Von Wechselklängen und Fokussierungen

Marcus Weiss, Basler Saxofonvirtuose, verschreibt sich wie kein anderer der zeitgenössischen Musik. Eben ist eine CD mit vier ihm auf den Leib geschriebenen Werken für Orchester und Solosaxofon erschienen.

Peter Révai
Marcus Weiss, der herausragende Saxofonvirtuose der europäischen Neuen Musikszene, hat beim Label Wergo mit «SAX – contemporary concertos for saphone» eine CD mit exemplarischen zeitgenössischen konzertanten Solowerken mustergültig eingespielt und dieser Tage veröffentlicht. Darunter finden sich so unterschiedliche Werke wie Focus, Konzert für Saxofon und Orchester, des ungarischen Altmeisters Peter Eötvös aus dem Jahre 2021, und Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas von 2008. Alle eingespielten Werke wurden von Weiss uraufgeführt und durften bereits mehrere Aufführungen mit unterschiedlichen Orchestern erleben. Mitverantwortlicher dieser Werksammlung ist Harry Vogt, der frühere Künstlerische Leiter des Festivals für zeitgenössische Kammermusik Witten und Redaktor des WDR, der alle Stücke dieser CD produziert hat.

 

Portrait Marcus Weiss zVg. Marcus Weiss

 

Wie kein Zweiter ist der Basler Instrumentalist Marcus Weiss daran, sein von Adolphe Sax erfundenes und 1846 patentiertes Instrument bei den zeitgenössischen Schöpferinnen und Schöpfern von Musik an den Mann respektive an die Frau zu bringen. Anders als beim Jazz in den Big Bands hat dieses Holzblasinstrument in der klassischen Sparte keinen fixen Platz in den Orchestern gefunden. Umso mehr taucht es in der zeitgenössischen Kammermusik auf, was auch die regelmässigen internationalen Auftritte von Weiss im «Trio Accanto»  und im Pariser Saxofonquartett XASAX belegen.

Seit seiner ersten selbst produzierten Solo-CD «Neue Musik für Saxophon» 1991 mit Werken von Giancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio Sotelo und Roman Haubenstock-Ramati ist Weiss in Sachen Neuer Musik weltweit unterwegs. Dabei hat er mehr als nur im Jahrestakt Einspielungen auf den Markt gebracht und unzählige Neukompositionen angeregt. Dass dabei der volle Einsatz des Musikers gefragt ist, belegt auch die Entstehung von Focus von Peter Eötvös.

 


Peter Eötvös, Focus, Sinfonieorchester Basel, Leitung: Peter Eötvös, Saxofon: Marcus Weiss, 2022, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Für Focus hat Weiss den Komponisten nach einem gemeinsamen Konzert in Wien angefragt, ob er ein Saxofonkonzert für ihn schreiben könne. Während fünf Jahren standen sie dafür im ständigen Kontakt. Während der Corona-Pandemie tauschten sie sich via Videoconferencing aus. Kurz vor der Uraufführung mit dem WDR Sinfonieorchester trafen sie sich persönlich am Wohnort von Eötvös in Budapest, wo sie jede Phrasierung und alle Tempi gemeinsam durchgingen sowie Korrekturen anbrachten, so Weiss.

Herausgekommen ist ein viersätziges, äusserst virtuoses und klanglich anregendes Solokonzert, bei dem das Saxophon, mal das Tenor- und dann das vor allem im Schlusssatz eingesetzte Sopransaxophon, voll chromatisch und mit ausgeprägtem sprachlichem Parlando im Fokus steht. Die Musik ist bis zum Schluss rhythmisch ziemlich aufgeladen. Sie  bewegt sich ausgehend von einem immer wiederkehrenden «Hummelflug»-Thema mit allen Extremen der Artikulation und der Dynamik durch verschiedenste klangfarbliche Situationen oder Tableaus fort. Der letzte Satz endet völlig gegensätzlich mit lyrischen introvertierten, immer mehr ausfransenden Sopranmomenten.

