Musik ist Kommunikation: Komponistin Katharina Rosenberger

Zum zehnten Mal werden 2023 die Schweizer Musikpreise verliehen: nebst dem Grand Prix an den Genfer Jazz-Trompeter Erik Truffaz werden am Musikfestival Bern am 8. September weitere 10 Preise und Spezialpreise vergeben. In einer Sommerserie portraitiert der neoblog einige der Preisträger:innen. Katharina Rosenberger, Komponistin, Kompositions-Professorin in Lübeck und Co-Intendantin des Zürcher Festival für zeitgenössische Musik Sonic Matter bildet den Auftakt. Katharina Rosenberger arbeitet mit intermedialen Verflechtungen zwischen Musik, Text und Bild und bindet das Publikum meist in Performanceprozesse ein. Dabei geht es ihr um Kommunikation, um Dialog und ums Partizipieren an der zeitgenössischen Musik.

Katharina Rosenberger im Interview mit Florian Hauser.

 

Portrait Katharina Rosenberger © Hans Gut

 

Florian Hauser
Einen der begehrten Schweizer Musikpreise zu bekommen, ist schon etwas Besonderes und zeugt von hoher Wertschätzung Ihrer Arbeit. Wie sieht es demgegenüber mit der Wertschätzung Ihrer künstlerischen Arbeit im Alltag aus? Sie müssen ja tun, was Sie tun müssen und wollen. Und das ist ja nicht unbedingt massenkompatibel. Sie machen keine Blockbusterfilme… Wie reagiert Ihr Publikum auf ihre Kunst?

Ich bin immer sehr berührt, wenn Menschen auf mich zukommen und auf meine Musik reagieren. Es sind Personen, die ich nicht kenne oder auch Personen, die keine Insider sind, also nicht selber Musiker*innen. Oft reagieren sie sehr positiv – und oft geht es ihnen dabei darum, etwas Neues entdeckt zu haben. Wenn sie sich auf dieses Neue, Ungekannte eingelassen haben und dann positiv überrascht sind, macht mich das sehr glücklich. Eigentlich sind das ja dann die idealen Fans, die mit Offenheit kommen und einfach mal reinhören wollen… Es gibt natürlich auch Momente in denen das Publikum sehr zweischneidig reagiert. Von: ‘um Gottes Willen, was war denn das für ein Stück!’ bis zu: ‘Wow, das ist das Tollste, was ich seit langem gehört habe’.

 

Die Kommunikation mit dem Publikum ist Ihnen ja per se sehr wichtig. Sie interagieren mit den Leuten, Sie binden sie auch in Performanceprozesse ein. Warum?

Lassen Sie mich mit einem Beispiel antworten: Ein Duett (innerhalb einer Videooper, die am Theaterspektakel Zürich uraufgeführt wurde) habe ich La Chasse genannt. Zwei Sängerinnen stehen sich in einer gewissen Distanz gegenüber. Das Publikum sieht sie nur im Profil. Und dann beginnen die Stimmen sich zu jagen. Anfangs nur mit Klängen wie wah, wah, wah wah! Sehr abstrakt, sehr reduziert. Es gibt keine Melodie. Und es ist nicht so einfach, sich das anzuhören. Aber als Leute aus dem Publikum auf mich zukamen und von der Erfahrung erzählt haben, wie gewaltig diese Klänge im Raum waren, wie sehr sich die Körper in die Struktur der Musik eingliederten, ging mir ein Licht auf: Die Verbindungen zwischen Klang und Raum, den Performerinnen und dem Publikum sind unheimlich wichtig. Es geht primär nicht nur um die Musik selbst, also dass die Musik auch nur sich selbst genügt, sondern es geht wirklich um Dialog und Austausch mit dem Publikum, mit der Umgebung.


La Chasse von Katharina Rosenberger in einer Instrumentalinterpretation durch das Landmann-/Stadler-Saxofonduo, aufgenommen in NYC 2018.

 

Erzählen Sie noch von einem anderen Beispiel!

Das Projekt Urban morphology. Das ist eine begehbare Konzertinstallation, die musiktheatralische Elemente hat und auch partizipativ ist. Das Publikum ist eingeladen, aktiv mitzumachen. Es geht um den Städtewandel: Was passiert, wenn zum Beispiel durch luxuriöse Neubauten Nachbarschaften, in denen wir aufgewachsen sind, verschwinden? Wenn das, dem ich mich zugehörig fühle, plötzlich nicht mehr existiert? Also Orte, in denen ganz viele Erinnerungen Platz haben: Wenn das wie weggewischt ist, was passiert dann mit uns? Was passiert, wenn diese Strukturen weg sind, die architektonischen, die sozialen, die klanglichen Komponenten, an denen wir uns orientieren?

Das Publikum konnte sich entscheiden, wie es sich bewegt. Ob es zuerst zu einer Performance-Insel geht oder sich ein Video ansieht, ob es eine ganz normale Konzertsituationen mit einem sehr fokussierten Zuhören will oder in einer Installation Velo fährt, um Elektrizität zu erzeugen und Licht zu spenden.

Das Publikum konnte also mitentscheiden, wie es die verschiedenen Informationen zusammenbaut. Bei solchen Projekten merke ich immer wieder, wie wichtig die intermedialen Verbindungen zwischen Text und Musik sind, zwischen Bild und Musik, den Räumen, den Körpern. Wie sich Räume öffnen fürs Publikum, wo es an Situationen anknüpfen kann, die mit ihren eigenem Alltag zu tun haben. Daraus ergeben sich immer wieder neue Fragen: wie höre ich Musik, wie wird Musik aufgeführt? Und es ergeben sich neue Erkenntnisse. Das ist faszinierend.

 

Sie sind sehr kommunikativ…

Ja klar. Ich mag es auch sehr, mit Musikerinnen, mit denen ich zusammenarbeite, über längere Zeiten in Kontakt zu sein.

 

Es gibt Komponisten, Komponistinnen, Kollegen, Kolleginnen von Ihnen, für die ist es vollkommen ausreichend, am Kompositionsschreibtisch zu sitzen und Strukturen zu entwerfen. Das war für Sie nie eine Option?

Doch schon. Das eine schliesst das andere nicht aus, oder? Es gibt natürlich Phasen, da bin ich enorm zurückgezogen. Aber wenn ich mich jetzt mit Städten auseinandersetze, dann will ich durch diese Strassen laufen, die Menschen kennenlernen. Um den Kern, den Inhalt eines Projekts zu erforschen. Zum Beispiel auch bei der Installation quartet – bodies in performance, wo ich nur die Rückenmuskulatur von vier Musiker*innen gefilmt habe. Man kann sich ja vorstellen, dass je nach Musikinstrument die vielen, vielen Jahre, die man übt, die Rückenmuskulatur jeweils ganz anders formen. Jede Performance hatte ihr eigenes Bild im Endlosschwarz, es kam nur der Rücken vor, der gespielt hat. Und das war wieder eine ganz neue Art für das Publikum, Performance zu erleben. Also Klang durch die Muskulatur zu sehen.

 


Auch in Katharina Rosenbergers Klang- und Videoinstallation The journey wurden die Sänger:innen aus ungewohnt-nahen Perspektiven gefilmt, Neue Vokalsolisten Stuttgart, Regie Lutger Engels 2020

 

Es sind jeweils lange Wege zum Ergebnis, gemeinsame Wege. Aber wie kommen Sie auf solche Ideen? Sie laufen mit weit ausgefahrenen ästhetischen Antennen durch die Welt und zack, springt sie ein Thema, eine Thematik an?

Mein roter Faden ist: Im Mittelpunkt steht der Mensch, sei es jetzt der Performer mit seinem, ihrem Körper, sei es das Publikum mit seinen Ohren, Augen, Körpern. Und um was geht es? Was berührt uns eigentlich? Das ist die Frage. Was für eine Bedeutung hat die Musik auch in Zeiten der Krisen, der Zeiten, der Umorientierung? Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich als Künstlerin das wegweisend in meinen Stücken präsentiere. Aber es geht um das Hinterfragen, das Hinter-Sinnen durch neue klangliche, bildliche Situationen. Darum, sich mit dem Moment auseinanderzusetzen. Also das ist nicht ein Muss. Ein Publikum muss nie müssen. Aber ich möchte die Türen öffnen, dass es möglich ist.
Florian Hauser

 

Portrait Katharina Rosenberger © Kaspar Ruoff


Schweizer Musikpreise 2023:
Grand Prix Musik: Erik Truffaz
Musikpreise:
Katharina Rosenberger, Ensemble Nikel, Carlo Balmelli, Mario Batkovic, Lucia Cadotsch, Sonja Moonear, Saadet Türköz
Spezialpreise:
Helvetiarockt, Kunstraum Walcheturm, Pronto 

Sendungen SRF Kultur:
Musikmagazin, 13.5.23, Schweizer Musikpreise 2023, Redaktion Florian Hauser, Café mit Katharina Rosenberger (ab Min 4:55)

SRF Kultur online, 11.5.23: Trompeter Erik Truffaz erhält den Grand Prix Musik, Redaktion Jodok Hess:

Musik unserer Zeit, 11.1.2023: Komponieren! Mit Katharina Rosenberger, Redaktion Florian Hauser

Musik unserer Zeit, 8.12.2021: «Sonic Matter» – ein aussergewöhnliches Musikfestival in Zürich, Redaktion Moritz Weber

Musik unserer Zeit, 8.8.2018: Shift – eine Begegnung mit der Komponistin Katharina Rosenberger, Redaktion Cécile Olshausen

neoprofiles:
Katharina Rosenberger, Swiss Music PrizesFestival Sonic Matter, Ensemble Nikel, Kunstraum Walcheturm

 

 

Poetisch-futuristische Expedition

Ein Projekt in der grossen Halle des Pariser Centre Pompidou zu realisieren ist etwas Einzigartiges. Der Schweiz-Französische Komponist Mathieu Corajod und die Bieler Compagnie Mixt Forma erleben dies mit ihrem ersten gemeinsamen Werk gleich am ausstrahlenden Pariser Manifeste-Festival. Das interdisziplinäre Projekt Laquelle se passe ailleurs, ein «szenisches Gedicht für vier hybride Performer», verwebt Musik, Text, Tanz und Schauspiel mit Elektronik. Es kommt auch in der Schweiz mehrfach zur Aufführung. Im Zoom-Interview nach Paris, wo sich Corajod gerade am IRCAM mitten in den Schlussproben befand, sprach er über seinen Ansatz von Musiktheater, Hybridität und Interdisziplinarität.

