Musik ist immer politisch! Luigi Nono 100

Luigi Nono (1924-1990) gilt als zentrale Figur der internationalen Musikavantgarde: Ein Portrait von Florian Hauser zu seinem 100. Geburtstag am 29. Januar.

Florian Hauser
Alle sind sie gekommen. Mehrere Tausend Arbeiter versammeln sich in ihrer Betriebspause und wollen hören, was Nono aus den Geräuschen gemacht hat. Das brüllend laute Dröhnen und Zischen des Hochofens in ihrer Stahlfabrik hatte er aufgenommen, und jetzt stellt er ihnen seine Tonbandcollage vor. Und anschliessend diskutieren die Arbeiter darüber, beginnen sie nachzudenken über ihre Arbeitsbedingungen. ‘La fabbrica illuminata’ heisst das Stück, das Luigi Nono Mitte der 60er Jahre den Stahlarbeitern in Genua widmet. Ein Paradebeispiel von Partizipation, würde man heute sagen. Hochmodern, bis heute. Und darum war es ihm immer gegangen: Luigi Nono machte Musik, um ein politisches Bewusstsein zu schaffen.

Luigi Nono, am 12. November 1976 in der Roten Fabrik in Zürich. Nono führt elektronisch bearbeitete Originalgeräusche aus einer Fabrik vor und diskutiert mit den Zuhörern über seine Werke © Keystone.

 

Luigi Nono stammt aus einem Venezianischen Bildungsbürgerhaushalt. Als er ein Jahr alt ist, wird Benito Mussolini zum faschistischen Diktator Italiens. Das prägt Nonos gesamte Entwicklung, ja sein ganzes Leben. Gegen Unterdrückung, Krieg und soziale Missstände will er kämpfen. Dass er das als Komponist tut, ist nur ein Zufall, sagt er: denn er findet Anschluss an die musikalische Avantgarde nach dem 2. Weltkrieg.

Es ist die Zeit des grossen Aufbruchs. Eine junge Komponistengeneration will auch musikalisch eine neue Welt errichten, die alten Expressionen haben ausgedient, klare Strukturen müssen her, neue Komponier-Techniken, auch neue Hilfsmittel wie Elektronik.
Ein wichtiges Zentrum der neuen Avantgarde, die sich formiert, ist das deutsche Darmstadt.


Luigi Nono, Incontri für 24 Instrumente, UA 1955, Eigenproduktion SRG/SSR: 1955 – Nono ist bereits fest eingebunden in die Darmstädter Ferienkurse – schreibt er eine musikalische Liebeserklärung an seine zukünftige Frau, Nuria, die Tochter Arnold Schönbergs: Incontri für 24 Instrumente, die Begegnung selbstständiger musikalischer Strukturen. „So wie zwei Wesen, verschieden voneinander und selbstständig in sich, sich begegnen und aus ihrer Begegnung zwar keine Einheit werden kann, aber ein Sich-Entsprechen, ein Zusammensein, eine Symbiose”. Nach der Uraufführung in Darmstadt verloben sich Nuria Schönberg und Luigi Nono, kurze Zeit später heiraten sie.

 

Drei Komponisten werden bei den sogenannten ‘Internationalen Ferienkurse für neue Musik’ Darmstadt zu den zentralen Figuren: der Franzose Pierre Boulez, der Deutsche Karlheinz Stockhausen und der Italiener Luigi Nono.

Was zunächst als wunderbare und intensive Künstlerfreundschaft beginnt, ändert sich bald, Differenzen werden deutlich. Nono ist derjenige, der nicht l’art pour l’art machen will, wie die Kollegen. Er will raus aus dem Elfenbeinturm, auf die Strasse, zu den Menschen. Und vertont zum Beispiel Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer….

“Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von Musik” 

Das Menschliche, das Politische lässt sich nicht trennen von der Musik, sagt Luigi Nono. Er versucht immer dringlicher, den Finger auf soziale Missstände zu legen. Mit allen musikalischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, macht er das: wilden Orchesterimpulsen, Klängen an der Grenze zum Verstummen, mit Collagen, Elektronik oder Musik, die sich im ganzen Raum verteilt.

„Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die grösstmögliche entäusserte Innerlichkeit”, mit diesen Worten umschrieb Nono 1983 sein ewiges Ziel, „als Musiker wie als Mensch Zeugnis abzulegen”.


