Friedemann Dupelius
„Ein Orchester ist kein Kammerensemble. Es hat so eine gewisse Trägheit, die man erstmal überwinden muss, um all seine Instrumente, all seine Klänge zu aktivieren“, sagt Kevin Juillerat. Zwar ist der franko-schweizer Komponist kein Physiker, doch mit den Eigenschaften und Behandlungsmöglichkeiten von Schallwellen kennt er sich ganz gut aus. Davon zeugen die grauen Akustik-Dämmer an den Wänden seiner aktuellen Residenz im Pariser Elektronik-Paradies IRCAM, von wo aus er über sein Stück Waves spricht. Es ist seine erste Komposition für die große Orchester-Besetzung und wird am 16.1.2022 beim 3. Abo-Konzert der Jubiläums-Saison der Basel Sinfonietta uraufgeführt.
Mit Trägheit hat deren Geschichte jedoch wenig zu tun. 1980 gründeten enthusiastische Musiker:innen ein Orchester, das mit seinem ausschließlichen Fokus auf zeitgenössische Musik bis heute einzigartig geblieben ist. Ebenfalls bis heute ist die Basel Sinfonietta selbstverwaltet und basisdemokratisch organisiert. Den Vorstand bilden aus dem Ensemble heraus gewählte Orchestermitglieder, und auch die Programmkommission setzt sich aus solchen zusammen. Mit dazu gehört Daniela Martin, seit September 2020 Geschäftsführerin der Basel Sinfonietta, die konstatiert: „Von seinem freien Spirit ausgehend, ist das Orchester in der professionellen Musikszene inzwischen fest verankert.“
Zweifelsohne war das 40. Jahr zugleich das Schwierigste im Bestehen der Basel Sinfonietta. Anstatt einer großen Jubiläumsfeier herrschten Unsicherheit, Distanz zum Publikum und zwischen den Musiker:innen. Plötzlich mussten Abstände zwischen den Pulten eingehalten werden, was auch akustische Folgen hatte – das viel zitierte Distancing bekommt eine hörbare Qualität, wenn die Musiker:innen im Raum auseinander gerissen werden. Mit der nicht minder schwierigen Rückkehr zur normalen Aufstellung ist auch das Publikum in die Konzerte der Basel Sinfonietta zurückgekehrt, und das mit einer erfreulichen Nachricht: Die Zahl der Abonnent:innen hat sich über die Zeiten von Lockdown und Streaming-Konzerten vergrößert. So kann das leicht verspätete Jubiläum „40+1“ in dieser Saison vor einer angewachsenen Gemeinde an Fans und Neugierigen zelebriert werden. Daniela Martin ist begeistert vom Basler Publikum: „Die Leute lassen sich auf die Musik ein. In den Konzerten herrscht eine dichte Atmosphäre, eine spürbare Begeisterung. Man ist nicht zum Kritisieren da, sondern um mit offenen Ohren der neuen und neuesten Musik zu begegnen.“
Isabel Klaus, Dried – Für Orchester, UA Basel Sinfonietta 2007, Eigenproduktion SRG/SSR: Zum Kernverständnis der Basel Sinfonietta gehört es, junge Schweizer Komponist*innen eine Plattform zu bieten. Vor Kevin Juillerat haben schon viele andere davon profitiert, etwa Isabel Klaus mit ihrem Stück Dried.
Schaut ein Orchester für zeitgenössische Musik bei einem Jubiläum eher zurück oder nach vorne? Daniela Martin sagt: „Beides. Vor allem aber blicken wir ins Heute und in die Zukunft. Welche gesellschaftlichen Perspektiven und Utopien können wir in unseren Programmen beleuchten?“ In dieser besonderen Spielzeit setzt sich die Basel Sinfonietta unter anderem mit Fragen der Migration und dem Verhältnis westlicher zu non-europäischer Musik auseinander. Im Oktober war bspw. das bolivianische Orquestra Experimental de Instrumentos Nativos zu Gast, um mit der Basel Sinfonietta ein interkontinentales Programm mit Musik südamerikanischer und Schweizer Komponist:innen zu spielen.
Roberto Gerhard, Sinfonie Nr. 4 „New York“ (UA 1967), Basel Sinfonietta 2003, Eigenproduktion SRG/SSR: Migration prägte das Leben des aus Olten stammenden Komponisten Roberto Gerhard. Bereits 2003 spielte die Basel Sinfonietta mit Johannes Kalitzke seine 4. Sinfonie ein, die Erste erklingt im Konzert am 16. Januar.