 

Gabrielle Weber
Die Compagnie Mixt Forma gründete Corajod mit Ziel, die Möglichkeiten experimentellen Musiktheaters mit Gleichgesinnten zu erforschen. Laquelle se passe ailleur wurde während zwei Jahren gemeinsam entwickelt und überzeugte in ersten Projektetappen bereits die Pariser Association Beaumarchais-SACD, die die Realisation durch einen Förderpreis möglich machte. Und das bezeichnenderweise im Bereich der Choreografie.

Den Hintergrund in Musiktheater bringt Corajod vom Studium an der Hochschule der Künste Bern mit, wo er auch Chloé Bieri, Sängerin, und Stanislas Pili, Perkussionist, kennenlernte, zwei Mitglieder der jungen Compagnie.

 

Portrait Mathieu Corajod © Liliane Holdener

 

Corajods eigene Vorstellung geht in der Verwebung verschiedener Disziplinen, Medien und Technologien weit über das traditionelle Verständnis von experimentellem Musiktheater als szenische Strömung der zeitgenössischen Musik hinaus. Im weiterführenden Studien am Pariser IRCAM befasste er sich intensiv mit Elektronik wie auch mit zeitgenössischem Tanz. Insbesondere die Verschmelzung von Komposition und Choreografie liess ihn nicht mehr los. In Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen Pierre Lison und Marie Albert erarbeitete er sein erstes Stück für Tanz. Weitere folgten, wobei auch der zusätzliche Einsatz von Stimme, sowie kollaborative und inklusive Aspekte für Corajod zentral sind. Gemeinsam mit Lison zeichnet Corajod nun auch für die Choreografie von Laquelle se passe ailleurs, wobei Lison erneut als Tänzer-Performer mitwirkt.

 

Mathieu Corajod, ça va bien avec comment tu vis (2019)  für zwei TänzerInnen und Elektronik, Marie Albert und Piere Lison

 

Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche

Ergänzt durch den Schauspieler Antonin Noël, unternehmen die vier Performer:innen des Stücks eine gemeinsame «poetisch-futuristische Expedition». Die je eigene Expertise bringen sie dabei so ins Ganze ein, dass etwas komplett Neues entsteht. Sie seien Forscher:innen auf einer gemeinsamen Suche, so Corajod. Er bezeichnet diese Art von Zusammenarbeit als „Hybridisierung“. Da ist einerseits die Hybridität zwischen Körper und Maschine, ermöglicht durch ein technisches Dispositiv auf der Bühne in Koproduktion mit dem IRCAM. Andererseits agieren die Performer:innen selbst hybrid. Alle führen alles aus. Sie bringen dabei ihren eigenen Zugang ein und lernen voneinander.

 

Interdisziplinarität ist immer dabei- ob sichtbar oder unsichtbar

Laquelle se passe ailleurs sei von Anfang an intermedial gedacht gewesen. „Die Impulse, die ich durch den Tänzer, den Schauspieler und den Schriftsteller erhielt, haben die Forderungen an die Bühne extrem erhöht“, sagt Corajod. Der französische Autor Dominique Quélen trug neue Texte bei, die wiederum auf Ideen der Companie zurückgehen. Sie wurden dann in Musikpartitur und Choreografie übersetzt. Für einen Auftritt der Sängerin Bieri bspw. hätten sie einen der Texte nicht nur strukturell, sondern Silbe für Silbe auf einzelne Gesten übertragen, und Bieri ergänzt dies durch spezielle Klangfarben der Stimme. Alles sei in jedem der auftretenden Körper vorhanden – Tanz, Text und Musikalisation, meint Corajod dazu. Interdisziplinarität sei immer dabei, auf die eine oder die andere Art, ob sichtbar oder unsichtbar.

 


Chloé Bieri in Five young lights für Stimme und Elektronik von Pietro Caramelli, 2019

 

Szenen einer Exploration – verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz 

Eine eigentliche Geschichte gibt es im Stück keine. Hingegen arbeiteten sie mit versteckten Erzählungen, die sich die Mitwirkenden gegenseitig ausmalten, um auf der Bühne agieren zu können. „Bei der Entwicklung eines Stücks tauchen immer Fragen auf wie: Wer bin ich in diesem Stück? Was mache ich? Wie verhalte ich mich? Und es hilft bei der Interpretation, sich etwas imaginieren zu können“, meint so Corajod. So entstanden verschiedene Szenen einer Exploration mit einer Art lückenhaften Handlung, verbunden durch einen spielerisch-poetischen Ansatz: „Wir wollen das Publikum auf diese Reise mitnehmen“, sagt Corajod und vergleicht die Atmosphäre des Projekts mit Filmen von Andrei Tarkowski, David Lynch oder Stanley Kubrick.

Auch die Choreografie verfolgt keine Handlung. Sie hätten unterschiedliche Strategien für einzelne Szenen angewandt. Nur manche, wie Bieris‘ Solo, seien ganz auschoreografiert. Andere basierten auf Improvisation und seien dann Schritt für Schritt einstudiert und fixiert worden. In einzelnen Objekten des Bühnenbilds befinden sich zudem Bewegungssensoren, die bei Manipulation durch die Performer:innen Klang erzeugen. Und diese Manipulationen wiederum sind bis ins Detail choreografiert.

 

Compagnie Mixt Forma © Anna Ladeira

 

Was ihn dabei interessiere, sei, Bewegungen so zu gestalten, dass sie im größeren Zusammenhang der Bühne etwas auslösten, sagt Corajod. Als Bestätigung für diesen neuartigen Ansatz, Choreografie und Komposition eng miteinander zu verweben, sieht er die Förderung der SACD für die Choreographie. Sie sei einerseits eine Auszeichnung und freue ihn andererseits besonders, da er von der Musik herkomme. Die Produktion werde dadurch nicht „nur“ in der zeitgenössischen Musik, sondern auch im Theater- und im Tanzbereich wahrgenommen.

 

Mathieu Corajod et Pierre Lison (mouvement), Axes (2021), Instrumentaler Tanz, Duo Alto, UA Paris 2021

 

Denn Corajod möchte zeitgenössische Musik auch an ein breiteres Publikum bringen und er lotet dabei stets die Grenzen des Genres aus. Mit seinem Vorgängerprojekt, der experimentellen Oper Rendez-vous près du feu, aufgeführt im Rahmen der „Nancy Opera Experience“ am Festival Musica 2022, gelang ihm das: Corajod war nicht nur Komponist, sondern zeichnete auch für die Regie. Das neue Werk fand teils im Freien – auf dem weitläufigen Platz Stanislas vor der Oper – teils im Innern der Opéra national de Lorraine statt. Mitglieder des Opernorchesters und Darsteller:innen spielten im Innern, nah an den Fenstern zum Platz. Der Chor sang als Flash-Mob- im Publikum auf dem Vorplatz, und das Geschehen wurde per Videomapping auf die Fassade projiziert.

 

Mathieu Corajod, Rendez-vous près du feu (2022): Théâtre musical und experimentelle Oper vereinigt in einem aussergewöhnlichen Format (In situ, Videomapping, Flash-Mob), Kompositionsauftrag Opéra national de Lorraine und Festival Musica

 

Die Oper öffnete sich zum Platz und zur Stadt und wurde durch Licht, Szenographie und Aktionen anders als üblich belebt – und sie zog zahlreiche zufällige Passant:innen während des ganzen Stücks in den Bann szenischer hybridisierter zeitgenössischer Musik.

Nach den beiden Grossprojekten ist nun erstmal eine kreative Pause angesagt, in der sich Corajod seinem Forschungsprojekt zum Schweizer Musiktheaterpionier Hans Wüthrich widmet.
Gabrielle Weber

Laquelle se passe ailleurs :
2. / 3.6.23, 19:30h,Theater am Rennweg 26 Biel
8.6.23, 20h, Gare du Nord Basel
12.6.23, 20h, Festival ManiFeste, Centre Pompidou Paris
9.9.23, 21h, Musikfestival Bern, Dampfzentrale Turbinensaal

Festival ManiFeste IRCAM/Centre Pompidou Paris, 7. Juni – 1. Juli 2023

IRCAM, Nancy Opera Experience, Opéra national de Lorraine, Musica Festival Strasbourg

Neo-Profile:
Mathieu CorajodCompagnie Mixt FormaChloé BieriHans WüthrichGare du Nord, Musikfestival Bern

Offen für Menschen und Musik

Friederike Kenneweg
„Es fällt gerade schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren“, sagt die Pianistin Tamriko Kordzaia, als ich sie Anfang März zu einem Zoom-Gespräch treffe. Wir sind beide erschüttert vom Krieg, der in der Ukraine begonnen hat. Aber für die Georgierin Kordzaia hat das Geschehen noch eine andere Bedeutung. „Ich bin hier natürlich auch gleich auf der Demo gewesen, und das hat gut getan, aber wenn danach alles wieder einfach so weiter geht, fühle ich mich hier auf einmal einsam…“

 

Die Pianistin Tamriko Kordzaia sitzt am Flügel und spielt konzentriert, vor ihr die aufgeschlagenen Noten.
Portrait Tamriko Kordzaia © Lorenzo Pusterla/ Kunstraum Walcheturm

 

Brücken zwischen Georgien und der Schweiz

Und dabei ist Tamriko Kordzaia schon lange als eine Art musikalische Botschafterin zwischen der Schweiz und Georgien unterwegs. Seit 2005 leitet sie das Festival Close Encounters, das sich zur Aufgabe gemacht hat, zeitgenössische Musik beider Länder gemeinsam zur Aufführung zu bringen. Alle zwei Jahre findet das Festival in der Schweiz und in Georgien statt. Dabei geht es Tamriko Kordzaia zum einen darum, die Musik zeitgenössischer Komponist:innen beider Länder gemeinsam zu präsentieren und so Begegnungen zu schaffen. In Georgien geht es aber auch darum, zeitgenössische Musik in ländliche Regionen weit abseits des hauptstädtischen Zentrums zu bringen. „Das ermöglicht allen Beteiligten – Musiker:innen wie Zuhörenden – immer wieder einmalige Erfahrungen“, betont Kordzaia.