Luigi Nono, No hay caminos, hay que caminar, UA 1987, Eigenproduktion SRG/SSR: Den Satz „Caminantes, no hay caminos, hay que caminar« (Wanderer, es gibt keinen Weg, du musst einfach gehen) hatte Nono auf der Wand eines Klosters in Toledo gelesen. Daraus wurde sein letztes Orchesterwerk, der Titel könnte geradezu als Motto für Nonos gesamte kompositorische Arbeit stehen. No hay caminos, hay que caminar. Dynamik und Tempo sind extrem zurückgenommen, nur für kurze Augenblicke entstehen dramatische Klangrisse. Nono verwendet nur einen Ton, das g mit vierteltönigen Erhöhungen und Erniedrigungen, also sieben Töne im Vierteltonabstand in allen Oktavlagen. Die Unterschiede zwischen Tonhöhen und Klangfarben verschwinden, es ist ein magisches Spiel, das die Beziehungen zwischen den Parametern radikal überdenkt.

 

Sein Leben, sein Musik-Machen ist anstrengend, und letztlich zerbricht Nono vielleicht an seinem eigenen Anspruch. ‘Ich habe eine Selbstzerstörung an mir vorgenommen,’ wird er am Ende sagen, und als er mit Mitte 60 stirbt, hat er einsehen müssen, dass auch Musik keine Revolutionen auslösen kann.

Was von ihm bleibt? Seine kompromisslose Haltung. Sein Motto. Ascolta! Hör doch zu!
Florian Hauser

Luigi Nono (1924 – 1990) conducting his piece ‘Canti di vita e d’amore: sul ponte di Hiroshima’ in rehearsal at the Royal College of Music, London, 7th September 1963. © Erich Auerbach/Hulton Archive/Getty Images.

 

Sendungen SRF Kultur:
Luigi Nono zum 100: Helmut Lachenmann und seine Erinnerungen an Luigi Nono, Musik unserer Zeit, 31.01.2024, Redaktion Florian Hauser.
Er vertonte die Abschiedsbriefe von Widerstandskämpfern, online-Text srf.ch, 29.01.2024: Autor Florian Hauser.
Zum 100. Geburtstag: Luigi Nono: Fragmente – Stille. An Diotima, Diskothek, 29.01.2024, Redaktion Annelis Berger

neo-profil:
Luigi Nono

Yello – Gesamt-Kunstprojekt erhält Grand Prix Musik 2022

Yello – das legendäre Schweizer Elektropop-Duo erhält den Schweizer Grand Prix Musik 2022. Seit mehr als vierzig Jahren und 14 gemeinsamen Alben strahlt das Duo aus Boris Blank, dem Klangtüftler, und Dieter Meier, dem Frontmann mit sonoriger Stimme, von der Schweiz aus in die Welt.

 

Portrait Yello zVg. Yello ©Helen Sobiralski

 

Gabrielle Weber
Der rhythmisch-groovige Sound und Wortschöpfungen wie «Oh Yeah» oder «Claro que si» prägen eine ganze Generation in den Achtzigern Aufgewachsener. Und noch heute, vierzig Jahre später, nehmen Yellos Rhythmen, ihre Wort- und Bildkreationen ungebrochen ein. Und das, auch wenn sie sich scheinbar fast nicht veränderten – aber eben nur fast.

1981 – im Video zu The evening’s young formen sich tanzende bunte Leuchtstäbchen zum Schriftzug Yello. Ein Gesicht in Nahaufnahme -ein junger Mann: Boris Blank- von vorn, von der Seite, sein Ganzkörper im Schattenspiel, rasche Schnitte, verschiedene Perspektiven, starke Farben, dann Dieter Meier am Mikrofon, wechselnde monochrome Farben im Hintergrund. Alles wird übermalt, verfliesst und beginnt wieder von vorn. Überblendungen, Schnitte, Licht- und Farbspiel. Der Klang rhythmisch vielfältig, dazu Sprechgesang auf einer Tonhöhe. Ein audiovisuelles Kunstprodukt, das die Möglichkeiten des Mediums musikalisch und visuell experimentell ausschöpft aber nicht überfrachtet: einfach, spielerisch leicht, elegant, selbstbewusst und selbstironisch.

