Utopien wahr werden lassen: der Komponist Michael Wertmüller

Die Musik des Komponisten Michael Wertmüller klingt anarchisch, virtuos und hochenergetisch. Von der kürzesten Komposition bis zum immersiven raumumspannenden Musiktheater verschränkt er in seinen Werken Ansätze aus Jazz und zeitgenössischer Musik: immer dramatisch, intensiv und mit voller Wucht. Ein Porträt von Gabrielle Weber.

Porträt Michael Wertmüller zVg. Michael Wertmüller

Gabrielle Weber
Ich liebe einfach das Verrückte und verrückt zu spielen. Ich mag Virtuosität“, so Michael Wertmüller im Gespräch. Das Extrem ist für Michael Wertmüller die Norm. Seine radikalen, Genregrenzen sprengenden Werke sind hochkomplex. Meist verweben sie minutiös notierte zeitgenössische Musik mit Jazz, Pop, Rock und Improvisation. 

Der Schlagzeuger und der Komponist

Der Schlagzeuger Wertmüller spielte zunächst in verschiedenen Fusion-Bands. Von da an verlief der Weg zum Komponieren organisch: Die Musik die er spielen wollte, musste zuerst erfunden werden und so begann er sukzessive, Stücke für seine Bands selbst zu komponieren: „Es war ein Mix zwischen Jazz, Rock, Death Metal und Hardcore. Aus heutiger Sicht ein wildes Durcheinander, das gebändigt werden wollte und gebändigt werden musste“, meint Wertmüller.

Seine Auftritte als Schlagzeuger wie auch seine ersten Kompositionen sind geballte hochkonzentrierte Wucht. In „check_in_swiss“ improvisiert Wertmüller bei einem Soundcheck für die Band Full Blast ein dreiminütiges Solo in durchgängig hoher Intensität.


Michael Wertmüller, Schlagzeugsolo check-in-swiss, 2001.

Als Schlagzeuger, zuerst im Berner Sinfonieorchester, später im Concertgebouw Orchester in Amsterdam, faszinierten Wertmüller Intensität, Kraft und Dramatik des klassischen Orchesterapparats. „Es war ein Riesen-Genuss mitten in diesem Orchesterapparat mit zu verfolgen, wie die Instrumente miteinander kommunizieren, wie dieses Geflecht der Kompositionen zusammenhängt. Das hat mich ganz brennend interessiert.“ Konsequent verlagerte sich Wertmüller dann ab 1995 durch ein Kompositionsstudium bei Dieter Schnebel an der Hochschule der Künste in Berlin ganz aufs klassische Komponieren.

Michael Wertmüller der Perkussionist © Francesca Pfeffer

Gegensätze zusammenführen

Parallel tourte er laufend mit Bands weiter, zum Beispiel mit dem ausstrahlenden Jazz-Saxofonisten Peter Brötzmann und dem Bassisten Marino Pliakas im Trio Full Blast weltweit bis zu Brötzmanns Tod im Juni 2023. „Das Unterwegssein, das Spielen im Jazzkontext ist immer ein wahnsinnig wichtiger Einfluss gewesen. Und gleichzeitig ist die Komposition oder die im weiteren Sinne klassische Musik ein starker Einfluss, wenn ich spiele.“

Peter Brötzmann gilt durch sein energisches Spiel als radikaler Jazz-Innovator und war nebst Dieter Schnebel die prägende Persönlichkeit für Wertmüllers Komponieren. Ich kannte Brötzmann seit ich 22 alt war, noch vor meinem Studium bei Schnebel. Er hat mich quasi mitgezogen und mitgenommen.“

 


Michael Wertmüller, antagonisme contrôlé, Uraufführungs-Konzert  6.4.2014,  WDR-Funkhaus Köln. Peter Brötzmann (Saxophon), Marino Pliakas (E-Bass), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Ensemble Musikfabrik, Leitung Christian Eggen.