In diesem Jahr werden zu Werken von Peter Conradin Zumthor und Cathy van Eck junge georgische Komponist:innen mit neuen Stücken vorgestellt. Und mit Alexandre Kordzaia (*1994) ist auch der Sohn der Pianistin beim Close Encounters Festival vertreten. Er kann selbst als vermittelnder Grenzgänger zwischen der Schweiz und Georgien gelten, aber auch zwischen klassischer und elektronischer Musik. Denn er komponiert nicht nur Kammermusikwerke, sondern ist unter dem Namen KORDZ auch als Clubmusiker bekannt.

 

Engagiert für einen vergessenen Komponisten

Es sind allerdings nicht nur die jungen georgischen Komponist:innen, die Tamriko Kordzaia bekannter machen will. In Zusammenarbeit mit zwei weiteren georgischen Pianistinnen hat sie sich auch der Wiederentdeckung des in Vergessenheit geratenen Komponisten Mikheil Shugliashvili (1941-1996) gewidmet. Im Jahr 2013 brachten die drei Pianistinnen die Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Shugliashvili zur Aufführung und veröffentlichten die erste Aufnahme des beeindruckenden Werks für drei Klaviere auf CD.

 

Ausschnitt einer Aufführung des Stückes Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Mikheil Shugliashvili beim Musikfestival Bern 2020

 

Brücken bauen zwischen Formationen, Epochen und Genres

Tamriko Kordzaia ist als Pianistin in ganz unterschiedlichen musikalischen Formationen aktiv. Sie spielt Soloauftritte, konzertiert im Duo mit Dominik Blum von Steamboat Switzerland oder mit der Cellistin Karolina Öhman, und ist seit 2008 Mitglied des Mondrian Ensembles, das selbst alle möglichen Kombinationen, die ein Klavierquartett ermöglicht, mit seinen Programmen abdeckt.

 

Die vier Musikerinnen des Mondrian Ensembles. Foto: Arturo Fuentes
Tamriko Kordzaia spielt schon seit 2008 im Mondrian Ensemble, zusammen mit Karolina Öhman, Ivana Pristašová und Petra Ackermann. Foto: Arturo Fuentes

 

Und schon lange ist Tamriko Kordzaia nicht nur eine Grenzgängerin zwischen den Ländern und Formationen, sondern auch zwischen den Epochen. Zu Beginn ihrer Karriere in Georgien hatte sie sich zunächst mit ihren Interpretationen von Mozart und Haydn einen Namen gemacht. Als sie aber an der Zürcher Hochschule der Künste ihre Studien fortsetzte, begann ihre Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik. Zum Beispiel mit den Werken des Schweizer Komponisten Christoph Delz (1950-1993), dessen sämtliche Klavierwerke Kordzaia im Jahr 2005 einspielte. Das Mondrian Ensemble, in dem Kordzaia Mitglied ist, hat es sich explizit zur Aufgabe gemacht, in seinen Programmen alte und neue Musik gemeinsam zu spielen und dadurch ungewöhnliche Zusammenhänge hörbar zu machen. Das Ensemble setzt in seinen Programmen auch Konzepte um, in denen Raum, Bühne oder Film eine Rolle spielen, und hat auch keine Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit Vertreter:innen des Jazz oder der Clubmusik.

 

Aufnahme des Mondrian Ensembles von Plod on von Martin Jaggi.

 

Über die lange Zeit, die Tamriko Kordzaia jetzt beim Mondrian Ensemble dabei ist, haben sich feste und regelmäßige Arbeitsbeziehungen ergeben, u.a. mit Komponisten wie Dieter Ammann, Felix Profos, Antoine Chessex, Martin Jaggi, Jannik Giger, Roland Moser und Thomas Wally.

 

sieben sonnengesichter

Ein besonderes Verhältnis hat Tamriko Kordzaia allerdings zur Musik von Klaus Lang, dessen Stücke schon in einige Programme des Mondrian Ensembles Eingang gefunden haben. Als die Corona-Pandemie das Konzertleben jäh zum Stillstand brachte, war es das Stück sieben sonnengesichter von Klaus Lang, mit dem sich Kordzaia, auf sich selbst zurückgeworfen, endlich einmal ausführlicher beschäftigen wollte. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung erschien 2021 auf CD.

 


Video von den CD-Aufnahmen der sieben sonnengesichter von Klaus Lang mit Tamriko Kordzaia am Klavier.

 

Arbeit mit der jungen Generation

Etwas, das Tamriko Kordzaia schon seit ihren Anfängen in der Schweiz begleitet, ist die Arbeit mit jungen Musiker:innen – eine Tätigkeit, die sie heutzutage richtig glücklich macht. An der Zürcher Hochschule der Künste gibt sie Klavierunterricht und hilft den Studierenden, den Weg zur eigenen Stimme bei der Interpretation nicht nur klassischer, sondern auch zeitgenössischer Werke zu finden. Und dort kommt sie auch mit jungen Komponist:innen in Kontakt, denen sie bei der Entwicklung ihrer Stücke beratend zur Seite steht. „Das ist so toll zu sehen, was diese jungen Leute für Ideen haben und wie sie weiter kommen. Das gibt mir immer Sinn und hilft mir weiter zu machen, auch wenn drumherum alles schwierig ist.“
Friederike Kenneweg

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Close Encounters:
Dienstag, 26.4.22 Kunstraum Walcheturm – Favourite Pieces
Donnerstag, 28.4.22 Stanser Musiktage – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Freitag, 29.4.22 Feilenhauer Winterthur – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Samstag, 30.4.22 GDS.FM Club Sender Zürich – Tbilisi Madness

10 PIECES TO DESTROY ANY PARTY:
Im nächsten Programm des Mondrian Ensembles kommt das gleichnamige Stück von Alexandre Kordzaia zur Uraufführung, eine „Oper ohne Libretto in 6 Sätzen“ für Klavierquartett und Elektronik. Das Stück erzählt die Geschichte von drei Prinzessinnen, die angesichts ihrer Hochzeit anfangen zu zweifeln und schließlich ihr eigenes Fest sabotieren. Dazu kombiniert: Werke von Mauricio Kagel, Cathy van Eck und Bernd Alois Zimmermann.
Dienstag, 3.5.22 Gare du Nord, Basel
Mittwoch, 4.5.22 Kunstraum Walcheturm, Zürich
Donnerstag, 5.5.22 Cinema Sil Plaz, Ilanz

Erwähnte CD-Einspielungen:
Klaus Lang / Tamriko Kordzaia, sieben sonnengesichter: CD domizil records 2021.
Mikheil Shugliashvili/Tamriko Kordzaia, Tamara Chitadze, Nutsa Kasradze, Grand Chromatic Fantasy (Symphony) For Three Pianos: CD, Edition Wandelweiser Records, 2016.
Christoph Delz: Sils „Reliquie“ – 3 Auszüge aus „Istanbul“, CD, guildmusic, 2005.

Klaus Lang, Mikheil Shugliashvili, KORDZ, Christoph Delz

neo-Profile:
Tamriko Kordzaia, Festival Close Encounters, Mondrian Ensemble, Karolina Öhman, Petra Ackermann, Alexandre Kordzaia, Cathy van Eck, Peter Conradin Zumthor, Jannik Giger, Dieter Ammann, Martin Jaggi, Roland Moser, Felix Profos, Antoine Chessex, Zürcher Hochschule der Künste, Musikfestival Bern

Der Wahnsinn der Welt

Cécile Olshausen
“Manchmal habe ich das Gefühl, ich wohne im Zug», lacht Helga Arias. Die Komponistin kommt aus dem spanischen Baskenland, ist 1984 in Bilbao geboren und lebt in der Schweiz. Sie selbst bezeichnet sich als Nomadin, denn seit ihrer Kindheit ist sie ständig unterwegs und hat schon an vielen verschiedenen Orten gelebt. Im Frühling 2020 aber steht plötzlich alles still, wegen Corona.

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

Stundenlange Video-Calls

Helga Arias hatte eigentlich einen längeren Aufenthalt in den USA geplant; das International Contemporary Ensemble(ICE), ein Künstlerkollektiv aus New York, hatte sie eingeladen als composer in residence. Aber die Komponistin muss wegen der Pandemie in Europa bleiben. Und auch die Musiker:innen des ICE in New York sind isoliert und können sich wegen des Lockdowns nicht zu Proben treffen. Dieser Stillstand setzt bei Helga Arias kreative Energien frei. So entsteht das Werk I see you für verstärktes Streichquartett und Live-Video, das am Eröffnungskonzert des Festival SONIC MATTER im Dezember 2021 in Zürich uraufgeführt wurde.

Weil also weder reale Begegnungen noch die geplanten kollektiven Arbeitsformen möglich sind, führt Helga Arias das Ensemble per Video-Call zusammen. Zuerst verbindet sie sich  einzeln mit jedem Mitglied, nimmt stundenlang Klänge und Töne auf, aber auch Gespräche über Kunst und Geschmack, über Musik und seelisches Befinden. Das audio-visuelle Material fügt sie zusammen und verteilt es dann wieder unter den Quartett-Mitgliedern. So verwebt sie alle miteinander, obwohl jeder einzeln zu Hause festsitzt. Eine künstliche, aber auch kunstvolle Form der Kommunikation.