 


Yello: The young, Video 1981

 

So präsentiert sich Yello – und bleibt dabei – die Rollenverteilung konstant: Blank kreiert die Klanglandschaften aus Samples und rhythmischen Pattern, und Meier steht fürs Visuelle und die Stimme. Er sei Dilettant, habe nie etwas Artistisches gelernt, alles sei reiner Zufall, sagt Meier gern, und Blank wiederum bezeichnet sich als Klangmaler und versieht seine Samples liebevoll mit individuellen Namen.

Präsentiert sich das Video zu The evenings young noch hausgemacht, so ist das Video zu Bostich von 1984, dem Song, der Yello auf Vinyl-Maxisingle als „natural born hit“ zuoberst in die weltweiten Hitparaden katapultierte, etwas ausgefeilter: Blank und Meier sind wieder die Protagonisten, dazu kommen diesmal rhythmisch tanzende Geräte und Maschinenteile. Ganz leicht kommt es daher, mit einem touch von Underground.

 


Yelllo: Bostich, Video 1984

 

In die Achtziger fällt auch die Gründung von Music Television, MTV, in New York: mit seinen 50 regionalen Ablegern festigt der neue Verbreitungskanal zahlreiche Popkarrieren. Yellos audiovisueller Ausrichtung kommt das neue Medium ganz natürlich entgegen. Das Duo nutzt es zukunftsweisend nicht «nur» für Musikvideos, sondern spinnt dort auch gezielt humorvoll-subversiv skurrile Geschichten, wie bspw. in der Performance Dr. Van Steiner von 1994, wo Blank als Urwaldforscher, interviewt von Meier, seine Sounds vom unter dem Tisch versteckten Keyboard einspielt und mimisch imitiert.

 


Yello Video@MTV: Dr. Van Steiner, 1994

 

Die Videos sind Kult, umso mehr als sich Yello -im Gegensatz zu vielen anderen Bands- gezielt Live-Konzerten entzieht: nach wenigen frühen ersten Auftritten, noch im Trio mit Carlos Perón, Gründungsmitglied, in Zürich, und einem ersten legendären Auftritt 1984 im DJ-Club Roxy in New York, machte sich Yello bis 2016 rar: zum Album toy gab’s dann erst wieder Live-Gross-Auftritte im Berliner Kraftwerk zusammen mit einem Bläserensemble. Sie wurden zum ausverkauften Grosserfolg.

Dass Yello, auch durchs neue Medium, das Label Schweizer Export-Pop-Band erhält, wird dem Duo kaum gerecht. Denn Yello ist genauso sehr Kunstprojekt, das sich allen gängigen Kategorisierungen entzieht. Blank und Meier bewegen sich davor einzeln in experimentelleren Szenen. Meier in der Performancekunst: Mit absurden Aktionen zieht er in den siebziger Jahren in Zürich und New York oder 1972 an der Documenta in Kassel Aufmerksamkeit auf sich und vertritt die Schweiz 1971 im New Yorker Museum of Modern art an der Show Swiss Avantgarde. Die Subversion nimmt er ins Musikprojekt Yello mit. Blank, Elektronikpionier und Samplevirtuose, bewegt sich vor Yello im experimentellen Zürcher und Londoner Elektro-Underground und orientiert sich an Jazz-und Neue Musiklegenden wie John Coltrane, Pierre Boulez und György Ligeti. Den Innovationsgeist transportiert er in seine Yello-Klanggemälde, in die Meier sich mit seiner tiefen Stimme einklinkt.

 

Preise aus unterschiedlichen Ecken

Die Preise, die das Duo über die Jahre erhält, kommen folgerichtig aus unterschiedlichen Ecken, 1997 der Kunstpreis der Stadt Zürich, 2010 der Swiss music award für das Album touch yello, 2014 der Echopreis zu 35Jahren Yello, um nur ein paar zu nennen. Und im dicken Jubliäums-Printband „Oh Yeah!“, herausgegeben 2021 mit einfachem schwarz-weissen Cover in der Edition Patrick Frey, blickt Yello kunstvoll auf die gemeinsame 40jährige, musikalisch wie visuell durchkonzipierte Geschichte zurück.

