekt repräsentiert sie beide als Duo, beinhaltet also sowohl Komposition als auch Improvisation.

La musique c’est fait pour être vécue ensemble

Offenheit ist durchgängiges Prinzip. Das zeigt sich an der Dauer -ein ganzer Tag-, dem einheitlichen Ort -die maison communale de Plainpalais wird gesamthaft bespielt-, dem Rahmen -Gastfreundschaft mit gemeinsamen Mahlzeiten und Gefässen für den Austausch-. Denn: “Musik ist da, um zusammen gelebt zu werden”, so Schuler.

‘cohérence poétique’

Im Unterschied zur langjährigen Intendanz von Marc Texier will sich das Festival in Zukunft weniger auf die Musikschaffenden als auf das Publikum ausrichten. “Wir möchten einen Rahmen schaffen, wo man berührt wird durch eine poetische Kohärenz. Wir erzählen Geschichten und möchten in den Menschen ein Begehren wecken, wiederzukommen”, so Jeanson.

‘faire exister la création’

Am Festival-Wettbewerb um die meisten und besten Uraufführungen will Archipel nicht mitmischen. “Vielen geht es ja nur darum, die ersten zu sein, die irgendetwas tun oder zeigen”, so Schuler. Dem Duo geht es hingegen darum, die Kreation am Leben zu erhalten. “Uns interessiert die Mischung von Komposition mit dem was direkt im Moment entsteht. Bspw. wird an der Carte Blanche die holländisch-schweizerische Klangkünstlerin Cathy van Eck in ihrer Performance Klangverordnung die ganze maison communale bespielen und kurzfristig entscheiden wo sie wann auftritt.


Cathy van Eck, Klangverordnung, a performance for mobile loudspeaker horns 2012

‘partage de l’écoute’

Auch Transdisziplinarität steht nicht im Zentrum des künftigen Festivals. Vielmehr geht es um das ‘reine Hören’. “Wir möchten einen besonderen Rahmen schaffen in dem das konzentrierte Hören im Zentrum steht”, so Jeanson. Konzentration schaffe eine besondere Präsenz, die paradoxerweise der Stille fast nahekomme. An der Carte Blanche gibt es bspw. ‘Salons d’écoute‘, Räume für das reine Hören also, mit Klangdiffusionssystem (Acousmonium) und Soundingenieur. Wer will bringt eine eigene CDs zum gemeinsamen Hören und Besprechen mit.

Carte Blanche = ‘Mega-Metakonzert

Und es werden Musikschaffende zusammengeführt, die sich vorher nicht kannten. An der Carte Blanche treten bspw. Shuyue Zhao (Klarinette, China-CH) und Maximilian Haft (Geige, USA-Genf) erstmals zusammen auf. “Wir provozieren Begegnungen und schaffen den Rahmen: die Musiker*innen können in einem gegebenen Zeitrahmen spielen, was und wo sie wollen. Sie entscheiden kurzfristig, so dass es auch das Publikum überrascht wird”, so Schuler. Auch das Basler Ensemble Neuverband trifft neu auf die Improvisatorin Shuyue Zhao in einem komponierte-improvisierten Programm, u.a. mit einer Uraufführung der Komponistin Junghae Lee. Und zum Schluss tritt der Perkussionist Will Guthrie zusammen mit einem Gamelanorchester auf. Dabei geht es nicht zuletzt darum, wie verschiedene musikalische Kulturen kombiniert werden, ohne einer Art von Exotismus zu erliegen.


Shuyue Zhao, Noise fragments

Passages sind auch bei Ma rencontre avec le future zentral – zwischen Ländern, Genres, Musiker*innen und Publikum. “Ein Meta-Megakonzert mit allem was dazu gehört”, so Jeanson.
Interview Gabrielle Weber, Genf, 26. Februar 2020

Das Genfer Festival Archipel findet vom 26. März bis 6. April statt. Eingebunden sind alle wichtigen Klangkörper Genfs, zudem arbeiten zahlreiche Institutionen erstmals zusammen. Highlights bilden u.a. Coro von Luciano Berio, ein ‘Fresko’ für 40 Stimmgruppen als Koproduktion der Musikhochschulen Genf, Lausanne und Lugano in der Victoria Hall, oder eine Opern-Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Genève.

Ma rencontre avec le futur, 31. März 2020, 12-24h: Carte Blanche – Marie Jeanson & Denis Schuler, mit: Maximilian Haft & Shuyue Zhao, Cathy van Eck, Ensemble neuverBand, Will Guthrie & Ensemble Nist-Nah

Grand théâtre de Genève, Will Guthrie & Ensemble Nist-NahCathy van Eck, Maximilian Haft, Ensemble Vide, Denis Schuler

Sendungen SRG
RTS: Musique d’avenir, Redaktion Anne Gillot
SRF2 Kultur: Musikmagazin, 21./22.3., Redaktion Florian Hauser (abgesagt)

neo-profiles: Festival Archipel, Shuyue Zhao, NeuverBand, Denis Schuler, Ensemble Vide, Cathy van Eck