„Die freie Form des Jazz und die ganz strenge serielle Musik: Das ist ein Riesen-Spagat und das beeinflusst sich gegenseitig wahnsinnig stark.“ Wertmüllers „klassisches“ Komponieren führt beide Musikgenres zusammen. Für Peter Brötzmann als Solisten komponierte Wertmüller drei Werke, in denen er Brötzmanns Improvisationen in komponierte Partituren für Neue Musik-Ensembles einband. „Das machte Brötzmann sonst nie. Es war für mich eine Ehre und zeigte, dass er die Verbindung von beidem respektiert und ästimiert hat“.
In antagonisme contrôlé für drei Solisten, Brötzmann, Pliakas und Schlagzeugsolo, und das Ensemble Musikfabrik, setzt Wertmüller mit improvisierten Soli von Brötzmann und Pliakas einen Kontrapunkt zum streng ausnotierten Satz des 19köpfig-besetzten Kölner Ensemble Musikfabrik. Es geht ihm darum, zwei gegensätzliche Welten in eine Form zusammenzuführen, den freien Geist des Jazz und serielles klassisches Komponieren, so dass beide ihren Charakter behalten.

Verschiedene Klangkörper verbinden

Die Zusammenführung gegensätzlicher klanglicher Welten verbindet Wertmüller mit der Band Steamboat Switzerland: Seit seiner Gründung 1995 verschränkt das Trio, bestehend aus Marino Pliakas, E-Bass, Lucas Niggli, Perkussion, und Dominik Blum, Hammond-Orgel, seinerseits Jazz, Rock, Metal und Improvisation mit zeitgenössischer Musik. In den eigenen Konzerten kombiniert die Band jeweils komponierte kurze Stücke in modularer Art mit Improvisationen. Michael Wertmüller wurde seit den ersten Begegnungen in den neunziger Jahren zu so etwas wie einem Hauskomponisten der Band. „Steamboat ist die radikalste Band, die Noten spielen kann, die ich überhaupt kenne. So kann ich auch wie ein Verrückter komponieren und es wird dann auch so gespielt: in einer unglaublichen Radikalität, was natürlich grandios ist für mich“, meint Wertmüller über seine selbstbezeichnete Lieblingsband.

Später bezog Wertmüller das Trio in zahlreiche seiner grossen Musikprojekte ein, oft in Verbindung mit klassischen Klangkörpern. „Steamboat ist eigentlich ein wahnsinniger Motor, ein Generator. Diese Präzision, wie sie Material spielen. Das inspiriert definitiv auch ein klassisches Orchester“, so Wertmüller.


Michael Wertmüller, discorde für Hammond-Orgel, E-Bass, Drum Set und Ensemble, Uraufführung Donaueschinger Musiktage 15.10.2016, Steamboat Switzerland, Klangforum Wien, Dirigent Titus Engel.

In discorde, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2016, spielt das Trio zusammen mit dem Klangforum Wien, dirigiert von Titus Engel. Wertmüller inszeniert hier eine eigentlichen «battle» der unterschiedlichen Musikgenres. Es geht ihm aber nicht um den Gegensatz, sondern um das Gemeinsame: „Sie waren der Motor in dem ganzen Gefüge. Das war ein Zug, der voll in die gleiche Richtung fuhr.“

 

Moderne Dramen – Utopien

„Ich habe nicht den Anspruch, Stile zu vereinen. Ich habe eher das Gefühl, dass die Stile sich im Laufe meines Lebens komplett vermischt haben. Eigentlich ist es auch eine dramatische Angelegenheit, wenn sich das so vermengt. Für mich ist es ein modernes Drama.“

Das dramatische Vermengen von Gegensätzen setzt Wertmüller ab 2013 in fünf internationalen Musiktheaterproduktionen um, bisher am konsequentesten in der experimentellen Oper D.I.E für die Ruhrtriennale 2021, wo auch das Szenische und der Raum integriert werden. In einer ausgedienten Industriehalle, der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord, ist das Publikum im Zentrum platziert, umgeben von einem Rundum-Laufsteg, der Steamboat, einem Streichquartett, einer Punkband, einer Rapperin, einer Conferencière und klassischen Sänger:Innen als Bühne dient. Verlebendigte holografische Musikvisualisierungen und vergrösserte Skizzen des Bildenden Künstlers Albert Oehlen umhüllen das Ganze. Zu D.I.E. produzierte Michael Wertmüller eine exklusive, limitierte Vinylauskoppelung, zusammen mit Albert Oehlen, der das Cover gestaltete: Das Album Im Schwung mit der Sängerin Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 


Michael Wertmüller / Albert Oehlen, Im Schwung, Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 

Ich habe manchmal Vorstellungen von einer Musik, die man so noch nicht kennt oder die so noch nicht gegeben hat. Für mich hängt Kunst auch in großen Teilen mit Utopien zusammen und ich versuche in diesen Bereich zu kommen, wo Utopie vielleicht auch Realität werden kann.“
Gabrielle Weber

 

Sonderband Musik-Konzepte Michael Wertmüller, edition text+kritik, Hg. Ulrich Tadday, Dezember 2024.