Erst wenige Stunden vor der Premiere in Zürich haben sich die Komponistin und das Quartett schliesslich persönlich kennengelernt und konnten vor Ort die virtuell geschaffene Video- und die Quartett-Partitur von I see youzusammensetzen. In der Corona-Pandemie ist also ein kreatives und variables Modell der Zusammenarbeit entstanden. Ein Modell, bei dem alle Beteiligten, sowohl Komponistin als auch die Spielenden gleichberechtigt künstlerisch involviert sind.

 

Helga Arias, I see you, International Contemporary Ensemble, UA Festival Sonic Matter Zürich, 2.12.2021 / Sound-recording: Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im Rausch der Reize

Helga Arias ist eine sensible Zeitgenossin. Sie beobachtet alles und blendet beim Komponieren die Welt, auch die virtuelle Welt der digitalen Medien nicht aus: Hatespeech, Me Too-Debatte und Fake News sind Elemente ihrer Musik. «Der Kontakt mit der Gesellschaft ist mir sehr wichtig», sagt sie, «es heisst ja zeitgenössische Musik, also muss sie auch zeitgenössisch sein. Was in der Welt passiert, das hat auch eine Wirkung auf meine musikalischen Ideen.»

In ihrer Performance Hate-follow me – die Uraufführung fand am Musikfestival Bern im September 2021 statt – mischt Arias die vokalen Klänge von vier Sopranistinnen mit den aufdringlichen Signalen von Handys und per Video rauschen dazu Bilder aus Social Media vorbei: Gehässige Beleidigungen wechseln ab mit aufdringlichen Körperposen, eine Mischung aus sinnentleerter Verführung und Hass. Begleitet von unaufhörlichem Vibrieren, Klingeln, Zwitschern und Piepen.

 

Helga Arias: Hate-follow me, UA Musikfestival Bern, UA 5.9.2021

 

Dieses bedrängende Übermass an akustischen und visuellen Reizen ist dabei das Ziel der Komponistin. Helga Arias macht auf diese Weise aufmerksam auf den Wasserfall an Meldungen, der tagtäglich auf uns einprasselt. Selbst wenn wir eine Nachricht lesen könnten, wird sie sofort von der nächsten verdrängt. Die einzelne Information verliert jede Bedeutung. Dabei verdichtet die Komponistin Klang und Bild auf erschreckend faszinierende Weise und man beginnt zu ahnen, wieso gerade Hass-Nachrichten eine so schnelle und grosse Verbreitung finden.

 

«So sorry»

Hate-follow me zeigt drastisch auf, dass der unbegrenzte Raum des World Wide Web nicht für ein Maximum an Offenheit und Diversität genutzt wird. Vielmehr verengt sich die Perspektive, wenn Influencerinnen und Blogger normierte Klischees verbreiten und alte Rollenbilder zementieren. Und anstatt im Internet differenzierte Vielstimmigkeit zu feiern, lässt ungehemmte Hassrede viele verstummen. Hate-follow me endet – nach einem medialen Kollaps – in einem Schwall von Entschuldigungen. Versöhnlich aber ist das nicht. Denn auch die tausendfachen «Sorrys» wirken klebrig und scheinheilig. Dieses Stück ist ein erstaunliches Paradox: Helga Arias komponiert eine Musik, die uns nicht loslässt, aber eigentlich auffordert, sie abzustellen. Wenn wir es tun, entziehen wir uns dem Wahnsinn der Welt, wenn wir es nicht tun, unterwerfen wir uns ihm.

Für Helga Arias sind Werke wie Hate-follow me oder I see you Möglichkeiten, über ihre eigene Rolle als Komponistin und ihre Beziehung zu Interpret:innen und Publikum nachzudenken: «Die Interpreten meiner Musik sind keine Spielmaschinen und ich bin kein Chef, der sagt: du machst das! Vielmehr geht es um komplexe Interaktionen.» Auch mit dem Publikum. Und so vermittelt Helga Arias auch keine Botschaft. Wir Zuhörenden müssen selbst herausfinden, wie wir mit den Widersprüchen und Verrücktheiten klarkommen.
Cécile Olshausen

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

International Contemporary Ensemble

Am 26. März ist Helga Arias in Ascona in einer conferenza-concerto im Rahmen des Festival Ticino Musica zu erleben.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit: I see you – die Komponistin Helga Arias, Redaktion Cécile Olshausen, Mittwoch, 9.2.22, 20:00h / Samstag, 12.2.22, 21:00h
SRF-online, 14.2.22: Komponistin Helga Arias – Sie macht auch Hate Speech zu Musik, Text Cécile Olshausen

neo-Profile:
Helga Arias, Festival Sonic Matter, Musikfestival Bern, Ticino Musica

 

Robert Walsers Komponist:innen

In seiner neuen Monografie zeichnet der Musikwissenschaftler Roman Brotbeck die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nach und entwirft im selben Zug ein faszinierendes Panorama der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts abseits der dominanten Strömungen.
Am 27. Januar findet im Gare du Nord in Basel die Buchvernissage statt, zusammen mit der Aufführung von Georges Aperghis’ Werk Zeugen, basierend auf Texten Walsers.

 

Silvan Moosmüller
„Robert Walser – sein eigener Komponist“, so lautet der Titel zur Einleitung von Roman Brotbecks Töne und Schälle: Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021.

 

Robert Walser Berlin 1909 © Keystone SDA / Robert Walser-Stiftung Bern

 

Walser als literarischer Komponist

Und tatsächlich, viele Prosastücke und erst recht die Gedichte des notorischen „Plauderers“ Walser gleichen mit ihrer elaborierten Lautstruktur einer musikalischen Komposition: Jede Silbe, jeder Buchstabe trägt zur Poesie des Ganzen bei. „Walser zu vertonen, ist eine schwierige, vielleicht sogar unlösbare Aufgabe, weil viele Walser-Texte schon Musik sind und deshalb einer Musik eigentlich gar nicht mehr bedürfen“, bilanziert Roman Brotbeck die heikle Ausgangslage.

 

200 Werke von über 100 Komponistinnen und Komponisten

Dennoch – oder vielmehr gerade wegen der Musikalität seines Schreibens – hat Walser eine Vielzahl von Komponistinnen und Komponisten zu Vertonungen angeregt. Neben Hölderlin zählt Walser zu den meistvertonten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Diesen klingenden Walser-Kosmos entfaltet Roman Brotbeck auf fast 500 Seiten. Mit seinem Buch bietet er die erste umfassende und systematisch erarbeitete Untersuchung zur musikalischen Rezeption von Walsers literarischen Werken.

Und als Kurator des letztjährigen Festivals Rümlingen hat Brotbeck der Geschichte der Walser-Vertonungen gleich selber ein neues Kapitel hinzugefügt. 15 Uraufführungen mit Werken zu Robert Walser wurden im September aus der Taufe gehoben; darunter z. B. die revidierte Neufassung des théâtre musical Zeugen von Georges Aperghis, das zusammen mit der Buchvernissage im GdN in Basel erneut zur Aufführung kommt. Oder die performative Ausstellung Patient Nr. 3561 der Komponistin und Performerin HannaH Walter und ihrem Kollektiv Mycelium.

 

Von Anfang an..

Aber beginnen wir doch am besten chronologisch ganz vorne: mit James Simon. Dieser Berliner Musikwissenschaftler und Komponist ist gemäss Brotbecks Recherchen der Erste, der sich an Robert Walser heranwagte. Genauer sind es die beiden Gedichte Gebet und Gelassenheit, die Simon 1912 respektive 1914 als Lieder in romantisch anmutender Weise komponierte.

Dabei ist James Simon als Figur in zweierlei Hinsicht wegweisend für die weitere Geschichte der Robert Walser-Vertonungen: Erstens ist er keiner der Grossen, Bekannten – als Komponist ist James Simon heute sogar ganz in Vergessenheit geraten. Und zweitens steht er mit seiner “verspätet”-romantischen Kompositionstechnik quer zu den dominanten Strömungen der Zeit.

 

Musikgeschichtsschreibung diesseits des Höhenkamms

Diese beiden Eigenschaften bilden die DNA für alles Kommende. Denn generell verläuft die inzwischen 110-jährige Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nicht auf dem Höhenkamm der etablierten Musikgeschichtsschreibung. Vielmehr liest sie sich – in Roman Brotbecks eigenen Worten – als „Geschichte, oder besser: als Geschichten der Ausbruchsversuche aus dem Avantgarde-Diskurs“.

Dazu passt, dass die musikalische Rezeption Walsers überaus gemächlich startete. In den fünfzig Jahren nach James Simons ersten musikalischen Umsetzungen gibt es nur zwei weitere Belege; in den nächsten 25 Jahren bis 1987 lassen sich gemäss Brotbecks Recherchen immerhin 13 Komponist:innen mit 20 Werken nachweisen. Darunter finden sich weitere Liedvertonungen, aber auch das zwölftönige Dramma-Oratorio Flucht von Wladimir Vogel, das die rhythmisch polyphonen Möglichkeiten des Sprechchors ausreizt.

 


Wladimir Vogel, Flucht, Dramma-Oratorio (1964), Tonhalle-Orchester Zürich 1966, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Die Ruhe…

Von diesen „frühen“ Walser-Vertonern, denen der erste Teil der Monografie gilt, hat sich der Schweizer Urs Peter Schneider besonders beharrlich und vielseitig auf Walsers Œuvre eingelassen. Über fast sechzig Jahre hinweg hat Schneider ein ganzes Walser-Laboratorium geschaffen – von der „extremen Stereophonie“ seines radiophonischen Porträts Spazieren mit Robert Walser bis hin zu den Polyphonisierungen des Textmaterials im Chorbuch.

 


Urs Peter Schneider, Chorbuch, 12 Lieder auf 12 Texte von Robert Walser für 8 Singstimmen, UA 2013 Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Der Grossteil der Walser-Vertonungen entstand laut Brotbeck hingegen erst in den letzten 34 Jahren, dafür mit exponentiell steigender Geschwindigkeit. Angestossen durch Heinz Holligers Beiseit-Zyklus und die grosse Schneewittchen-Oper setzt in den 90er-Jahren ein regelrechter Walser-Boom ein.