Wie Eötvös im Programmbuch zur Uraufführung mitteilt, stamme die Idee zu Focus aus der Welt der Films. So wie dort die Kamera sich häufig auf jemanden fokussiere oder auf etwas konzentriere, so bilde in seinem Stück das Orchester den «Hintergrund», und überlasse den «Premier Plan» dem Solisten, wobei sich seine «Tonkamera» in Zeitlupe langsam auf das eine oder andere fokussiere.

Der Plan von Eötvös geht auf. Man merkt, dass er das Saxofon erfasst und zur vollen Entfaltung bringt. Man glaubt, ohne zu zögern, wenn der Komponist schreibt, dass ihm seit seiner Kindheit das Saxophon sehr nahe stünde, weil es so klänge, als würde er selber singen. Er habe viele Jazzsaxofonisten wie Paul Desmond, Gerry Mulligan, Stan Getz und Sonny Rollins im staatssozialistischen, Jazz-feindlichen Ungarn gehört. Später, nach seiner Auswanderung nach Köln, habe er das Saxophon mit Jazzklängen angereichert, ohne sich aber je dem Jazz zuzuneigen. Denn als Komponist, so Eötvös, schreibe er stets klassisch jeden einzelnen Ton nieder. So kämen zwar in seinen Konzerten Saxofone häufig zum Einsatz, doch behandelt er das Instrument hier zum ersten Mal solistisch. Dabei kommt es mit einer Ausnahme im Schlusssatz ohne den Einsatz neuer Spieltechniken (extended techniques) aus, verlangt aber eine gewisse Fingervirtuosität. Auf der CD spielt neben Weiss, wie an der Uraufführung, das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Elena Schwarz.

Dasselbe Orchester ist auch für die Einspielung des einsätzigen Konzert für Baritonsaxofon und Orchester von Georg Friedrich Haas zuständig, diesmal unter der Leitung von Emilio Pomàrico.

 


Georg Friedrich Haas, Konzert für Baritonsaxofon und Orchester, WDR Sinfonieorchester, Leitung: Emilio Pomàrico, Saxofon: Marcus Weiss, 2019, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Das Konzert entstand, als der österreichische Komponist wie Weiss an der Musikakademie Basel als Dozent tätig war. Zeitgleich verfasste Weiss zusammen mit dem italienischen Komponisten Giorgio Netti ein Lehrbuch über das Saxofonspielen, in dem als Spezialität die neuartigen Mehrklänge (Multiphonics) systematisch dargestellt sind.

Nachdem Weiss dem Kollegen Haas  auch sein riesengrosses Baritonsaxophon demonstrierte, setzte der für mikrotonales Komponieren bekannte Österreicher es wirkmächtig in Musik um: die neuen Spieltechniken fügte er gemäss seinem Spektralkonzept kongenial in das Spiel des solistischen Rieseninstruments ein.

Diese Zusatztöne sind auch Grundlage des Orchestertuttis , wobei Haas der Musik genügend Raum und Zeit bietet, um dessen ganze Magie zu entfalten. Mehrere Generalpausen verstärken seine mächtige Wirkung. Entstanden ist das Stück im wesentlichen anlässlich eines Japanaufenthaltes. Es gehe ihm um die Verarbeitung der Erfahrungen mit einer anderen Kultur, berichtet der Komponist. Im Zentrum steht eine aus einem Shinto-Ritual übernommene Episode. So spielt das Soloinstrument eingebettet zwischen scharfen Akzenten nach innen gerichtete Melodien, deren Nachhall weiterlebt.