Am 25.1.25 erlebt Wertmüllers nächste Oper die Uraufführung:
Israel in München, Uraufführung 25.1.25 Staatsoper Hannover.

Peter Brötzmann, Dieter Schnebel, Albert Oehlen, Christina Daletska, Marino Pliakas

Sendungen SRF 2 Kultur
Musik unserer Zeit, 18.12.2024: Michael Wertmüller und das Trio Steamboat Switzerland, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neue Musik im Konzert, 18.12.2024: Michael Wertmüller im Konzert, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neoblog, 3.10.2020: Michael Wertmüller: “..der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”, Autorin Gabrielle Weber.

neoprofiles
Michael Wertmüller, Steamboat Switzerland, Lucas Niggli, Dominik Blum, Titus Engel

Ein moderner Kapellmeister – Titus Engel

Der in Berlin lebende Schweizer Dirigent Titus Engel ist ab dieser Saison Principal Conductor der Basel Sinfonietta. Ein Portrait von Jaronas Scheurer

Jaronas Scheurer
«Es gibt diese alte Kapellmeister-Tradition: Der Kapellmeister, der sozusagen im Opernhaus lebt und die ganze Musikgeschichte dirigiert, egal was kommt, und versucht, das auf möglichst gutem Niveau zu machen. Das finde ich schon irgendwie einen tollen Ansatz.» meint der Schweizer Dirigent Titus Engel einmal im Laufe des Interviews. Dementsprechend wehrt er sich auch gegen die Bezeichnung, er sei Spezialist für Neue Musik, obwohl er ab dieser Saison neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta ist. Das einzige Orchester der Schweiz, das sich ausschliesslich auf Musik nach 1950 spezialisiert hat. «Wenn ich Neue Musik dirigiere, z.B. eine Messiaen-Oper wie diesen Sommer in Stuttgart, dann ist eine Phrasierungs-Erfahrung z.B. von Johannes Brahms hilfreich, wenn plötzlich eine Kantilene kommt. Hingegen kann die oft sehr rhythmische Neue Musik wiederum viel helfen, wenn man bei traditioneller Musik die rhythmischen Parameter wirklich auf den Punkt bringen und schleifen möchte.» Damit sind schon einige Eckpunkte von Titus Engels Schaffen abgesteckt: eine präzise Klangsprache, eine dienende Haltung gegenüber dem jeweiligen Werk und eine grosse musikalische Breite.

 

Titus Engel, neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta, ©Kaupo Kikkas

 

Diese musikalische Breite war schon früh vorgezeichnet. Als Jugendlicher spielte er Kontrabass und Bassisten sind damals wie heute sehr gefragt. So war er bald in den unterschiedlichsten musikalischen Kontexten unterwegs: von Bach bis Boulez oder auch in Big Bands. Nachdem Titus Engel in Zürich und Berlin Philosophie und Musikwissenschaft studiert hatte, entschied er sich für eine Laufbahn als Dirigent und studierte in Dresden bei Christian Kluttig Dirigieren. Weitere Einflüsse kamen unter anderem von Peter Eötvös, Sir Colin Davis und Sylvain Cambreling.

Michael Wertmüller: The Blade Dancer, SWR Symphonieorchester unter Titus Engel, UA 2020 an den Donaueschinger Musiktagen

 