 

…vor dem Sturm

Nicht zufällig fällt dieser Boom mit dem Trend zu neuen Musik- und Theaterformen im Zeichen des postdramatischen Theaters zusammen. So büsst das Klavierlied seine Stellung als bislang dominierende Gattung ein und es schlägt die Stunde des Dramatikers Walser. Aber auch gesellschaftspolitische Veränderungen begünstigten gemäss Brotbeck in den 1990er-Jahren die Walser-Rezeption: „Die Künste sind in jener Zeit durch eine ambivalente Mischung aus Freiheitsdrang und Orientierungslosigkeit, aus Dekonstruktion der grossen Erzählungen in der Nachfolge der Postmoderne und Faszination für neue Medien und Technologien geprägt.“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Um die Materialfülle im zweiten Teil seines Buches übersichtlich darzustellen, teilt Brotbeck das weite Feld der Walser-Vertonungen vor allem nach Gattungen auf, namentlich verschiedenen Musiktheaterformen, Lieder- und Liederzyklen und Melodramen. Die eröffnete Bandbreite ist enorm. Sie reicht von improvisatorischen Formen mit Akteur:innen der neuen Schweizer Volksmusik (z. B. Oberwalliser Spillit) über szenische Musik wie Michel Roths Räuber-Fragmente bis zu Neukontextualisierungen wie bspw. im Stück Der Teich der japanisch-schweizerischen Komponistin Ezko Kikoutchi, wo sie ein französisch-schweizerdeutsches Libretto in ein japanisches Umfeld stellt.

 


Ezko Kikoutchi, Der Teich nach einem Text von Robert Walser, Laure-Anne Payot, Mezzosopran und Lemanic Modern Ensemble, 2012

 

 

Die Abweichung als Norm

Die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen gleicht, so gesehen, einer von Walsers verwinkelten und ständig abschweifenden Erzählungen. Oder wie Roman Brotbeck es formuliert: “Das Gemeinsame der Walser-Vertonungen ist quasi das Nicht-Gemeinsame”. Dass Brotbeck gerade diese “Zergliederung individualistischer Walser-Zugänge” aufzeigt und der Versuchung nach einer grossen Erzählung widersteht, ist ein grosser Vorzug seines Buches. Da die besprochenen Werke immer auch sozialgeschichtlich und kulturpolitisch kontextualisiert werden, zeigen die Kapitel dennoch ein detailliertes Bild der (Schweizer) Kulturlandschaft mitsamt ihren Strömungen und Institutionen im 20. und 21. Jahrhundert.

Auf 500 Seiten entsteht so das faszinierende Panorama einer “anderen Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts” . Und das Beste ist, dass diese Geschichte noch lange weitergeht.
Silvan Moosmüller

 

Do 27.1.22, 21h GdN Basel: Buchvernissage Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021 / 20h Konzert: Georges Aperghis, Zeugen

Sa 29.1.22, 20h / So, 30.1.22, 17h GdN Basel: Roland Moser, Die Europäerin auf Mikrogramme von Robert Walser

Roman Brotbeck, Silvan Moosmüller, Georges Aperghis, James Simon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 8.9.2021: Klingender Autor – Walser-Vertonungen am Festival Rümlingen, Redaktion Silvan Moosmüller
neoblog, 13.7.2021: Alles was unser Menschengeschlecht ausmacht – Roland Moser erhält einen BAK-Musikpreis 2021, u.a. zur UA von ‘Die Europäerin’ nach Robert Walser, Autor Burkhard Kinzler

neo-Profile:
Robert Walser, Urs Peter Schneider, Heinz Holliger, Michel Roth, Ezko Kikoutchi, Kollektiv Mycelium, Neue Musik Rümlingen, Gare du Nord, Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Roland Moser, Lemanic Modern Ensemble

Von Schwärmen, Glocken und Insekten

Michael Pelzel ist Composer in Residence beim diesjährigen Musikfestival Bern. Zahlreiche Uraufführungen zeigen die Bandbreite seines kompositorischen Schaffens. Zudem ist er als Interpret an der Orgel und im Gespräch zu erleben. Ein Portrait von Friederike Kenneweg.

 

Portrait Michael Pelzel zVg Michael Pelzel

 

Friederike Kenneweg
Als ich mit Michael Pelzel Mitte Juli 2021 einen Telefontermin für ein Interview ausmachen möchte, ist er gar nicht so ohne Weiteres zu erreichen. Und das hat einen guten Grund: auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Stücke, die von ihm als Composer in Residence beim Musikfestival Bern zur Uraufführung gelangen sollen. „Das geht gerade Schlag auf Schlag“, erzählt er mir, als es dann doch endlich mit einem Gespräch klappt. Das Stück, das gerade vor ihm liegt, als wir miteinander telefonieren, heißt Aus 133 Fenstern. Obwohl „Composer in Residence“ in Bern nicht bedeutet, dass man tatsächlich für eine längere Zeit vor Ort sein muss, haben die Gegebenheiten am Festivalort Michael Pelzel zu einer besonderen Raumkomposition inspiriert.

Aus der Vielzahl der Fenster, die vom Kulturzentrum PROGR auf den dortigen Innenhof hinausgehen, wird das Publikum mit Glocken, Triangeln, Lotosflöten und Okarinas beschallt. Die Ausführenden: Kinder und Jugendliche. Auch wenn die angestrebte stolze Zahl von 133 Musizierenden nicht ganz erreicht werden sollte: zweifellos erwartet die Zuhörenden hier ein einzigartiges Raum- und Klangereignis.

 

Probe zur Uraufführung von Aus 133 Fenstern für 133 Musizierende, UA im Progr am Musikfestival Bern ©Martin Bichsel / zVg Musikfestival Bern

 

Das Stück ist genau auskomponiert. Dass die Laienmusiker*innen es unter den besonderen räumlichen Umständen schaffen werden, auch wirklich immer synchron miteinander zu spielen, erwartet Michael Pelzel aber nicht. „Das schaffen auch Profis nicht, immer genau gleichzeitig auf die Schlaginstrumente zu treffen“, sagt Pelzel. Doch es ist genau dieser klangliche Effekt der Unschärfe, der den Komponisten besonders interessiert. „Komponisten sind ja immer auf der Suche nach neuen, unerhörten Klängen. Und diese gewissermaßen chorisch eingesetzten Metallschlaginstrumente, die sind in der Musik meiner Meinung nach absolut noch nicht ausgereizt.“

 

“Mikro-Arpeggien”

 

Pelzels Faszination für Metallschlaginstrumente kommt im Rahmen des Festivals an mehreren Stellen zur Geltung. Zum Beispiel in der Komposition Glissomaniac für zwei Klaviere und zwei Perkussionisten. Hier sind es Röhrenglocken, die solche Unschärfen hervorbringen, wenn die beiden Schlagzeuger und die Klaviere unisono miteinander spielen. „Mikro-Arpeggien“ nennt Michael Pelzel das, was dabei entsteht. „Das ist ein bisschen wie bei einem Fluss-Delta. Es bilden sich viele kleine Nebenarme, die jeweils einen etwas anderen Verlauf nehmen, aber alle haben eine gemeinsame Richtung. Alle strömen zum Meer.“

 


Vokalensemble und Perkussion kombinierte Michael Pelzel bereits 2019 im Stück  Hagzusa zum Galsterei, uraufgeführt vom SWR-Vokalensemble am Festival Eclat Stuttgart 2019

 

Auch in der Vokalkomposition La Luna für acht Sänger und Schlagzeug setzt Michael Pelzel auf diesen Effekt. Nicht nur der Schlagzeuger nutzt hier Perkussionsinstrumente, sondern auch die acht Sänger*innen bringen verschieden große Triangeln zum Einsatz. Durch die minimale zeitliche Verschiebung beim Anschlag entstehen immer wieder  unterschiedlich dimensionierte Metallklangwolken, die nie ganz vorhersehbar sind.

La Luna ist ein Auftragswerk für das KlangForum Heidelberg, das im Rahmen der Werkreihe „Sternbild: Mensch“ des Ensembles entstand und eigentlich schon an anderer Stelle zur Uraufführung gelangen sollte. Doch wie so häufig stand die Corona-Pandemie dem entgegen.

Uraufgeführt wurde das Werk zwar schon, aber bislang nur in digitaler Form. Die „analoge“ Uraufführung vor körperlich anwesendem Publikum wird nun in Bern stattfinden können: eine besondere Sternstunde im Rahmen des Konzertes mit dem Titel Ferne Lichterschwärme.

 


Michael Pelzel, La Luna, KlangForum Heidelberg, ‘Uraufnahme’ online Juni 2021

 

In Kombination mit Pelzels Stück La Luna stehen auch Orchesterwerke von Georg Friedrich Haas (geboren 1953) und György Ligeti (1923-2006) auf dem Programm. Pelzels Kompositionen werden auch bei den anderen Konzerten gemeinsam mit Werken von Haas und Ligeti präsentiert. Wohl weil eine gewisse Verwandtschaft zwischen den drei Komponisten besteht. Ähnlich wie Ligeti schätzt Pelzel vertrackte Mikrorhythmen. Mit Georg Friedrich Haas teilt Pelzel die Leidenschaft für Mikrotöne. Dementsprechend kommt ihm die Kombination seiner Werke mit diesen beiden Größen durchaus entgegen: „Zwischen Georg Friedrich Haas, der mein geschätzter Lehrer war, und György Ligeti, der für mich in vielerlei Hinsicht eine wichtige musikalischen Bezugsgröße ist, fühle ich mich sehr wohl.“

 


Michael Pelzel, in memoriam György Ligeti, für Ensemble 2018: vertrackte Mikrorhythmen verbindet das Schaffen von György Ligeti und Michael Pelzel, Eigenproduktion SRG

 

György Ligeti spielt für Michael Pelzel auch in seiner Funktion als Organist eine wichtige Rolle. Bei dem Orgelkonzert mit Michael Pelzel im Rahmen des Festivals steht dementsprechend das Orgelwerk Harmonies von György Ligeti aus dem Jahr 1967 auf dem Programm. Die Komposition ...stream of debris… von Michael Pelzel, die er hier selbst uraufführen wird, sieht er  in derselben Traditionslinie. „Ein bisschen ist das auch wie eine Hommage an Ligeti. Ligeti hat in seiner Orgelmusik viel mit Clustern gearbeitet. Wenn ich selber auf der Orgel improvisiere, gehe ich auch von solchen Clustern aus, versuche dabei aber, das nicht einfach zu wiederholen, sondern Ligetis Ansatz für die heutige Zeit weiter zu entwickeln.“

Zum Festivalmotto „schwärme“ passend als „schwärmerisches Stück“ im Programm angekündigt ist Streamed Polyphonyfür Streicher, das von der CAMERATA BERN uraufgeführt werden wird. „Schwärmerisch stimmt eigentlich nicht“, sagt Pelzel, als ich ihn danach frage. Vielmehr habe er beim Komponieren an drei Insekten gedacht, die um eine Lichtquelle herumschwirren.