In den Musikprojekten, die Blank und Meier parallel zu Yello verfolgen, leben die beiden weitere Seiten von sich aus. Meier setzt die Stimme in seiner 2012 gegründeten Band Out of chaos anders ein und entwickelt Stücke auch selbst, Blank integriert in seine eigenen Projekte weitere Stimmen und gräbt mit anderem Fokus in seiner reichen Soundlibrary. 2014 bspw. arbeitete er fürs Album Convergence eng mit der Sängerin Malia zusammen. Oder für Electrified im selben Jahr rezyklierte und digitalisierte er alte analoge Stücke aus der Prä-Yello-Ära für eine limitierte Special edition mit allen über die Jahre bespielten Formaten – Vinyl, DVD, CD, Kassette, in Kombination mit z.T. eigenen Videos. Mit den heutigen digitalen Tools experimentiert er genauso gern optisch wie auch akustisch.

Ausgeklügelte, eingängige Rhythmen und Soundscapes, verbunden mit knackigem Text und farbenfrohen, unaufwändig daherkommenden Visuals, zusammengemischt mit subversiver Ironie und leichter Eleganz. Diesen Ton, dieses Bild behalten Yello während 14 gemeinsamen Alben bei. Und sukzessive macht sich das Duo neue technische tools zu eigen und spielt mit den Mitteln der Digitalisierung.

 


Yello, Wabaduba, point, Video 2020

 

2020: In Wabaduba auf dem bislang letzten, dem 14. Album point, tanzen Meier und Blank synchron: nunmehr beide um die siebzig Jahre alt, in einfacher computeranimierter, an ihnen vorbeiziehender schwarz-weisser Sci-Fi-Grossstadtkulisse, Meier im Anzug und Blank im James Bond-schwarzen Rollkragenlook mit Sonnenbrille. Die Welt zieht vorbei – Meier und Blank bleiben – und überraschen uns immer wieder.

Zu der von Blank selbst entwickelten und erst vor ein paar Jahren lancierten App, Yellofire, mit der jeder und jede Yello-ähnliche Sounds generieren kann, meint Meier: «Damit gibt’s nun vielleicht Liveauftritte – wir haben ja noch zirka weitere 30 Jahre vor uns».

Sie sind cool und sie bleiben sich treu, die beiden Herren. Eine Marke, die sich sanft mit der Zeit verändert, alle medialen Entwicklungen gekonnt ausschöpft und dennoch immer unverkennbar bleibt: das macht Yello gegen alle Zeitströmungen bis heute zum Trendsetter und zum Gesamt-Kunstprojekt.
Gabrielle Weber

 

Portrait Yello zVg. Yello ©Helen Sobiralski

 

Auf den neo-Profilen von Yello und Boris Blank findet sich z.T. noch unveröffentlichtes Videomaterial, u.a. das Video The pick up zu Boris Blank: da wird Autobiografisches mit Sound- und Bildexperiment zur persönlichen Erzählung verwoben.

40Jahre Yello – Oh Yeah!: Ed. Patrick Frey; Boris Blank: Electrified 2014; Boris Blank&Malia: Convergence 2014; Malia; Dieter Meier: Out of chaos; Label Suisse, Carlos Perón

Grand Prix Musik: Yello
Weitere Schweizer Musikpreise:
L’Orchestre Tout Puissant Marcel Duchamp
Fritz Hauser; Arthur Hnatek; Simone Keller; Daniel Ott; Ripperton; Marina Viotti
Spezialpreise Musik:
AMR Genève; Daniel “Duex” Fontana; Volksmusiksammlung Hanny Christen

Die Preisverleihung findet am 16. September in Lausanne im Rahmen des Festivals Label Suisse statt.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 27.7.22., 20h: Yello – Gesamt-Kunstprojekt erhält Grand Prix Musik 2022, Redaktion Gabrielle Weber / Wiederholung: Passage 28.8.22, 15h.
MusikMagazin, 14./15.5.22: Yello – Das Schweizer Elektropop-Duo bekommt den Grand Prix Musik, Redaktion Annelis Berger

Neo-Profile:

Yello, Boris Blank, Swiss Music Prize

Nomaden der Neuen Musik

Seit Herbst 2019 hat das Collegium Novum Zürich einen neuen künstlerischen Leiter: den Cellisten und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Neue künstlerische Perspektiven und eine Erweiterung der Hörerschaft hat sich Knapp für das Spezialistenensemble der Neuen Musik auf die Fahnen geschrieben. Seine erste Saison fiel Pandemiebedingt reduziert aus. Nun startet die erste von Knapp kuratierte Spielzeit. Thomas Meyer sprach ihn vor dem zweiten Konzert: dieses findet am 30. Oktober unter der Leitung von Emilio Pomàrico im frisch restaurierten grossen Saal der Tonhalle in Zürich statt.