Steile Laufbahn

Schon in seinem zweiten Studienjahr konnte Engel die Uraufführung von Benjamin Schweitzers Oper Jakob von Gunten dirigieren. Kurz darauf wurde er musikalischer Leiter des Dresdner Ensemble Courage. Es folgten Auftritte in ganz Europa an den grossen Opernhäusern und Festivals z.B. 2020 an den Donaueschinger Musiktagen. Während die zeitgenössische Musik weiterhin einen grossen Stellenwert in seinem Repertoire einnahm, trat er auch immer wieder mit klassischer Musik oder gar mit Alter Musik hervor, so z.B. mit einer vielgelobten Inszenierung von Claudio Monteverdis Oper L’Orfeo mit dem Ensemble Resonanz 2006. Weitere Highlights von Titus Engels Laufbahn sind sicher das Dirigat von Karlheinz Stockhausens Oper Donnerstag aus dem Licht-Zyklus am Theater Basel 2016 und die Wahl als «Dirigent des Jahres» 2020 durch das Fachmagazin Opernwelt. Somit ist ein weiterer Eckpunkt Engels abgesteckt: die Oper. Obwohl – es scheint zu kurz gegriffen, Titus Engel einfach als Operndirigenten abzutun: «Für meine Arbeit ist das Zusammenspiel zwischen den Künsten wichtig.» meint er dazu. «Natürlich ist die Musik primär ein akustisches Phänomen, aber weil die Musik inhaltlich oft offen ist, glaube ich, dass die Zusammenarbeit mit anderen Kunstsparten der Musik und gerade der zeitgenössischen Musik auch guttut.» Titus Engel macht sich nicht nur bei Operninszenierungen Gedanken über den visuellen und szenischen Aspekt des Auftritts.

 

Simon Steen-Andersen: TRIO, SWR Symphonieorchester (Dir. Emilio Pomàrico), SWR Vokalensemble (Leitung Michael Alber) und SWR Big Band Leitung Thorsten Wollmann), UA 2019 an den Donaueschinger Musiktage

 

Darin spiegelt sich auch ein Vermittlungsgedanke, der Titus Engel wichtig ist, gerade wenn es um zeitgenössische Musik geht: «Mir geht es nicht um Ablenkung von der Musik, die sie in ihrem Kern schwächen würde, sondern ich glaube, gerade kreative Formate, die über das normale Konzert hinausgehen, können auch für ein breiteres Publikum interessant sein und letztlich auch die Konzentration auf die Musik schärfen.» So wird auch in der kommenden Saison der Basel Sinfonietta das konventionelle Konzertformat immer wieder gesprengt.  Beim Eröffnungskonzert am 1. Oktober 2023 wird das Stück TRIO von Simon Steen-Andersen gespielt, in dem sich ein humorvoller Dialog zwischen Videoaufnahmen von Orchesterproben und dem real spielenden Orchester entspinnt. Am 26. April 2024 spielen die Basel Sinfonietta und die Band des Zürcher Jazzpianisten Nik Bärtsch eine Neukomposition von Bärtsch, bei der das Lichtdesign eine wichtige Rolle spielen wird. Und am Schlusskonzert der Saison im Juni 2024, bei der ausschliesslich Kompositionen von Frauen gespielt werden, tritt die junge spanische Komponistin Gemma Ragués Pujol als Performerin auf und das Publikum kann beim Werk Earth Plays V von Cathy Milliken auf fossilen Steinen mitspielen. Video, Licht, Performance-Kunst oder Publikumspartizipation – für Titus Engel dürfen die Grenzen zwischen den Künsten, zwischen Musiker:innen und Publikum, zwischen den verschiedenen Musikrichtungen oder zwischen reinem Konzert und theatraler Inszenierung durchaus hinterfragt werden.

 

Die Basel Sinfonietta, ©Marc Doradzillo

 

Basel Sinfonietta – ein Orchester für die ganze Stadt

Diese Lust am Experiment und am künstlerischen Abenteuer teilt Titus Engel mit der Basel Sinfonietta. Sie ist für ihn das spannendeste Orchester der Schweiz: «Weil sie a) demokratisch organisiert ist. Das heisst, es kommt unglaublich viel Energie und Engagement vom Orchester selbst. Und b), weil sie in ihrer Offenheit für spannende Programme und ihrer Ausrichtung auf die zeitgenössische Musik total zu mir passt.» Er hat nun auch schon klare Ideen für seine Zeit bei der Basel Sinfonietta: So würde er gerne an einem eigenen «Sinfonietta-Sound» arbeiten. «Natürlich muss man in dem breiten Repertoire, was die Basel Sinfonietta spielt, sehr flexibel sein. Aber da was zu finden, was noch spezifischer ist, das interessiert mich. Also z.B. extreme Dynamik, auch mal den Mut, sehr süffig zu spielen. Dann wieder knackig und hart.» Und andererseits interessiert ihn die körperliche, performative Präsenz des Orchesters, was sich mit seinem Interesse an anderen Kunstformen verbindet. «Ich würde sehr gerne mit dem Orchester spannende Formate entwickeln: z.B. draussen am Rhein oder im Wald spielen, auch um noch ein breiteres Publikum zu erreichen. Dafür braucht es natürlich auch noch mehr Vermittlungsarbeit. Das heisst, dass wir auch Projekte machen mit gesellschaftlichen Gruppen, die nicht unbedingt ins Stadtcasino ans Orchesterkonzert gehen, dass wir zu diesen hingehen und gemeinsam Projekte entwickeln. Ich würde die Basel Sinfonietta gerne breiter in der Stadt abstützen, damit wir ein Orchester für die ganze Stadt werden.»