Darum spielt bei diesem Stück die Verteilung der Musiker*innen im Raum eine wichtige Rolle. Diese ermöglicht, dass auch der Streicherklang im Raum umherschwirrt. Auch wenn der Titel der Komposition die Assoziation mit Insekten nicht mehr nahelegt: vielleicht ist beim Konzert der CAMERATA BERN dieses Schwärmen und Schwirren für die Zuhörer*innen trotzdem noch erkennbar.
Friederike Kenneweg

 

Michael Pelzel © Manuela Theobald / zVg Musikfestival Bern

 

Das diesjährige Musikfestival Bern findet vom 1. bis zum 5. September unter dem Motto “schwärme” statt. Zu hören sind Werke und Uraufführungen von u.a. Salvatore Sciarrino, Fritz Hauser, Jürg Frey, Johanna Schwarzl, Hans Eugen Frischknecht, Pierre-André Bovey, Thomas Kessler oder Jean-Luc Darbellay.

Donnerstag, 26. August, 19 Uhr: Michael Pelzel zu Gast in „Sprechstunden für neue Musik“, einer Reihe von Zoom-Veranstaltungen des Musikfestival Bern. Hier geht es um ein informelles Kennenlernen und ins Gespräch kommen mit dem Komponisten, mit Hörbeispielen. Teilnahme kostenlos, Anmeldung erwünscht an Tobias Reber.
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Uraufführungen von Michael Pelzel:
Aus 133 Fenstern, Mittwoch, 1.9. 17h
Streamed Polyphony, in Konzert: Open the Spaces, Mittwoch, .1.9. 19h
Glissomania, in Konzert: Durch unausdenkliche Wälder, Freitag, 3.9. 21h
La Luna, in Konzert: Ferne Lichterschwärme, Samstag, 4.9. 19h
Harmonies / ...stream of debris… in Konzert: Con Passione, Sonntag, 5.9. 17h

Neo-Profiles:
Musikfestival Bern, Michael Pelzel, Camerata BernGyörgy Ligeti, Georg Friedrich Haas, Thomas Kessler, Jürg Frey, Jean-Luc Darbellay, Fritz Hauser, Pierre-André Bovey

 

 

‘Ein Madrigal-Trip’

Das Berliner Festival Ultraschall findet statt! Live und zeitversetzt on air am Radio, auf Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur. Der Basler Komponist und Videokünstler Jannik Giger bringt am 22.1. ein neues Stück zur Uraufführung: ‘Qu’est devenue ce bel oeuil’ für Sopran, Bassklarinette und fiktive Vierkanal-Orgel. Das Konzert ist live am Freitag, 22. Januar 2021, 20h, und in der Wiederholung am 16. Februar zu hören.

Jannik Giger Portrait ©zVg Jannik Giger

Gabrielle Weber
Giger bezieht sich in seinen Arbeiten oft auf die ‘klingende Vergangenheit’, auf Tondokumente oder Stücke von bspw. Franz Schubert, Leos Janacek oder Bela Bartok. Meist beinhalten seine Stücke auch Video, Installation oder räumliche Komponenten. Und manchmal erstellt Giger auch Filmsoundtracks, die als eigenständige Musikwerke den Filmen gegenüberstehen.


In der Video-Installation Gabrys und Henneberger – Transformationen (UA Gare du Nord Basel 2014) improvisiert der Kontrabassist Aleksander Gabrys live zu einem Video. Auf diesem ist der Dirigent Jürg Henneberger zu sehen, wie er das Ensemble Phoenix in Gigers Clash dirigiert.

Diesmal widmet er sich erstmals der Renaissance. Das neue Stück für Ultraschall mit dem Titel Qu’est devenue ce bel oeuil basiert auf dem gleichnamigen Madrigal des Renaissance-Komponisten Claude Le Jeune für Stimmen a capella.

Über sein neues Stück unterhielt ich mich mit ihm per Zoom von Zürich nach Basel auf der Zielgeraden zur Uraufführung.

Das Musikleben pausiert gerade aufgrund der Pandemie.. Wie hat sich ihr Arbeiten verändert?

In meinem Arbeitsalltag als Komponist verbringe ich viel Zeit alleine im Studio oder in der Kammer. Ausser den extremen sozialen Einschränkungen hat sich deshalb wenig verändert. Aber die Vorgeschichte und die Probenarbeit für einzelne Stücke ist kompliziert geworden.

Begonnen habe ich das neue Stück für Ultraschall in Berlin. Ich hatte dort ein Stipendium (Atelier Mondial) und wollte ein halbes Jahr lang intensiv Museen, Galerien und Konzerte besuchen. Aufgrund der Pandemie war alles geschlossen. Hingegen kenne ich nun alle Seen, Parks und Wälder in und rund um Berlin. Durch dieses Vakuum von der Aussenwelt verbrachte ich eine geschützte, zurückgezogene Zeit und konnte mich richtig gut aufs Komponieren konzentrieren. Das war eine positive Seite.

Die negative Seite: Proben- und Konzertsituationen sind die eigentliche Belohnung fürs einsame Komponieren. Diese kleinen speziellen Momente, in denen sich alles verdichtet, die sich aus dem Arbeitsjahr abheben, sind nun nicht mehr existent.

Ihre Arbeiten beinhalten meist auch Visuelles wie Video oder Installation: gibt es beim Stück für Ultraschall solche Aspekte oder adaptierten Sie es für die rein radiophone Uraufführung?

Es ist zwar ein kammermusikalisches Stück ‘für Stimme, Bassklarinette und fiktive Orgel’, war aber ursprünglich gedacht als räumliches Live-Stück. Den Auftrag erhielt ich von den Musikerinnen Sarah Maria Sun, der Sopranistin, und Nina Janssen-Deinzer, der Klarinettistin. Ihr Wunsch war der Einbezug von Elektronik. Ich entschied mich für eine Vierkanalzuspielung, eine imaginäre grosse Orgel – vier Lautsprecher, die um sie herum platziert sind. Da es nun ohne Publikum stattfindet und übers Radio ausgestrahlt wird, fällt die geplante räumliche Komponente weg.

Jannik Giger: Sarah Maria Sun (Sopran) in der Schlotterarie aus Kolik, UA Gare du Nord Basel, 2019


Eine Crazy-Harmonik..

Wie kamen Sie gerade auf Claude Le Jeune? Sie befassten sich bislang eher mit Stücken aus der Romantik, Klassik, Barock oder mit Wegweisern der Moderne? Was ist ihr Bezug zur Renaissance?

Ich schöpfe oft aus bestehenden Versatzstücken oder Materialien auf die ich zufällig stosse und die mich auf irgendeine Weise ansprechen. Der Sänger Jean-Christophe Groffe hat mich auf dieses fantastische Vokalstück aufmerksam gemacht. Speziell an Le Jeune ist die Crazy-Harmonik. Das Stück ist komplett durch-chromatisiert und einheitlich: Da gibt’s einen Text, eine Harmonik, eine Form, eine repetitive Rhythmik. Dass ich von diesem Material ausging, war ein intuitiver Entscheid. Es entstand ein assoziatives, fast anti-intellektuelles Stück mit einem einfachen Konzept: die Kombination des Choralmaterials mit Orgelklängen. Meine eigene Vorgabe war, dass es nichts anderes an Samples beinhalten dürfe als Orgelklänge.

Claude Le Jeune (1528-1600), Qu’est devenu ce bel oeuil

.. hatte das vielleicht etwas mit der Pandemie zu tun? Ein Rückbezug auf eine ferne Vergangenheit, auf die musikalische Renaissance..

Nein – oder vielleicht schon.. Es geht ja um Vergänglichkeit, das Stück hat etwas Nostalgisches. Bereits die Titel-Frage ‘Qu’es devenu ce bel oeil?’.. Was ist passiert.? Alles löst sich auf.. Le Jeune begleitete mich in Berlin. Ich komponierte da auch ein Stück fürs Arditti-Quartett, in dem ich mich auf ihn bezog.

Wie gingen Sie kompositorisch vor? Weshalb diese Besetzung?

Ich hörte mir zahlreiche Orgelaufnahmen an -von Bruckner, Machaut, Bach, Brahms, Buxtehude- und sampelte einzelne Orgelklänge ab. Darin lassen sich nicht nur verschiedene, unterschiedlich gestimmte Orgeln hören, sondern auch verschiedene Räume. Während Wochen erstellte ich mir so ein Archiv an Klängen. Dann “baute” ich aus verschiedenen Samples die fiktive Orgel durch Montage und Collage. Das Aneinanderreihen und Überlagern von Klängen und Räumlichkeiten ergab eine fast orchestrale Komplexität.


Jannik Giger, Ausschnitt aus Elektronikspur / Fiktive Orgel in: Q’est devenu ce bel oeil, UA Festival Ultraschall 22.1.2021


Im Stück kommen die beiden Solistinnen zur fiktiven Orgel: Wie muss man sich das als Ganzes vorstellen?