Mitunter ist das Saxofon völlig im Orchesterklang eingebettet, bis es wieder daraus solistisch hervortritt, so dass Wechselklänge von Tutti und Solo auf ganz spezielle Weise erfahrbar werden. Das dynamische Spektrum ist äusserst variabel, wobei die Körperlichkeit des Soloinstruments immer wieder durchschlägt. So fängt etwa das Stück für den Solisten mit allergrösster Kraft an, um alsdann schnell in höchster Lage im dort schwierig zu spielenden Piano pianissimo zu landen. Dort im «Weissen Schnee», so Weiss, würden von ihm als Musiker Viertel-, ja sogar Achteltöne verlangt, was extrem sei.
Nebst den beiden Werken komplettieren Saxordionphonics für Sopransaofon, Akkordeon und Kammerorchester (2014) des litauischen Komponisten Vykintas Baltakas und Violent Incidents. Hommage à Bruce Nauman (2005 -2006), für Saxofon und Ensemble des österreichischen Jarell-Schülers Johannes Maria Staud die sehr empfehlenswerte CD.
Peter Révai

 

CD: SAX – Contemporary Concertos for Solosaxophone, Wergo / Schott, release 20.1.2023

Marcus Weiss / Giorgio Netti: Die Spieltechnik des Saxofons, Bärenreiter 2010

Marcus Weiss, CD: Neue Musik für Saxofon, 1991

Trio AccantoAdolphe SaxHarry VogtGiancinto Scelsi, Luciano Berio, Walter Zimmermann, Mauricio SoteloRoman Haubenstock-Ramati, Emilio PomàricoElena SchwarzPaul Desmond, Gerry Mulligan, Stan GetzSonny RollinsWDR Sinfonieorchester, Vykintas BaltakasJohannes Maria Staud

 

Neo-profiles:
Marcus Weiss, Xasax Saxofonquartett, Georg Friedrich Haas, Peter Eötvös

 

Superinstrumente und schöne Monster – Xenakis wird 100

Zum 100. Geburtstag von Iannis Xenakis finden am 28. und 29. Mai 2022 die Xenakis-Tage Zürich statt. Initiiert hat das Festival der Musikwissenschaftler Peter Révai. Ihm gelang es 1986, Iannis Xenakis nach Zürich zu holen, an die von Révai gegründete «konzertreihe mit computer-musik». An den drei Konzerten der Xenakis-Tage wird die breite Palette von Xenakis Schaffen präsentiert.

 

Portrait Iannis Xenakis 1973 © les amis de Xenakis

 

Cécile Olshausen
Der Komponist Iannis Xenakis (1922-2001) wird meist mit drei Etiketten versehen: griechischer Widerstandskämpfer mit schwerer Gesichtsverletzung, Le Corbusiers Assistent (später auch Konkurrent), und musikalischer Mathematiker. Seine Tochter Mâkhi bringt einen weiteren und überraschenden Aspekt mit ins Spiel: sie berichtet, dass ihr Vater eigentlich ein Romantiker gewesen sei. Johannes Brahms war sein Lieblingskomponist. Das Buch, das Mâkhi Xenakis 2015 über ihren Vater geschrieben hat, erscheint dieser Tage in deutscher Übersetzung. Der Mitherausgeber Thomas Meyer wird an den Xenakis-Tagen in Zürich darüber berichten. Vater und Tochter verband eine liebevolle, aber auch ambivalente Beziehung. Xenakis wollte unbedingt, dass seine Tochter den mathematisch-naturwissenschaftlichen Weg einschlägt, erst dann sollte die Kunst kommen; so wie er es vorgelebt hatte. Als Kompromiss studierte Mâkhi Xenakis dann Architektur, aber sie wurde nicht Architektin, sondern Bildhauerin und Malerin.

Xenakis also liebte Brahms und entwickelte gleichzeitig visionäre Klangwelten. Er beschäftigte sich mit elektronischer Musik und Schlagzeug, da er hier ein grosses Potential nie zuvor gehörter Klänge sah.