Titus Engel hat also einiges vor. Nur, die Basel Sinfonietta ist ein sich selbst verwaltendes Orchester. Die Musiker:innen können also bei der Programmierung mitentscheiden. Zweifellos wird er jedoch mit seinem Wunsch, die Basel Sinfonietta mittels unkonventionellen, spannenden Programmen und Formaten zu einem Orchester für die ganze Stadt Basel zu machen, bei den Mitgliedern offene Türen einrennen.
Jaronas Scheurer

 

Das Eröffnungskonzert der Basel Sinfonietta unter Titus Engel findet am 1. Oktober 2023 um 19:00 im Sportzentrum Pfaffenholz in Saint-Louis (F) statt.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musikmagazin, 30.9.2023: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Jaronas Scheurer.

Musik unserer Zeit, 20.2.2019: Der Derwisch: Titus Engel, Redaktion Florian Hauser.

Musikmagazin, 1.2.2014: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Mariel Kreis, Redaktion: Florian Hauser (ab Min. 28:47).

Neo-Profile:
Titus Engel, Basel Sinfonietta, Gemma Ragués, Michael Wertmüller, Simon Steen-Andersen, Nik Bärtsch, Donaueschinger Musiktage

“der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”

Michael Wertmüller schreibt Beethovens Fragment der 10. Sinfonie weiter. Zu hören ist das Resultat in der Kölner Philharmonie am 14. Oktober. An den Donaueschinger Musiktagen* kommt gleich danach ein neues Werk zu Uraufführung: Ein regelrechter Sprint fürs SWR Sinfonieorchester, das sich in reduzierter Grösse den Bedingungen erhöhter Hygiene-Ansprüche zu stellen hat.

Der Wahlberliner vermischt meisterhaft Musik-Stile, Genres, Formate und Formationen. Er ist zugleich als Jazzschlagzeuger wie auch als Komponist international unterwegs. Und seine Stücke sind stets schrill, schnell, und hochkomplex. Damit rüttelt er permanent an Neue Musik-Clichés und lässt sich nirgends verorten.

Wertmüller und Beethoven oder Wertmüller und die Pandemieauflagen: geht das?

Ob und wie, verrät Wertmüller im Interview per Zoom nach Frankfurt, wo er sich gerade für Besprechungen zu einer kommenden Musiktheaterproduktion aufhielt.

Full blast, Peter Broetzmann sax, cl Marino Pliakas e-b Michael Wertmueller dr

Gabrielle Weber
Sie sind in Frankfurt, Sie arbeiten wieder mit Leuten zusammen, reisen.. Hat sich Ihr Arbeiten seit der Pandemie verändert?  Mehr online, weniger Reisen..?

Mein Arbeiten als Komponist hat sich nicht verändert – ich war schon vor Corona auch mal wochenlang allein zu Hause und habe niemanden gesehen. Natürlich gibt es weniger Treffen, arbeite ich mehr per Zoom – wie alle. Bis auf das Wegbrechen von Live-Auftritten hat sich wenig verändert.

Ist an Live Konzerten Vieles ausgefallen?

In den letzten fünfzehn Jahren machte ich quasi ein Cross-Fade durch: das Verhältnis kippte von vielen Tourneen und temporärem Komponieren ins Gegenteil. Deshalb war es für mich nicht so einschneidend: Nur eine grosse USA-Tournee mit meinem Trio wurde abgesagt.

Ihr Trio: Full Blast?