Das obig eingefügte Tonbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus der Tonspur der fiktiven Orgel allein. Jeder Akkord stammt von einer anderen Orgel. Die Tonspur läuft im Konzert durch, verteilt auf vier Lautsprecher, und wird sich mit den Live-Instrumenten mischen. Die zwei Ebenen spielen miteinander. Manchmal verschmelzen sie, manchmal sind sie gegenläufig.

Ein ‘Madrigal-Trip’

Das ursprüngliche Stück von Le Jeune ist ein Madrigal für Stimmen a capella, die Chromatik übernehmen Sie in die Vier-Kanalorgel – wie gehen Sie mit der Stimme um?

Sarah Maria Sun, die Sopranistin, singt auf den Originaltext von Le Jeune. Manchmal klingt das nach französischem Chanson, manchmal nach Renaissance oder nach zeitgenössischer Musik, gespickt mit neuen Spieltechniken. Die Stimme fluktuiert von melodiös und tonal zu sehr geräuschhaften Passagen. Sie spielt mit ästhetischen Referenzen. Es ist fast ein ‘Madrigal-Trip’ entstanden.

Giger on air oder im live-stream: geht das überhaupt? Sehen Sie auch Chancen in der aktuellen Situation und wie gehen Sie mit ihr um?

Wenn Kammermusik gut aufgenommen wird, auch visuell, kann das im Livestream schon funktionieren. Stücke für mehrere Instrumente oder für Orchester gehe ich aber gerade anders an. Es ist ein physisches Vakuum da: weil die Musikerkörper nicht präsent sind, weil die Ritualisierung der Konzerte fehlt, das Auftreten, das Abtreten, die Spannungsmomente. Reine Dokumentation reicht nicht mehr aus. Ich versuche, einen Schritt weiter zu gehen. Kürzlich nahm ich bspw. ein CD zusammen mit Dieter Ammann auf (CD Ammann-Giger, Mondrian Ensemble, Ensemble Nuance): Der Tonmeister Alexander Kordzaia hat die Aufnahme close mikrophoniert, bewusst fast überproduziert. Die Musik ist mikroskopisch aufgefächert. Das Produkt ist keine Abbildung von live, sondern erhielt eine komplett andere Wahrnehmungsqualität.

Was kommt danach? 2021 soll bspw. auf dem Label KAIROS eine neue CD herauskommen mit Titel  Krypta – wollen Sie dazu etwas verraten? Und gibt es kommende Projekte?

Die Platte vereint bereits produzierte, z.T. noch nicht veröffentlichte Instrumentalmusik. Krypta war eine Klanginstallation fürs Musikfestival Bern, von der es auch eine reine Stereo-Audiospur gibt. Oder es gibt ein neues Stück, eine Montagearbeit aus Studio-Recordings mit den Ensembles Xasax und Thélème.


Jannik Giger, Ausschnitt aus Krypta, Multichannel Orchestration, Musikfestival Bern 2019

Ich freue mich auf ein Projekt für die Architekturbiennale in Venedig. Bei der Eröffnung im Mai im Pavillon Suisse soll ein räumliches Stück von mir aufgeführt werden – falls es stattfinden kann.. Auf Basis von Architekturtexten arbeite ich mit dem Opernsänger Andrejs Krutojs. Es geht um Venedig und die italienische Oper. Und für ZeitRäume Basel machte ich mich an die Arbeit für eine Videoinstallation. Sie befasst sich mit der Thematik der ‘Blind audition’, eine Form des gendergerechten Vorspielens für Orchesterstellen.
Gabrielle Weber

Jannik Giger Portrait © zVg Jannik Giger


Ultraschall Berlin
– Festival für neue Musik: findet vom 20. Bis zum 24. Februar statt. Hier geht’s zum genauen Programm.

Konzert 22.1., 20h, live Deutschlandfunk Kultur:
Sarah Maria Sun, Sopran, und Nina Janssen-Deinzer, Klarinetten und Saxophon, UA Jannik Giger Qu’est devenu ce bel oeuil und Werke von u.a. Georges Aperghis, Toshio Hosokawa, Wolfgang Rihm.
Wiederholung 16.2.20, 23:04h, rbb Kultur in: Musik der Gegenwart

Jannik Giger, CD Ammann-Giger / a tree in a field records – Koproduktion SRF 2 Kultur, Atelier Mondial, KAIROS, Andrejs Krutojs, Alexander Kordzaia, Ensemble Nuance, Festival ZeitRäume Basel, Biennale Venezia, ThélèmeJean-Christophe Groffe

Sendungen SRF 2 Kultur
Kultur Aktuell & Kultur Kompakt Podcast, 22.1.21, 8:05h/11:30h: Livegespräch zum Festival Ultraschall und UA Jannik Giger, Gesprächspartnerin Gabrielle Weber
Musik unserer Zeit, 3.2.21, 20h: Jannik Giger, der Scherbensammler, Redaktion Theresa Beyer
Musikmagazin, 6./7.2.21: Jannik Giger im Café-Gespräch mit Theresa Beyer
srf online: Multitalent Jannik Giger – Dieser Komponist hält der verstaubten Klassik den Spiegel vor, Autorin Theresa Beyer

Neo-Profiles
Jannik Giger, Sarah Maria Sun, Musikfestival Bern, Ensemble Phoenix Basel, Mondrian Ensemble, Aleksander Gabrys, Dieter Ammann, Xasax Saxophonquartett, ZeitRäume Basel

Stilles Beben – Der Komponist Charles Uzor

Mit sieben Jahren hat er seine Muttersprache Igbo vergessen und eine neue Sprache gelernt: Schweizerdeutsch. Der Komponist Charles Uzor macht sich in seiner Musik auf den Weg zurück in seine nigerianische Kindheit, in die «pochende und bebende Natur» der afrikanischen Tropen, zur fernen Stimme seiner Mutter. Cécile Olshausen hat Charles Uzor besucht.

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Cécile Olshausen
Es regnet, als ich in St. Gallen aus dem Zug steige. Mein Smartphone zeigt mir den Weg zu Charles Uzors Wohnung. Er lebt mitten in der St. Galler Innenstadt, nur zwei Minuten zu Fuss. Trotzdem schaffe ich es, mich zu verlaufen.

Umwege haben mich zu Charles Uzor geführt. Vor vielen Jahren sassen wir einmal zufällig nebeneinander in einem Konzert, haben uns unterhalten. Seither habe ich seinen Namen, seine Musik immer wieder gehört. Persönlich aber sind wir uns nie mehr begegnet.

Jetzt öffnet er mir die Türe und ich schüttle ein paar Regentropfen ab, bevor ich eintrete. Charles Uzor empfängt mich in seiner grosszügigen Stadtwohnung. Mein Blick fällt auf einen Flügel, auf Wände voller Bücher und CDs, in der Küche plätschert der Heizkörper wie ein Springbrunnen. Ein Sonnenschirm lehnt in einer Ecke des Wohnzimmers und erinnert an den Sommer, während draussen über dem kleinen Balkon ein riesiger Weihnachtsstern hängt.

Am Stubentisch nehmen wir Platz. Und von der städtischen Adventsbeleuchtung direkt vor seinem Fenster führt uns unser Gespräch langsam hinein in die Lebens- und Klangwelten von Charles Uzor. In eine Biografie, in der sich so viele Wege kreuzen.

In Nigeria ist Charles Uzor 1961 zur Welt gekommen. Wenige Jahre später entbrannte in seiner Heimatregion Biafra ein grausamer Kampf um Unabhängigkeit. Mit sieben Jahren entkam er den Kriegs-Gräueln. In St. Gallen fand Charles Uzor eine neue Familie. Hier ging er zur Schule, machte seine Matura. Studien – zuerst Oboe, dann Komposition – führten ihn nach Rom, Bern, Zürich und London. Seine Dissertation schliesslich schrieb er über Melodie und innerliches Zeitbewusstsein. Charles Uzors Werke sind vielseitig: Opern, Tanz-, Orchester- und Chorkompositionen, aber auch viele Stücke für Ensemble-Besetzungen.

Über seine Musik verbindet sich Charles Uzor mit seiner Vergangenheit, mit seiner Kindheit in Nigeria.

Unsere Unterhaltung verläuft ruhig, es ist ein Gespräch, das Stille zulässt. Ein Stille, die ich auch in manchen Stücken von Charles Uzor wiederfinde. Zum Beispiel in    Nri/ mimicri (2015/2016) für Ondes Martenot, Schlagzeugensemble und Tonband. Das ist keine linear sich entwickelnde Komposition, vielmehr ein Klangraum, durch den man sich aufmerksam hörend tastet. Als betrete man ein Tropenhaus und befinde sich – kaum ist man über die Schwelle getreten – in einer völlig anderen Welt. Nri/ mimicri ist für Charles Uzor eine Annäherung an seinen «afrikanischen Ursprung», wie er es selbst formuliert, ein Stück, in dem man «das Pochen und Beben der Natur» wahrnehmen könne. Und es ist eine Referenz an seine Urahnen, die Nri, ein sagenumwobenes nigerianisches Volk.


Charles Uzor, Nri/mimicri, Percussion Art Ensemble Bern, UA 2016, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzor ist Igbo und im Südosten von Nigeria aufgewachsen, im Nigerdelta, einer Region mit tropischem Regenwald und vielen Flüssen. Mit seiner Familie hat er sich auf Igbo unterhalten. Als er dann mit sieben Jahren in die Schweiz kam, hat sich diese Sprache innerhalb kürzester Zeit verflüchtigt. Und blieb verschwunden. Bis heute treibt es Charles Uzor um, dass er seine Muttersprache einfach vergessen konnte.

.. traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen..

Glückliche Umstände haben dazu geführt, dass er nach dem Biafrakrieg seine Familie wiederfand. Mittlerweile Teenager und fest verankert in seiner Schweizer Lebenswelt, entschied sich Charles Uzor, bei seiner St. Galler Familie zu bleiben. Mit seiner nigerianischen Mutter, die heute in den USA lebt, steht er seither aber im Kontakt. Und in seinem Zyklus Mothertongue (2018) hört man ihre Stimme. Sie hat traditionelle Igbo-Sprichwörter auf Band gesprochen.