 

Portrait Collegium Novum Zürich, Konzert Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Thomas Meyer
Die Neue Musik ist zwar nicht mehr so jung, aber sie versteht es doch immer wieder, sich zu verjüngen. Das wird deutlich, wenn zwei Werke aufeinandertreffen, die im Abstand von einem halben Jahrhundert entstanden sind, ein Klassiker und ein Newcomer wie im 3. Saisonkonzert des Collegium Novum Zürich (CNZ) unter Michael Wendeberg am 18. Dezember. Éclat-Multiples steht dort neben (Re)incarnation [Yerlik]: ein zentrales Werk von Pierre Boulez aus dem Jahr 1970 neben jenem eines 34 Jahre jungen Komponisten, dessen Namen die wenigsten bei uns kennen dürften. Der Kasache Sanzhar Baiterekov verarbeitet darin einen alten tengristischen Mythos aus seiner Heimat, in dem es um Unterwelt und Wiedergeburt geht.

Solche Begegnungen haben beim CNZ durchaus Tradition. Seit seiner Gründung 1993 verfolgt es diese doppelte Aufgabe. Einerseits führt es die wichtigen Werke der Neuen Musik auf, die gleichsam einen Standard setzen und für die Bildung der MusikerInnen, aber auch des Publikums von Bedeutung sind. Damit hat das CNZ sich seinen festen Platz im Zürcher Musikleben erarbeitet. Einige MusikerInnen sind seit der Gründung mit von der Partie.

Andererseits sucht das Ensemble das junge, unbekannte: die Herausforderung und Öffnung. Eine „Musik, in der sich das Morgen ankündigt“ möchte auch der Cellist und Musikwissenschaftler Johannes Knapp. Vor zwei Jahren übernahm er die künstlerische Leitung und Geschäftsführung. Seine erste Saison fiel coronahalber reduziert aus.

 

Portrait Johannes Knapp ©Alessandra Carosi

 

Nur vier Konzerte konnten vor kleinem Publikum stattfinden. Deshalb wurden einige Auftritte für Idagio gestreamt. Zudem nahm das Ensemble drei CD-Projekte in Angriff, die heuer fertiggestellt werden sollen, etwa je eine CD mit Musik von Boulez und des Westschweizers William Blank sowie eine Reihe von Schüler-Lehrer-Doppelporträts wie Heinz Holliger/Sándor Veress oder Klaus Huber/Willy Burkhard. Hubers „Erinnere dich an Golgatha“ stand deshalb am Anfang der neuen Saison.

 


Klaus Huber, Psalm of Christ, Collegium Novum Zürich, Bariton: Robert Koller, Dirigent Heinz Holliger, Tonhalle Zürich, Eigenproduktion SRG/SSR 2015

 

Mythen und Legenden

Diesmal liegt ein Fokus auf Mythen und Legenden in aktueller Musik. Das eher als anregende Ausgangsidee denn als durchgängiges Motto. Mythen, so meint Knapp, hätten eine tiefe Verbindung zur Musik, weil sie ebenfalls jenseits von Logik und Worten funktionieren und sich nicht eindeutig fixieren lassen. Es seien Versuche, mit dem Ungewissen, ja dem Schrecken umzugehen.

Und so tauchen in diesen Programmen berühmte Mythen auf: Orpheus in Orpheus falling von Sarah Nemtsov, der Schöpfungsmythos (6. Tag) in Eufaunique von Stefano Gervasoni, der ägyptische Sonnengott Ra in Sortie vers la lumière du jour von Gérard Grisey. Die in Bern lehrende Cathy van Eck wird für den Daphne-Mythos in ihrer neuen Performance die Tonhalle in einen „Wald verwandeln, durch den der Wind weht.“

 


Gérard Grisey: Sortie vers la lumière du jour (1978), Ensemble Phoenix Basel, Leitung Jürg Henneberger, Eigenproduktion SRG/SSR, Gare du Nord Basel 2016

 

 

Schliesslich erscheinen Tierlegenden von Igor Strawinsky (Renard), Ruth Crawford Seeger oder Frank Zappa, die am Ende der Spielzeit erklingen. Der Rockmusiker war in seinen Anfängen stark von Edgard Varèse und Strawinsky beeinflusst.