Ja genau, meine Jazzband mit Peter Brötzmann und Marino Pliakas. Es war eine grosse USA-Tournee geplant, quer durchs Land, von Ost nach West. Diese Absage schmerzt. Zumal wir in der Vergangenheit einige erfolgreiche Tourneen in den Staaten hatten. Wir wurden an diverse Festivals eingeladen und waren oft ohne staatliche Unterstützung, quasi selbsttragend unterwegs.


Michael Wertmüller, Full blast, Suzy, 2008

Sie stecken mitten in den Vorbereitungen zu Ihrer 10. Sinfonie in Köln.. Ihr Stück ist in eine Trilogie** eingebunden.. Teil eins wurde aufgrund der Pandemie auf später verschoben, Teil zwei anders konzipiert: gab’s auch bei Ihrem Projekt unsichere Momente?

Interessanterweise nicht. Es spielt ja in der Philharmonie. Die ist riesengross, hat 2100 Plätze. Und das Projekt war immer kammermusikalisch angelegt. Ob noch was kommt, weiss ich nicht…Es werden aber auch nur 200 Personen reingelassen.

Es sind ja noch drei Wochen bis dahin… wie sieht ihr Projekt aus?

Mein Stück, die 10. Sinfonie, findet im grossen Saal statt. Es ist ein konzertantes Musiktheater. Ich vertonte einzelne Passagen aus einem Text von Gesine Danckwart, einer jüngeren Berliner Autorin. Es interpretieren drei Sängerinnen, zwei Streichquartette und zwei Ensembles. Insgesamt sind es um die 25 Musikerinnen und Musiker.

Daneben gibt’s ein anderes, getrenntes Projekt, eine Klanginstallation. Die ist an vier Tagen zu erleben, im ganzen Haus verteilt.

Sie komponierten Beethovens 10. weiter?

Das war eher ein Arbeitstitel. Es gibt ja nur kleinste Fragmente, nicht mehr als vier-fünf-taktige Skizzen. Ich verwendete nur ein klitzekleines Thema. Beethoven ist in diesem Projekt relativ irrelevant für die Töne an sich. Novoflot, die fürs Projekt verantwortliche Opernkompanie, stellte sich und mir die (grosse) Frage: wie würde Beethoven heute klingen?

Relevant ist für mich, dass ich überhaupt zu Beethoven gefragt wurde. Denn ich wäre fast beleidigt gewesen, wenn ich zum grossen Beethoven-Jubiläum nichts hätte machen können. Ich bin der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten.

“..ich bin der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”

Wie kam es zu dieser Begeisterung?

Ich war schon als Kind Fan von seiner Musik. Wie auch von Miles Davis und John Coltrane.. Ich bin eigentlich ein einfacher, recht romantisch veranlagter Typ. Ich kann mich begeistern..

Portrait Michael Wertmüller

Äussert sich die Begeisterung in Ihrem Komponieren?

Beethoven ist dauernd im Unterbewusstsein präsent. Die Musik, die ich liebe, die begleitet mich immer und überall, auch im Alltag. Auch Coltrane, Miles, oder Bruckner und Shostakovich. Das fliesst automatisch in meine eigene Musik ein, sei es, dass ich spiele oder dass ich komponiere.

Wird’s in Köln konkreter oder bleibt’s beim Unterbewussten?

Es bleibt beim Unterbewussten. Die Frage wie Beethoven heute komponieren würde, beantwortet unsere Besetzung: Johnny La Marama, eine angesagte Berliner Jazzband, dazu das Ensemble of Nomades, das bringt die Neue Musik ein, und drei Sängerinnen mit klassisch-romantischen Background. Das sind die drei Welten, die für mich heutzutage gültig sind. Und das zu verbinden, könnte sicherlich etwas sein, was Beethoven heute gewollt hätte.

Es heisst oft, die Musiker seien restlos überfordert, wenn Sie Ihre Stücke zu interpretieren haben, und das Publikum auch.. wird das diesmal so sein?

Die Musik wird relativ verträglich, sogar gefällig  sein. Sehr harmonisch und auch tänzerisch. Wehtun könnte höchstens die Intensität. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich dem Publikum viel zutrauen kann – ich unterschätze es nicht.