Das Konzert am 16.1.2022 im Stadtcasino Basel läuft unter dem Motto „Schwerkraft Migration“. Sowohl äußerliche als auch innere Migrationsbewegungen sind dabei impliziert – erstere etwa bei Roberto Gerhard. Der 1970 verstorbene Komponist wurde in Katalonien geboren, hat familiäre Wurzeln in Olten und schrieb seine Musik vom britischen Exil aus. Er ist mit seiner 1. Sinfonie von 1952/53 vertreten. Bei Hèctor Parra geht die Reise nach innen und ins all-umfassende Außen zugleich – sein Stück InFALL von 2011 handelt von Schwerkraft und kosmologischen Meditationen über die menschliche Existenz.
Mit dem Stück Waves, einem Kompositionsauftrag an Kevin Juillerat, setzt die Basel Sinfonietta ihre Mission fort, jungen Schweizer Komponist:innen eine Plattform zu bieten – gerade auch solche, die wie Juillerat, noch nie für Orchester geschrieben haben. Ob dieser sich mit der Aufgabe unter Druck gesetzt fühlt? „Ich würde es eher als Herausforderung beschreiben. Auch wenn ich viel mit Einflüssen der elektronischen oder Rockmusik arbeite, so habe ich mich auch immer der sinfonischen Tradition verbunden gefühlt. Mich erschreckt das nicht. Das Orchester ist ein großartiges Instrument.“
Damit verrät der Komponist und Saxofonist mit Jahrgang 1987 zugleich seinen Zugriff auf den sinfonischen Klangkörper. Er betrachtet ihn als ein großes Meta-Instrument, mit dem sich durch Kombination und langsame Prozesse neue Klangfarben erzeugen lassen. Dabei bezieht er auch Techniken aus der elektronischen Musik mit ein, etwa die Ringmodulation – eine simple Form der Klangsynthese, bei der sich zwei Klangsignale manipulieren und ein drittes, neues erzeugen lassen.
Kevin Juillerat, Le vent d’orages lointains – for piano and strings, Camerata Ataremac / Gilles Grimaitre 2018, Eigenproduktion SRG/SSR: Klangfarben-Schichtungen und sich langsam verändernde Texturen finden sich auch in Kevin Juillerats Stück „Le vent d’orages lointains“ für Klavier und Streicher von 2018.
„In meinen letzten elektroakustischen Stücken habe ich viel mit Texturen gearbeitet, die sich langsam verändern. Das wollte ich auch mit dem Orchester umsetzen. So gibt es gegen Ende des Stücks einen Drone, also einen sehr lang gehaltenen Ton, der mit den Mitteln der Ringmodulation in seinem Spektrum verändert wird.“ Konkret setzt Juillerat zu dieser Modulation Töne auf den Drone, die sich aus der Kernzelle seines Stücks ergeben: Sechs Tönen, die sich aus den Buchstaben B-A-S-E-L und SI für Sinfonietta ergeben. „Ich habe viel an Klangfarben gearbeitet, die immer in Veränderung begriffen sind. Dabei habe ich versucht, die einzelnen Instrumente in ihrer Wiedererkennbarkeit zu verschleiern. Es geht ganz um die Farben“, betont Juillerat.
Diese Eigenschaft seiner Musik war es auch, die Baldur Brönnimann beeindruckte, als er ein Stück Juillerats mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne aufführte. So schlug ihn der Principal Conductor der Basel Sinfonietta für das Auftragswerk vor, das am 16. Januar seine ersten Wellen vor dem Basler Publikum schlagen wird. So träge, wie es ein Orchester braucht, um so richtig in Wallung zu geraten – und, wenn es dann so weit ist, so behende, wie die Basel Sinfonietta auch die nächsten 40+1 Jahre angehen möchte.
Friedemann Dupelius
Die Basel Sinfonietta stellt auf ihrem neo.mx3-Profil eine grosse Auswahl aus ihrem Audio- und Videoarchiv zur Verfügung.
Basel Sinfonietta: Saison 40+1:
die kommenden Konzerte
IRCAM, Roberto Gerhard, Daniela Martin, Hèctor Parra, Baldur Brönnimann, Orquestra Experimental de Instrumentos Nativos, Orchestre de Chambre de Lausanne
neo-profiles:
Kevin Juillerat, Basel Sinfonietta, Isabel Klaus, Gilles Grimaitre