 

Begegnung mit Barockinstrumenten

 

Andererseits werden in solchen Programmen auch die absolutistischen Dogmen Neuer Musik hinterfragt. Warum muss neue Musik immer „neu“ klingen“? Kann sie nicht historische Grenzen überwinden? So kommt es zur Begegnung mit Barockinstrumenten, konkret mit La Scintilla, der Alte Musik-Formation der Zürcher Oper. Der Franzose Philippe Schoeller schreibt dafür ein neues Werk. Kátoptron und erzählt den antiken Mythos von Echo und Narziss neu.

Sie sind also unterwegs. „Crazy nomads of Zurich“ formulierte ein Spassvogel einmal das Kürzel CNZ aus, weil das Ensemble keine feste Spielstätte hat. Stattdessen sucht es immer wieder neue Spielorte auf, heuer die Krypta des Grossmünsters. Und so notiert Knapp denn auch in seinem Saisoneditorial: „Reisen als ein Erwandern von Klanglandschaften mit dem Ohr. Kunst heisst, nie anzukommen.“
Thomas Meyer

 

Pierre Boulez, Sanzhar Baiterekov, Sarah Nemtsov, Stefano Gervasoni, Gérard Grisey, Frank Zappa, Igor Strawinsky, Ruth Crawford Seeger, Edgar Varèse, La Scintilla, Philippe Schoeller, Emilio PomàricoChristoph Delz, Dahae BooKelley SheehanMichael Wendeberg

 

Portrait Collegium Novum Zürich @Tonhalle Maag Zürich, zVg Collegium Novum Zürich ©François Volpe

 

Kommende Konzerte CNZ:
Grosse Tonhalle Zürich, 30.10.21: And falls into the Netherworld, Dirigent: Emilio Pomàrico, Werke von Sarah Nemtsov, Aureliano Cattaneo, Rebecca Saunders, Stefano Gervasoni
Grosse Tonhalle Zürich, 4.12.21: Konzert 3, Dirigent: Johannes Schöllhorn, Stefan Wirth Klavier; Werke von Kelley Sheehan, Tobias Krebs, Dahae Boo, Christoph Delz

Sendungen SRF 2 Kultur:
Neue Musik im Konzert, 1.12.21: Konzert CNZ, Tonhalle Zürich, 30.10.21

neo-profiles:
Collegium Novum Zürich, William Blank, Heinz Holliger, Sandor Veress, Klaus Huber, Willy Burkhard, Cathy van Eck, Gare du Nord, Ensemble Phoenix Basel, Rebecca Saunders, Tobias Krebs

Exzellenzorchester für neue Musik

Benjamin Herzog
Lucerne Festival Contemporary Orchestra heisst ein neu geschaffener Klangkörper des am 13. August angelaufenen Lucerne Festival. Das neue Orchester ist stark eingebunden in die ebenfalls neu geschaffene Sparte „Contemporary“, mit der das Lucerne Festival über eine einzigartige Struktur für die Ausübung neuer Musik verfügt.

Felix Heri, Leiter der Sparte “Contemporary“ erklärt, was so einzigartig ist daran.
Sie sind zwischen 30 und 35 Jahren alt, sind aktuelle und ehemalige TeilnehmerInnen der Lucerne Festival Academy und sie spielen neu seit diesem Jahr in einem Orchester, das, so Felix Heri, ein „Exzellenzorchester für neue Musik“ werden soll. Es hat also einen ähnlichen Anspruch wie das vor bald zwanzig Jahren gegründeten Lucerne Festival Orchestra (LFO). Jenem Klangkörper, dem unter der Leitung seines ersten Dirigenten Claudio Abbado geradezu magische Qualitäten nachgesagt wurden.

 

Portrait Felix Heri ©Gregor Brändli / zVg Lucerne Festival

 

 

Der 35-jährige Solothurner Felix Heri ist der Kopf der neuen Sparte „Contemporary“ des Lucerne Festival. Er hat in Luzern Klarinette und in Basel Kulturmanagement studiert, und war anschliessend sechs Jahre lang Geschäftsführer beim Orchester basel sinfonietta. Seit letztem Jahr nun ist Heri Leiter von Lucerne Festival Contemporary.