Michael Wertmüller: Musikfabrik Köln, Antagonisme contrôlé, 2014

In Donaueschingen gibt es gleich danach ein neues Stück von Ihnen in der Baarsporthalle zu hören…

Donaueschingen ist jedes Mal eine grosse Herausforderung. Diese ganze Tradition, immer wieder. Auch wenn ich schon öfters eingeladen wurde, überlege ich mir dafür immer extra etwas dazu.

..ein “grössenwahnsinniges Stück..”

Das Stück hatte sich den Bedingungen erhöhter Hygiene-Ansprüche zu stellen.. eine Kammermusikminiatur..

Es ist absolut keine Miniatur. Ganz im Gegenteil: es ist “grössenwahnsinnig” geworden. Und zwar absichtlich. Wegen dieser Corona-Betroffenheit. Die ist überall und die habe auch ich.

“Grössenwahnsinnig”? Dann waren die pandemiebedingten neuen Vorgaben inspirierend, nicht ärgerlich?

Die Besetzung wurde reduziert, das normale Sinfonieorchester quasi halbiert. Damit hatte ich keine Probleme. Ich habe das Stück solistisch besetzt und extra virtuos geschrieben. Es wird eindringlich, pathetisch, schrill und sehr virtuos. Ich habe keine Mühe damit, zu antizipieren. Als Musiker, als Künstler müssen wir antizipieren können, sonst sind wir verloren.

..antizipieren..?

Ich nehme die Situation ernst und habe vollstes Vertrauen in die Regierung, in die Experten. Jetzt gilt es aber durchzuhalten und konsequent zu bleiben.

Und die Dinge, die ich jetzt machen darf – wir können ja momentan froh sein, wenn überhaupt Kultur stattfindet-, möchte ich richtig machen: wenn schon, denn schon. Ich möchte jetzt aufschreien, richtig laut und richtig wild – das tue ich mit meinem Stück. Es wird ein Schrei, ein Aufschrei.
Interview: Gabrielle Weber


Michael Wertmüller, Zeitschrei für Piano, Bass, Schlagzeug, Steamboat Switzerland, 2015

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**im Rahmen des Berliner Projekts Labor Beethoven 2020 – Festival zeitgenössischer Musik zum Beethoven-Jubiläum, in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste Berlin


#3 Die 10. Sinfonie, 14.10.2020, 20h: Philharmonie Köln: Novoflot Opernkompanie, Ludwig van Beethoven, Michael Wertmüller.
Weitere Vorstellungen sind im Dezember in Berlin geplant (Daten&Ort folgen später)

Neues Werk Donaueschinger Musiktage, 16.10.2020, 18h / 21h*:
SWR Symphonieorchester, Eröffnungskonzert, Dirigent Titus Engel: Paul Hindemith, Kammermusik Nr.1 (1922), Michael Wertmüller, Neues Werk / UA; Oliver Schneller, The New City / UA, Lula Romero, displaced / UA, Klaus Lang, Neues Werk / UA, Cathy Milliken, Neues Werk / UA

*DONAUESCHINGER MUSIKTAGE kurzfristig ABGESAGT (12.10.20):
Am Freitag, 16. Oktober um 20 Uhr, sendet SWR2
einen Probenmitschnitt des Eröffnungskonzerts.

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Neo-Profiles: Michael Wertmüller, Steamboat Switzerland, Donaueschinger Musiktage

Out of the box

Oscar Bianchi, künstlerischer Leiter der International Young Composers Academy am Festival Ticino Musica im Gespräch

Out of the box: Oscar Bianchi@Musica viva, München, 2.7.17 © Astrid Ackermann

Gabrielle Weber
Klassische Kompositionen und transdisziplinäre Formate in Verbindung mit Tanz bilden die Eckpfeiler der dritten International Young Composers Academy des Festival Ticino Musica. Für internationale Ausstrahlung sorgen Dmitri Kourliandski und das Ensemble Modern Frankfurt.
Im Interview berichtet Oscar Bianchi über die Ausrichtung der kommenden Edition.

Oscar, vor drei Jahren übernahmst Du vom Gründer Mathias Steinauer die künstlerische Leitung der international Young Composers Academywas sind die Neuerungen die Du einbrachtest?
Seit 2018 laden wir ein arriviertes Spitzenensemble der zeitgenössischen Musik ein. Zudem steht jedes Jahr ein anderes Format im Zentrum. Dieses Jahr ist das Ensemble Modern Frankfurt zu Gast.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern?
Ich kenne die Energie und das Comittment des Ensembles durch frühere Zusammenarbeiten, wie bspw. dem Projekt Connect in Frankfurt 2016, das die Beziehung zwischen Komponist, Ensemble und Publikum thematisierte.

