Improvisierte Musik in Genf – Die Welt der AMR

Die AMR (l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée) aus Genf ist die älteste Schweizer Institution für improvisierte Musik. 1973 gegründet, hat sie sich von Anfang an nicht nur für improvisierte Konzerte, sondern auch für Probemöglichkeiten und Unterricht in improvisierter Musik eingesetzt. Ihr beinahe 50-jähriges Engagement wird nun mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt.

Das “Sud des Alpes” der AMR

Jaronas Scheurer
Gerade in Nischen-Genres wie z.B. der improvisierten Musik geschieht die meiste Arbeit ehrenamtlich. Die Gagen für die Musiker:innen sind tief, die Arbeit hinter den Kulissen basiert auf Good Will, das wenige Stiftungsgeld für die Veranstalter:innen ist knapp. Die Corona-Pandemie, während der über Monate keine Konzerte durchgeführt werden konnten und noch länger keine Planungssicherheit existierte, hat diesen Missstand noch verschärft. Nicht so in Genf – die AMR, l’Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée, zahlte sowohl den Musiker:innen, die gebucht waren, aber nicht spielten konnten, als auch den Techniker:innen und den Barleuten, die nicht arbeiten konnten, trotzdem Lohn. Das ist nicht nur äusserst löblich, sondern auch ziemlich ungewöhnlich. «Das Geld hatten wir und wir hatten sie ja gebucht; und die Musiker:innen waren schlechter dran als wir Organisator:innen.», erklärt Brooks Giger, Sekretär der Programmkommission der AMR und selber Kontrabassist.

 


John Menoud: Which way does the blood red river flow? Nouvel Ensemble Contemporain und der Trompeter Mazen Kerbaj, 2017. John Menoud ist Mitglied der Programmkommission der AMR.

 

Fixstern der kulturellen Landschaft Genf

Die AMR gibt es nun schon seit 1973, seit beinahe fünfzig Jahren. In den 70er-Jahren brodelte die Free Jazz-Szene in Europa. Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald & Co. in Deutschland, Irène Schweizer und Pierre Favre in der Schweiz. In England gab es John Stevens und sein «Spontaneous Music Ensemble» oder das Improvisationsensemble AMM. Und in den USA ging sowieso die Post ab: Charles Mingus, Alice und John Coltrane, Ornette Coleman, Sam Rivers usw. In Genf fanden sich damals ein paar Musiker:innen zusammen, die sich dieser Musik hingaben. So entstand die Idee der AMR. Schon bei der Gründung der AMR 1973 war den Mitgliedern klar, dass es nicht nur darum geht, der improvisierten Musik eine Bühne zu bereiten und Konzerte zu veranstalten. «Da war diese grosse Lust der Gründungsmitglieder der AMR, etwas zu haben, wo sie sich wiederfinden. Wo sie zusammen arbeiten und kreieren können. Wo sie diese Musik in Konzerten hören und im Unterricht weitergeben können.» – so Brooks Giger. Die AMR wollte von Anfang an nicht nur Konzertveranstalterin, sondern auch Musikschule und Vermieterin von Proberäumen sein. Mit diesem Konzept stiess sie bei der Stadt Genf auf offene Ohren und schon bald erhielt sie ein finanzielles Fundament zur Verwirklichung ihrer Idee. «Wir hatten auch einfach sehr, sehr viel Glück, dass wir in den 70er die Unterstützung von der Stadt erhielten und sie bis heute erhalten», bemerkt Brooks Giger zur Sondersituation Genf. 1981 konnte die AMR dann ein Gebäude an der Rue des Alpes mieten, das «Sud des Alpes»; bis heute Zentrum und Sitz der AMR. Bis 2006 wurde das «Sud des Alpes» schrittweise umgebaut. Und heute befinden sich dort nicht nur die Büros der AMR, sondern auch 13 Proberäume (inklusive zwei grosse für grössere Ensembles) und zwei Konzertsäle, einer im Keller für 50 Personen und einer im EG für 120 Personen. Inzwischen gehört die AMR fest zur kulturellen Landschaft der Stadt Genf. Brooks Giger beschreibt das so: «Wenn jemand in den Hotels der Stadt fragt, wo man Jazz hören kann – AMR. Wenn jemand Musiker:innen für einen Gig sucht – AMR.» Sie seien inzwischen eine feste Grösse für Jazz und improvisierte Musik in Genf, dadurch bekämen sie immer noch Geld von der Stadt – «on croise les doigts» meint Brooks Giger dazu.

Aus der Gründungszeit der AMR 1973

 

Konzertprogramm zwischen lokaler Szene und internationalen Grössen

Die finanzielle Unterstützung der Stadt Genf ist auch an Bedingungen geknüpft, so müssen mindestens 60 Prozent der auftretenden Musiker:innen in der Region zuhause sein. Das Programmieren der 250 bis 300 jährlichen Konzerte und der zwei Festivals ist also immer auch ein Balanceakt zwischen lokalen Künstler:innen, nationalen Grössen und internationalen Gäste. Auch die am AMR durchgeführten Workshops zeigen das Gelernte in regelmässigen Konzerte. So kann es gut sein, dass in derselben Woche der New Yorker Starsaxofonist Chris Potter mit seinem Quartett, eine südafrikanisch-schweizerische Combo, eine lokale Jazzband und der Funk-Workshops der AMR auftritt. Nicht nur durch das Konzertprogramm weht ein fairer Wind: So sind die Angestellten der AMR allesamt selbst Musiker:innen. Dank der Teilzeit-Anstellung zwischen 30-60% in der AMR ist ihnen eine feste Existenzgrundlage gewiss. Auch auftretende Musiker:innen, die in der Schweiz wohnhaft sind, können sich von der AMR anstellen lassen, was gewisse Sozialleistungen sicher stellt. Die Eintrittspreise sind moderat, so dass sich auch nicht so vermögende Menschen das AMR-Konzert leisten können. Und vor einigen Jahren hat sich eine Gruppe gegründet, die sich für ein geschlechtlich ausgeglichenes Konzertprogramm einsetzt.