Lucerne Festival Contemporary: das ist ein Dach, unter dem sich eine dreiteilige, organisch gewachsene und laufend weiterentwickelnde Struktur befindet. Akademie, Orchester und ein (statt dem gestrichenen Piano-Festival) im November stattfindendes, neues Festival, genannt Lucerne Festival Forward. „Wir haben ein einzigartiges Netzwerk von 1300 Leuten auf der ganzen Welt“, erklärt Heri: „Musikerinnen und Musiker, die irgendeinmal die Festival Academy besucht haben, und im damaligen Orchester der Academy oder im Alumni-Orchester mitgespielt haben, in- und ausserhalb des Festivals.“ Es seien die „Besten und Interessiertesten“, die nun im Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) mitspielen.

 

Gründer Boulez

Seine Kenntnisse vertiefen, wie neue Musik im Orchester gespielt werde. Das ist Ziel der 2003 noch vom 2016 verstorbenen Pierre Boulez gegründeten Festival Academy. Einer Art Meisterklasse für neue Musik, seit fünf Jahren von Wolfgang Rihm geleitet. Die Resultate dieser Arbeit konnten FestivalbesucherInnen bislang in den Konzerten des zur Akademie gehörenden Orchesters hören. “Einem Orchester, dem -wenn auch nur ganz leicht- doch der Duft eines Studentenorchesters anhaftete”, wie Heri heute sagt.

 

Magische Anziehung

2013 bildeten die ehemaligen AkademistInnen sodann ein “Alumni-Orchester”, also die nächste, schon professionellere Stufe. Offenbar funktioniert der Luzerner Magnet. Wer hier unter Grössen wie Pierre Boulez oder Wolfgang Rihm gelernt hat, will wiederkommen. Dieses Alumni-Orchester spielte auch ausserhalb des Festivals. Und ausserhalb Luzerns. Uraufführungen in New York, London, Peking, Zürich und auch Luzern zeugen von Netzwerkcharakter und Ausstrahlung.

 


Wolfgang Rihm, Dis-Kontur für grosses Orchester (1974/84): Lucerne Festival Alumni, Leitung Ricardo Chailly, 8.9.2019 KKL Lucerne Festival, Eigenproduktion SRG SSR

 

Logische Weiterentwicklung

Das nun neu gegründete LFCO ist die logische Weiterentwicklung dieser Struktur. Es ist die Zusammenführung der beiden ehemaligen Orchester, die personell ohnehin nie ganz getrennt waren. „Alle Mitglieder des LFCO haben mindestens einmal die Festival Academy besucht“, sagt Heri. „Hier spielen die Besten und Talentiertesten dieser Jahrgänge mit.“  Darüber hinaus gibt es pro Stimmgruppe je einen „Leader“, fünfzehn an der Zahl. Diese StimmführerInnen wählen ihrerseits die weiteren Mitglieder ihrer Gruppe, ihres Registers aus, die dann für maximal zwei Jahre im Orchester mitspielen können. Durch diese Mitbestimmung ist ein organisches Zusammenwachsen möglich.

 

Alumni der Lucerne Festival Academy im “Gedenkkonzert für Pierre Boulez”, Leitung
Matthias Pintscher (Luzern, 20.03.2016) © Priska Ketterer / zVg Lucerne Festival

 

Exzellenz trifft aus Exzellenz

StimmführerInnen sind zurzeit bspw. die vier Mitglieder des Arditti Quartetts, sowie für die Trompeten der Niederländer Marco Blaauw oder der Pianist Nicolas Hodges für die Tasteninstrumente. Dass das LFCO seine Mitglieder nicht danach beurteilt, auf welcher Sprosse der Karriereleiter sie stehen, sondern nach deren persönlicher Hingabe, zeigt sich darin, dass es keine Altersgrenze gibt und weder Akademisten noch bereits arrivierte MusikerInnen ausgeschlossen sind. So spielen im LFCO und unter der sommerlichen Luzerner Festivalsonne auch MusikerInnen des Klangforum Wien, des Ensemble Intercontemporain oder des Frankfurter Ensemble Moderne mit. 

Darin gleicht der neue Luzerner Moderne-Klangkörper sehr seinem älteren Bruder, dem Lucerne Festival Orchestra. Hier wie dort spielen Profis aus den führenden Orchestern ihres Genres mit. Für das Festival sollen künftig beide Orchester gleich starke Aussenwirkung haben.