 


Iannis Xenakis beschäftigte sich oft mit Schlagwerk, ein Instrument, in dem er ein grosses Potenzial an neuen Klängen sah, Rebonds B für Schlagwerk (1987-1989), Marianna Bednarska, Lucerne Festival 22.8.2019, Eigenproduktion SRG/SSR
Aber auch eine der traditionellsten Gattungen, das Streichquartett, verwandelte er in etwas Neues. Seine Streichquartette werden in Zürich gesamthaft aufgeführt, und zwar vom Arditti Quartet, für das Xenakis zwei der vier Quartette komponiert hat. Eine tour de force, denn die Werke sind rabiat schwer zu spielen.

 

«Superinstrument» Streichquartett

 

Goethes Bonmot, man höre beim Streichquartett «vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten» kann man dabei gleich vergessen. Denn Xenakis bricht mit fast allen Traditionen des Streichquartetts. Da gibt es keinen Austausch musikalischer Gedanken, keine Motiventwicklungen, keine individuellen Wortmeldungen. Vielmehr scheint Xenakis hier für ein einziges, verschlungenes «Superinstrument» zu schreiben. Ein Superinstrument, das durch den ganzen Tonraum rast, von extrem tief bis spitzig hoch, das seine Klangfarben ständig ändert mit unterschiedlichen Tremoli, mit Pizzicati aller Art und mit col legno-Partien, also mit dem Bogenholz gestrichenen oder geschlagenen Tönen. Und vor allem: Die vier Streicher sausen mit ihren Fingern über die Griffbretter und hinterlassen dabei regelrechte Feuerschweife. Gerade in den ersten beiden Quartetten (ST/4 und Tetras) ist das Glissando Xenakis liebstes musikalisches Mittel. Er erzeugt damit eine faszinierende Schwerelosigkeit des Klangs. Dieses Schwebende hat Xenakis auch in seiner Architektur verwirklicht: der von ihm für die Weltausstellung 1958 in Brüssel entworfene Philips-Pavillon mit seinen kühnen Kurven ist eine in Beton gegossene Glissando-Musik.

 


In Phlegra für Ensemble von 1975 lässt sich Xenakis’ Vorliebe für Glissandi gut hören, Ensemble Phoenix Basel, Dir. Jürg Henneberger, Gare du Nord, 3.11.2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

An den Xenakis-Tagen in Zürich werden aber auch Raritäten zu hören sein, die eine ganz andere Seite seines Schaffens offenbaren, nämlich Kammermusik, die an Volksmusik erinnert. Diese Kompositionen weisen weit in Xenakis Vergangenheit. Er wurde in Rumänien geboren. Die erste Musik überhaupt, die Xenakis als Kind hörte, war Volksmusik, die in seiner Geburtsstadt Brăila in den Kaffeehäusern und im Radio erklang. Die traditionelle rumänische und griechische Musik findet ein Echo in diesen Kammermusikwerken.

Ein weiterer Aspekt von Xenakis Schaffen wird in einer Matinée am Sonntagmorgen im Pavillon Le Corbusier gezeigt. Dort erklingt Xenakis letzte elektronische Komposition: GENDY3 aus dem Jahr 1991. Hier wurde Xenakis grosser Traum eines komponierenden Automaten Wirklichkeit. In GENDY3 kontrolliert der Computer mittels Zufallsoperationen nicht nur die Klangereignisse, also Rhythmus, Tonhöhe und Tonfolge, sondern auch die Klangfarben. Im Vergleich zu manch heutiger computergenerierter Musik, die keinesfalls nach Computer klingen soll, wird bei GENDY3 nicht versteckt, dass da eine Maschine komponiert, es röhrt und quietscht und brummt. Xenakis sagte einmal, er hoffe, seine Musik töne nicht «wie ein Monster». GENDY3 klingt aber tatsächlich wie ein lebendiges Ding, – ein fantastisches, schönes Monster.
Cécile Olshausen

 

Portrait Iannis Xenakis 1988 © Horst Tappe

 