“Ich benutze meine eigene Erfahrung als Filter um die richtigen Partner zu engagieren.”

Die Mitglieder des Ensembles haben eine klare musikalische Vision verbunden mit stilistischer Offenheit. Und vor allem: sie sind neugierig darauf, wonach junge Komponierende suchen.

Oscar Bianchi Orango, Projekt Connect ©Ensemble Modern Frankfurt 2016

Was ist das diesjährige Format?
Wir schrieben zwei Kategorien aus: klassische Instrumentalstücke und multidisziplinär Projekte. Es gibt zwei entsprechende Konzerte. Eingegangen sind über 100 Bewerbungen. Zusammen mit Olga Neuwirth, der Juryvorsitzenden, wurden 14 Komponierende aus der ganzen Welt, aus Taiwan, Iran, Süd- und Nordamerika, Europa oder Südafrika ausgewählt. Durch eine Kollaboration mit dem Festival TicinoInDanza erhalten sie die Gelegenheit mit Tänzern und Choreografen zusammen zu arbeiten. Solche Erfahrungen eröffnen neue Perspektiven.

“Es ist wichtig, dass Komponierende “out of the box” denken.”

14 Komponistinnen und Komponisten sind eine grosse Anzahl. Wie muss man sich das gemeinsame Arbeiten vorstellen?
lacht: Dazu kommen noch zehn passive Beobachter. Uns geht es explizit um das Arbeiten als Gruppe. Das kommt der Musik und dem Austausch zu Gute. Elitäres Wettbewerbsdenken mit einem winner ist nicht gefragt.

“Es geht um ein Collective project. Gruppe anstelle Elite”

Es gibt diverse Conferences und Lectures, u.a. mit Dmitri Kourliandski und Gästen wie Katharina Rosenberger oder Michael Wertmüller. Davon profitieren alle. Dennoch: ein besonders gutes Werk bleibt in Erinnerung.

Ensemble Modern &Oscar Bianchi ©Walter Vorjohann

Was für Säle wurden für die zwei Konzertformate gewählt?
Das Klassische Konzert findet im Foyer des LAC (Lugano Arte e Cultura) statt, ein Ort der verschiedene Kunstsparten beherbergt und Begegnungen von Einheimischen und Touristen ermöglicht, das multidisziplinäre Konzert in Mendrisio im Chiostro dei Serviti, in einem Innenhof im Freien.

Bedeutet die Wahl eines Offspaces in Mendrisio nicht auch ein Risiko in Bezug auf das Publikum? Die zeitgenössische Musik-Community im Tessin ist ja eher klein..
Das Konzert ist in das Festival Musica nel Mendrisiotto eingebunden, eine Reihe mit interessiertem Stammpublikum. Die Musik hat eine visuelle Komponente, profitiert vom Zusammenwirken mit anderen Kunstsparten und spricht ein breites Publikum an.

“Neue Musik sollte ein Level playing field werden – das wäre mein Traum.”

Konzert Int. Composers Academy 2018, Mendrisio Museo Vela ©Ticino Musica

Hast Du eine weitere Vision für die Composers Academy – wo siehst Du ein Entwicklungspotenzial?
Dank der Unterstützung der Art Mentor Foundation Lucerne konnten wir ein Spitzenensemble einladen und Scholarships vergeben. Meine Vision wäre, die Akademie inklusive Reise und Unterkunft kostenfrei anzubieten, damit die Teilnahme gleichberechtigt allen offen stünde. Die Neue Musik ist Teil eines Systems das Ausschluss schafft. Ich möchte solche Diskriminierung unterbrechen.
Interview Gabrielle Weber

Festival Ticino musica, erwähnte Konzerte:
27 Luglio 2019, 18:00, Ticino Musica, Mendriso, Chiostro dei Serviti
28 Luglio 2019,  21:00, Ticino Musica, Lugano, LAC

Kooperation mit:
Musica nel Mendrisiotto, TicinoInDanza

neo-profilesOscar BianchiEnsemble Modern, Ticino Musica, Mathias Steinauer, Katharina Rosenberger