 

Mit oder ohne Chef? – Mitsprache des Orchesters

Das neue Orchester hat aber, anders als das LFO mit zurzeit Riccardo Chailly, keinen Chefdirigenten, keine Chefdirigentin. „Wir diskutieren, ob es das braucht“, sagt Felix Heri. Eine solche Position habe Vor- und Nachteile. „Die Vorteile sind klar: mehr Ausstrahlung, Renommee, eine andere Art von Netzwerk. Aber es ist auch gut, die DirigentInnen zu den Projekten jeweils ganz gezielt auszuwählen.“ Und auch bei dieser Wahl setzt das LFCO auf Mitbestimmung aller Mitglieder. Mitsprache wird auch bei der Programmwahl grossgeschrieben. So verantwortet das Sommerprogramm zwar nach wie vor der künstlerische Leiter des Orchesters, Wolfgang Rihm. Das Programm des neuen Herbstfestivals „Forward“ wird aber von den Führungsfiguren des Orchesters selbst beeinflusst. Sie fungieren kollektiv als Co-KuratorInnen.

 

Barblina Meierhans, Auf Distanz, für Bassflöte und kleines Ensemble (UA 2020), Lucerne Festival Alumni, Leitung Baldur Brönnimann, Lucerne Festival KKL 23.8.2020, Eigenproduktion SRG SSR

 

Ein Showcase der neuen Musik

Dieses Jahr wird das LFCO bereits an den renommierten Donaueschinger Musiktagen oder an den Berliner Festspielen auftreten und für 2022 ist eine internationale Orchestertournee geplant. Gerade das Herbstfestival in Luzern aber soll, so Heri, zu einem „Showcase der neuen Musik“ werden und dabei aktuelle Strömungen aus Europa, den USA und Asien aufzeigen. Ermöglicht wird das durch die globale Vernetzung der Mitglieder des Orchesters, deren Leader und deren eigener Netzwerke.

 

Kollektives Mastermind

Von seiner früheren Arbeit bei der “basel sinfonietta” kennt Heri basisdemokratische Strukturen im Orchester. So weit geht das LFCO aber nicht. Aber: „Die Mitbestimmung bringt eine starke Identifikation mit sich “ betont Heri. Diese brauche es in einem auf neue Musik spezialisierten Orchester viel mehr als in einem klassischen Sinfonieorchester. „Wir nehmen die Leute ernst mit ihren Ideen.“ Das sei eine einzigartige Ausgangslage. „Wir sind ein kollektives Mastermind.“

Und er wiederholt: „Für mich soll das Orchester Massstäbe setzen. Wir wollen mutig sein und auch neue Konzertformate ausführen. Dabei ist die Einbindung in das Lucerne Festival natürlich ein Vorteil. Gleichzeitig aber wollen wir uns die nötigen Freiheiten nehmen, um davon losgelöst ein Pendant zum Festival Orchester zu werden. Das ist unser Ziel, daran messen wir uns.“
Benjamin Herzog

 

Probe Lucerne Festival Academy, Leitung Heinz Holliger © Stefan Deuber / zVg Lucerne Festival

 

Das LFCO bestreitet auch die diesjährige Opernproduktion des Luzerner Theaters in Koproduktion mit dem Lucerne Festival, Mauricio Kagels „Staatstheater“, 5.9. (Premiere)-19.9.21

Konzerte LFCO am Lucerne Festival 2021

Das Herbstfestival Lucerne Festival Forward findet vom 19. bis 21. November 2021 statt.

 

Klangforum Wien, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, Donaueschinger Musiktage, Riccardo Chailly, Felix Heri, Pierre Boulez, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Claudio Abbado, Arditti Quartet, Marco Blaauw, Nicolas Hodges

Sendungen SRF 2 Kultur:
neoblog, 1.8.21: Engagement für neue und neuste Musik – Rebecca Saunders composer in residence @ Lucerne Festival 1, Text Gabrielle Weber

Kontext – Künste im Gespräch 26.8.2021: Rebecca Saunders: composer-in-residence Lucerne Festival, Redaktion Annelis Berger

Kultur kompakt Podcast, 30.8.2021 (ab 4:59min): Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Redaktion Florian Hauser

Musik unserer Zeit, 22.9.2021, 20h: Rebecca Saunders, Redaktion Annelis Berger

Neue Musik im Konzert, 22.9.2021, 21h: Portraitkonzert Rebecca Saunders 2, u.a. the mouth & skin

neo-profiles:
Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Wolfgang Rihm, Lucerne Festival Academy, Lucerne Festival ContemporaryBasel Sinfonietta