Les amis de Xenakis, Iannis Xenakis, Johannes Brahms, Mâkhi Xenakis, Thomas Meyer, Arditti Quartet, Le Corbusier, Philips Pavilion, Peter Révai, Pavillon Le Corbusier

 

Xenakis Tage Zürich, 28. und 29. Mai 2022

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 28. Mai, 20h, Konzert Streichquartette, Arditti Quartet, Vortragssaal Kunsthaus Zürich
Sonntag, 29. Mai, 11h, Gesprächskonzert, GENDY3, Pavillon Le Corbusier
Sonntag, 29. Mai, 18h: Konzerteinführung mit Thomas Meyer / Konzert Kammermusik, Swiss Chamber Soloists, Kirche St. Peter Zürich

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 25.5.2022, 20h, Musik und Architektur – Iannis Xenakis zum 100 Geburtstag, Redaktion Cécile Olshausen
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 23.6.2021, 20h, Nackte Wucht: Iannis Xenakis’ “Metastasis”, Redaktion Moritz Weber

neo-Profile:
Iannis Xenakis, Arditti Quartet

“Schweizer Tage für neue Kammermusik an der Ruhr”

Vom 6. bis 8. Mai stehen an den Wittener Tagen für neue Kammermusik Arbeiten von Komponist:innen aus 17 Nationen auf dem Programm. Beinahe ein Drittel der Stücke stammen aus der Hand von Schweizer Komponierenden.

Peter Révai
Die Wittener Tage für neue Kammermusik gelten landauf landab als das renommierteste Festival für avanciertes Musikschaffen. Wer den aktuellen Stand der Dinge in Sachen zeitgenössisches Musikdenken erfahren respektive sich anhören will, reist wie vor der Pandemie für ein Frühlingswochenende in den Südosten des Ruhrgebietes im Land Nordrhein-Westfalen. Das Festival wird seit 1969 von der Stadt Witten und dem Westdeutschen Rundfunk WDR gemeinsam veranstaltet. Sein Renommee hat es dem WDR-Musikredaktor Harry Vogt zu verdanken.  Künstlerischer Leiter seit 1990, ist es ihm stets gelungen, durch seine kenntnisreiche Auswahl die Spreu vom Weizen zu trennen und das Relevanteste des aktuellen Musikgeschehens vorzuführen. Die Pointe daran ist, dass es sich bei den Stücken meistens um Auftragswerke handelt, die weltweit erteilt werden, hier zu Ihrer Uraufführung gelangen und in der Regel von ständigen Sprengungen der Sparte Kammermusik zeugen, indem bisherige Regeln radikal gebrochen werden. Eine weitere Spezialität von Vogt: Er lässt die Stücke jeweils von den bestmöglichen InterpretInnen spielen. Zum grossen Bedauern der Szene gibt Vogt mit der diesjährigen Ausgabe die Leitung altershalber ab.

 

Portrait Harry Vogt © WDR / Claus Langer

 

Helvetier ante portas

Zum hohen Anteil an Beteiligten aus der Schweiz an dieser Ausgabe lässt Vogt den Spruch fallen, dass das diesjährige Festival fast schon als »Schweizer Tage für neue Kammermusik an der fernen Ruhr durchginge«. Auch in der Schweiz als Dozierende wirkende Musiker:innen mit ausländischem Hintergrund sind diesmal zahlreich vertreten wie etwa der E-Gitarrist Yaron Deutsch, der ab Herbst an der Basler Musikhochschule den Bereich zeitgenössische Musik leiten wird, die ebenfalls dort unterrichtende Sopranistin Sarah Maria Sun oder die in Lugano geborene Dirigentin und Arturo-Tamayo-Schülerin Elena Schwarz. Sie absolviert als Leiterin des Ensemble Moderne ein Monsterprogramm mit drei Konzerten mit Werken u.a. des Altmeisters Georges Aperghis oder der als Composer-in-Residence eingeladenen 38 Jahre alten Serbin Milica Djordjevic. Sie lebt in Berlin, ist u.a. Schülerin von Kyburz gewesen, und sorgte erstmals in Witten 2017 mit quirlliger Klangbehandlung in ihrem verdoppelten Streichquartett für Furore.