Charles Uzor, Mothertongue Fire / mimicri for tape, Maria Christina Uzor, 2018

Uzor verarbeitet diese Aufnahmen zu einer Komposition und verbindet sich so klanglich mit einer Sprache, die er nicht mehr versteht. Mit seiner Muttersprache.


Charles Uzor, Mothertongue für Mezzosopran, Ensemble und Tonband, Ensemble Mothertongue, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors kompositorische Wege führen ihn nicht nur zurück in die Vergangenheit seiner afrikanischen Kindheit, sondern auch in weit entfernte Jahrhunderte. Während einer kurzen Gesprächspause, in der wir die Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen, werfe ich einen Blick auf Charles Uzors überbordendes, buntes CD-Regal – und mir fällt auf: viel Musik von Pérotin, Guillaume de Machaut, Johannes Ockeghem oder Costanzo Festa. Woher diese Liebe zur Alten Musik komme, möchte ich von Charles Uzor wissen, als wir den Gesprächsfaden wieder aufnehmen.

In dieser vorbarocken Musik öffne sich, so Uzor, eine Weite und Wildheit, eine Ordnung und Struktur, die ihn magisch anziehe: «Ich habe oft das Gefühl, ich war da dabei; da kommen mir Bilder von mir als Renaissancemenschen, so nah empfinde ich das.» Und diese Musik mit ihren Reigen, Rhythmen und Repetitionen hat für Charles Uzor auch etwas Afrikanisches. So finden in seinen Kompositionen Alte Musik und afrikanische Sprach-Klänge zusammen. Wege, die sich treffen, Momente der Begegnung.

Was sich in seiner Musik mühelos verbindet, das Alte und das Neue, das Afrikanische und das Schweizerische, erfährt in seinem Alltag Risse. Denn als Schwarzer ist Charles Uzor von Rassismus betroffen – auch hier in der Schweiz. Und das, wie er mir erzählt, jeden Tag. Alltäglicher Rassismus.

8’46” – solange dauerte der Todeskampf des George Floyd

Charles Uzor hat auch nicht geschwiegen, als George Floyd ermordet wurde. Der schwarze US-Bürger, der im Mai 2020 durch Polizeigewalt zu Tode kam und dessen Mord weltweit Proteste ausgelöst hat, – zusammen mit der Bewegung «Black Lives Matter». Charles Uzor hat damals das Stück 8’46’’ Sekunden komponiert – solange dauerte der Todeskampf von George Floyd, dem der Atem abgedrückt wurde. Die Komposition besteht nur aus Atemgeräuschen. Für Charles Uzor war es eine Notwendigkeit, dieses Stück zu schreiben, um seine eigene tiefe Erschütterung zu verarbeiten und nach aussen zu tragen.


Charles Uzor, 8’46” – Floyd in memoriam, UA Musikfestival Bern 2020, Eigenproduktion SRG/SSR

Charles Uzors Hommage an George Floyd wurde am 4. September 2020 in Bern uraufgeführt. Ich habe diesen Konzertmoment in eindrücklicher Erinnerung. Eine konzentrierte Aufführung des Ensembles Mothertongue mit dem Dirigenten Rupert Huber. In keinem Moment pathetisch. Und am Ende der 8’46’’ kein Applaus – sondern Betroffenheit, Schweigen und einfach nur Stille.

Der Regen hat aufgehört und es ist dunkel geworden. Lange haben wir uns unterhalten. In der Küche kocht Charles Uzor einen Kaffee und das beruhigende Plätschern des Heizkörpers holt uns aus den Tiefen der Gesprächswelt zurück in die Gegenwart. Dann breche ich auf Richtung Bahnhof. Jetzt kenne ich den Weg.
Cécile Olshausen

 

Charles Uzor Portrait ©zVg Charles Uzor

Musikfestival Bern – Mothertongue, Rupert HuberPercussion Art Ensemble Bern

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 16.12.20, 22h: Pochen und Beben – der Komponist Charles Uzor, Redaktion Cécile Olshausen.

Neo-Profile: Charles Uzor, Musikfestival BernPercussion Art Ensemble Bern

Sprechstunde für neue Musik @Musikfestival Bern

“Sprechstunde für neue Musik”, so lautet ein online-Angebot des Musikfestival Bern. Das Motto: “Musik hören und diskutieren”. Tobias Reber, selbst Komponist und Performer ist für das Vermittlungsprogramm des Festivals verantwortlich. Das Format initiierte er bereits 2019. Damals fanden die Sprechstunden live statt. Nun werden sie als Videokonferenzen abgehalten.

Mit Reber unterhielt sich Gabrielle Weber über Sprechstunden, Field recordings und Terry Rileys Werk In C.

Portrait Tobias Reber © Samira Reber

Vor kurzem hielten Sie die erste online-“Sprechstunde neue Musik” ab. Unter dem Titel Schichtungen besprachen Sie Terry Rileys Stück “in C”, ein Werk aus der Minimal Music. Das dreht sich alles insistierend um den Ton C.. weshalb dieses Werk?

Mit dem Stück stieg ich ein, weil es einerseits zugänglich ist und es andererseits Bezug zum Festivalthema Tektonik hat. Es ist ein Schichtungswerk, in dem sich Klangschichten übereinander und gegen einander verschieben.


Terry Riley, In C, Ensemble Ictus live, 2012

Der Titel “Sprechstunde neue Musik” ist ja durchaus auch unterhaltsam zu verstehen – zur Sprechstunde beim Arzt begibt man sich meist eher ungern…

Sprechstunde ist natürlich einerseits wörtlich gemeint. Denn es soll ja gemeinsam gesprochen werden. Und gleichzeitig auch selbstironisch, als eine Art “Sorgentelefon”. Denn die zeitgenössische Musik bereitet ja auch Kopfzerbrechen. Sie hat ein Problem damit, ein grösseres Publikum zu erreichen. Mir geht’s darum: Wie kann ich die Lust am Facettenreichtum dieser Musik wecken. Mir begegnet oft die Angst, alles verstehen zu müssen. Diese möchte ich abbauen.

Nehmen wir als Vergleich die Gourmetküche. Wenn ich bspw. in einem Molekular-Restaurant esse, gehe ich auch nicht davon aus, das verstehen zu müssen. Da lasse ich mich bewusst auf etwas Neues ein. Auch bei der neuen Musik geht es darum sich sinnlich einzulassen, zu probieren, zu kosten.

“ich möchte ein grosses Buffet anbieten..”

Die Sprechstunde ist einmalig, findet im Hier und jetzt statt, wenn auch virtuell – wer dabei ist, erlebt einen exklusiven Moment des Zusammenkommens.. wie kam das an?

Gerade das einmalige Zusammensein im Moment haben alle speziell genossen. Es gibt ein Bedürfnis nach dem Experimentieren mit virtuellen Begegnungen. Wir alle lernen jetzt Vertrauen aufzubauen, bspw. mit fremden Menschen über Videokonferenzen. Das ist fast eine neue Kulturtechnik.

Die nächsten Daten stehen unter dem Motto: “Klingende Welten” resp. “Brüche, Störungen, Falten” – das klingt etwas allgemein: können Sie mir weiterhelfen?

Bei “Klingende Welten” geht es um reale aufgezeichnete Klänge aus der “echten” Welt, sogenannte field recordings, die in Musik verwendet werden. Zum Beispiel hören wir uns Klangmaterial von Erdbewegungen an, das durch Sensoren im Boden aufgezeichnet wurde, oder von Verschiebungen von Eisschollen, durch Hydrophone oder wasserfeste Mikrofone im arktischen Wasser aufgezeichnet.

In der letzten Sprechstunde geht es dann um Werke, die für einen spezifischen Ort gestaltet wurden, bspw. in Form von Performances oder Klangskulpturen.


Tobias Reber, Polyglot, 2013

Die Sprechstunden sind komplett offen und richten sich genauso an ein Fachleute wie an ein interessiertes Laienpublikum: wie gelingt dieser Spagat?

In der ersten online-Sprechstunde hatten wir eine gute Mischung von Berufsmusikern und -musikerinnen und interessierten Laien. Alle brachten ganz unterschiedliche Kenntnisse mit. Den gemeinsamen Nenner mussten wir aber zuerst herstellen. Das war dann für beide Seiten bereichernd.

Ich deklarierte die Sprechstunde als Experiment und lud dazu ein, Vorschläge einzubringen. Wir fanden gemeinsam heraus, was gut funktionierte.

Wie gingen Sie konkret an Terry Rileys “In C” heran..?

Als Vorbereitung habe ich eine nicht-öffentliche Playlist auf Soundcloud erstellt und geteilt. Wir verglichen dann drei sehr unterschiedliche Interpretationen. Bspw. gibt es eine Aufnahme mit Musikern aus Mali. Dort wird über die Motive improvisiert anstatt sie zu wiederholen. Das ist auch völlig in Terry Rileys Sinn.


Terry Riley, Africa Express, In C Mali, live at Tate Modern, 2015

Gibt es etwas in der kommenden Sprechstunde auf das wir speziell gespannt sein können..?

Letzten Winter gab es das Phänomen des sogenannten “singenden Eises”. Ich habe es im Oberengadin am zugefrorenen St.Moritzer-See selbst erlebt. Eine der Aufnahmen die ich mitbringe hat damit zu tun…
Gabrielle Weber

Klang-Spaziergang mit Radio.Antenne.SA © Musikfestival Bern 2019

Das Musikfestival Bern findet vom 2. Bis zum 6. September 2020 statt. Die diesjährige Festivalausgabe steht unter dem Motto “Tektonik”

Musikfestival Bern, 2.-6. September, Tektonik
Anmeldung & Information: Sprechstunde für neue Musik @Tobias Reber

Neo-Profiles: Musikfestival Bern, Tobias Reber, Kollektiv Mycelium