 

Portrait Elena Schwarz, Luzern, 19.03.2016 ©: Elena Schwarz/ Priska Ketterer

 

Daneben hat auch der in Biel lehrende Teodoro Anzelotti einen Spezialauftritt. Für Witten hat er, für den mehr als 300 Solostücke entstanden sind, sich nun auch ein wegen den Covid-19-Massnahmen längst überfälliges Solo-Akkordeon-Stück des in Berlin lebenden Hanspeter Kyburz vorgenommen. Für das Werk seien sie, berichtet Anzelotti, seit gut 15 Jahren im Gespräch.

Anzelotti erwartet viel davon, zumal es, so der Musiker, wenige Kompositionen gäbe, in denen sich die Grundelemente Strukturdenken und Klangsinnlichkeit so gut miteinander verbänden. Wie der Komponist wissen lässt, heisst das Stück Sisyphe heureux nach dem existentialistischen französischen Autor Albert Camus, nur um zum Schluss nachzuschieben, dass man sich Sisyphos glücklich vorzustellen habe – »il faut imaginer Sisyphe heureux«.

Auch das neue Trio von Beat Furrer hat eine längere Genese hinter sich. Ins Offene hätte bereits 2018 fertig sein sollen, verzögerte sich aber wegen seiner Oper Violetter Schnee, deren Uraufführung 2019 in Berlin erfolgte. In den darauf folgenden zwei Jahren wütete bekanntlich das Virus. Furrer hat das Stück dem Trio Accanto mit dem Basler Saxophonisten Marcus Weiss auf den Leib geschrieben. Seine Grundlage ist wie bei vielen Werken Furrers die Idee der Metamorphose. Die permanente, organische Verwandlung vollzieht sich auf mehreren Ebenen, die durch Schnitte und Kontraste plötzlich durchbrochen werden, was zu hohen emotionalen Qualitäten und körperlichen Momenten führt.

 


Beat Furrer, Il mia vita da vuolp, Marcus Weiss, Saxofon, Rinnat Moriah, Sopran, UA, Festival Rümlingen 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Furrers jüngere Arbeiten thematisieren in besonderer Weise das Problem der Prozessualität. Furrer meint dazu: »Das Phänomen des Verdoppelns, aber auch des Verzerrens in einem Schattenbild hat mich interessiert, und resultierend aus einem Ineinanderschneiden von Stimmen das Entstehen von Prozesshaftem«.

Weitere Uraufführungen betreffen Konzerte mit Werken der Komponistinnen Betsy Jolas, Sarah Nemtsov, Rebecca Saunders (in Kooperation mit Enno Poppe) und der iranischen Elnaz Seyedi. Trotz ihren 96 Jahren wartet gerade das Werk von Jolas, das sich stets gegen die serielle Abstraktion der französischen Zeitgenossen entgegen stellte,  im deutschsprachigen Raum auf seine gebührende Rezeption. Die Schülerin von Darius Milhaud und Olivier Messiaen war lange am Radio, danach als Nachfolgerin von Messiaen Dozentin für Analyse und Komposition am Conservatoire de Paris tätig. Ihres und das Stück von Nemtsov führt das Trio Catch mit der Zürcher Cellistin Eva Boesch auf.

 

 Ricardo Eizirik, Trio Catch: obsessive compulsive music UA 2019

 

Im Park

Seit mehreren Jahren gehören Klanginstallationen zum unverzichtbaren Bestandteil des Festivals. Dafür werden jedes Jahr verschiedene Ecken und Orte Wittens in Beschlag genommen. Diesmal ist es ein Park, der 1906 für Schwestern einer evangelischen Ordensgemeinschaft, die im Krankenhaus arbeiteten, als Ort der Erholungen konzipiert wurde. Sie sollten dort »Licht und Luft« bekommen. Nun bietet er Platz für zwölf Klanginstallationen und Interventionen. Von den zwölf beteiligten KlangkünstlerInnen sind allein vier mit der Schweiz verbunden. Die Freuden und Sehnsüchte der Schwestern von damals versucht die an der BKHS in Bern dozierende bildende Künstlerin und Performerin Lilian Beidler zu ergründen.

 


Lilian Beidler, Art Mara – Women’s ground 2018

 

In ihrer Arbeit Lustwurzeln und Traumrinden wolle sie die »Natur abhören«, lauschen, ob die vertraulichen Gespräche der »lustwandelnden« Schwestern noch in alten Bäumen steckten, in den Boden gesickert seien oder im Bach murmelten, beschreibt SRF-Redaktorin Cécile Olhausen die Arbeit. Demgegenüber steuert der Performance-Fuchs Daniel Ott eine durchlässige Intervention für Trompete, Steeldrums und Stimmen ad libitumunter seiner Leitung bei.

 

Um ganz andere Naturtöne geht es bei der Live-Installation Mum Hum des Zürchers Mauro Hertig: Basismaterial sind Klänge des Ensemble Garage. Sie sollen solchen entsprechen, die ein ungeborenes Kind in einem Mutterleib hören könnte. Hertig liefert ein Installation-Setting, in dem die eine Seite eines Telefons die Aussen­welt repräsentiert und die andere die Geräusch­kulisse des Fötus im Bauch von Hertigs Lebenspartnerin, der Künsterin Camille Henrot.

 

Mauro Hertig: The great mirror, Version Royaumont 2019

 

Von der in Basel lehrenden Andrea Neumann stammt die Musik-Choreografie Überspringen für vier Performende und vier mobile Lautsprecher. Seit 1996 entwickelt die Freiburgerin mit dem sogenannten Innenklavier ein eigenes Instrumentarium, mit dem sie Schönheiten in Geräuschen auf der Spur ist.

Was ist der Grund für eine solche Anballung von Arbeiten Schweizerischer Provenienz? Zum einen dürfte dies dem »Aufführungsstau« in Folge der Lockdown-Massnahmen geschuldet sein. Es gab in den letzten zwei Jahren auch in Witten – abgesehen von einigen Streaming-Übertragungen – keine Live-Konzerte mehr. Zum anderen dürften viele helvetische Komponist:innen wie Furrer und Kyburz gut zum »Beuteschema« des scheidenden intendanten passen: Denn sie kreieren Stücke, in denen technische Raffinesse mit grossen emotionalen Qualitäten verbunden werden; etwas, das beispielsweise Arnold Schönberg mit „Triebklänge“ umschrieben hatte.
Nicht zu unterschlagen ist ausserdem die nicht unwesentliche »Mitgift« aus der Schatulle der helvetischen Förderinstitution Pro Helvetia.
Peter Révai

 
Die diesjährige Ausgabe der Wittener Tage für neue Kammermusik finden von 6. bis zum 8. Mai statt. Die Konzerte werden live oder zeitversetzt vom WDR übertragen.
Teodoro Anzellotti, Hanspeter Kyburz, Trio Accanto, Arturo-Tamayo, Elena Schwarz, Georges Aperghis, Rebecca Saunders, Sarah Nemtsov, Betsy Jolas, Enno Poppe, Elnaz Seyedi, Camille Henrot, Andrea Neumann, Milica DjordjevicYaron Deutsch

neo-Profile:
Marcus Weiss, Beat Furrer, Lilian Beidler, Mauro Hertig, Sarah Maria Sun, Daniel OttTrio Catch, Ensemble Modern