 

Die Genfer Band Noe Tavelli & The Argonauts am AMR Jazz Festival 2022

 

Ein Genfer Bijou für improvisierte Musik

Die AMR steht im Jahr 2022 auf festen Beinen: Sie hat einen Ort mit den benötigten Räumlichkeiten für Unterricht, Konzerte und Proben, die finanzielle Unterstützung scheint längerfristig gesichert, die AMR ist gut durch die Coronapandemie gekommen und präsentiert nun wieder ein buntes, interessantes Konzertprogramm. Vor allem aber hat die AMR eine lebendige und engagierte Musikszene im Rücken. Das Engagement der AMR für improvisierte Musik wurde nun auch durch das Bundesamt für Kultur mit dem Spezialpreis Musik 2022 gewürdigt: «Der Verein ist ein Mikrokosmos der Kultur, der Gleichstellung, der Auseinandersetzung und des Wachstums.» schreibt das BAK als Begründung.

 

Nasheet Waits Equality Quartet am AMR Jazz Festival 2013, ©Juan Carlos Hernandez

Brooks Giger sieht Wachstum jedoch nicht als oberste Priorität. «Wir machen schon so viel mit den Konzerten, den Festivals, den Workshops und den Proberäumen. Man braucht nicht unbedingt mehr zu machen. Was wir haben, ist schon ein Bijou, ein Diamant. Den müssen wir auch einfach weiterhin polieren und pflegen.»

Nächstes Jahr wird die AMR 50 Jahre alt. Da wird es natürlich auch noch einige Besonderheiten geben, so sind eine Fotoausstellung in den Bains de Pâquis in Genf und eine Publikation mit Fotos und Essays geplant. Des Weiteren ist ein Dokumentarfilm über die AMR gerade in der Mache. Und natürlich gibt’s im «Sud des Alpes» auch weiterhin einfach viel gute, improvisierte Musik aus Genf, der Schweiz und aller Welt zu hören.
Jaronas Scheurer

 

Die Website der AMR und ihr Konzertprogramm.
Die Laudatio der Jury des Schweizer Musikpreis 2022 für die AMR.
Der YouTube-Kanal der AMR.

Neo-Profile:
John Menoud, d’incise, Alexander Babel, Daniel Zea

Reibung erzeugt Wärme – Marianthi Papalexandri-Alexandri am Festival “ZeitRäume Basel”, 13.-22. September 2019

Marianthi Papalexandri-Alexandri

Theresa Beyer
Im Hof des Basler Kunstmuseums zeigt das Festival «ZeitRäume» eine begeh- und bespielbare Klangskulptur. Mit ihrem geheimnisvollen Röhren-Instrument «Untitled VII» leistet die Komponistin und Klangkünstlerin Marianthi Papalexandri-Alexandri ihren Beitrag zur grossen Gemeinschaftsarbeit. Ein Besuch in ihrem Atelier in Wald im Zürcher Oberland.

Früher wurden in diesen grossen, hellen Fabrikräumen Textilien gewebt. Heute wohnen und arbeiten hier Marianthi Papalexandri-Alexandri und der kinetische Künstler Pe Lang. Ihr Loft ist ein Laboratorium voller Maschinen, Elektronik und mechanischen Objekten.

Hinten auf einer Werkbank legt Pe Lang einen Kippschalter um: auf einer schwarzen Pappe beginnt sich eine Scheibe zu drehen, Marianthi holt verschieden grosse Stricknadeln hervor und steckt sie in die Pappe. Mit dieser Geste wird das Objekt zum Instrument: Immer wenn die kleinen Schläuche, die von der Scheibe abstehen, die Nadeln streifen, erklingen feine Glockentöne. Zum Werk «Resonators» wächst das Ganze an, wenn mehrere Performer*innen an mehreren Maschinen nach einem bestimmten Muster Nadeln in die Pappe stecken. Die Konzeption solcher Klang-Settings ist der Kern von Marianthis und Pe Langs Arbeit.


Marianthi Papalexandri-Alexandri und Pe Lang: Modular No.3

Langwierige Materialforschung

Hinter jedem Detail dieser Klangobjekte stecken unzählige Materialtests – auch bei «Untitled VII», das am Zeiträume Festival von der grossen Klangskulptur «Rohrwerk/Fabrique Sonore» einverleibt wird. Im Atelier zeigt Pe Lang den Prototyp: «Die 24 Röhren des Klangkörpers sind aus durchsichtigem Acryl, ein Material, das einen warmen Klang ermöglicht. Jede Röhre ist mit einer TPE Folie überzogen, durch die wir eine Nylonschnur gespannt haben. Und die Rädchen aus Baumwollhartgewebe vorne an den kleinen Elektromotoren sind mit einer Art Kolophonium bestrichen. Durch die erhöhte Reibung wird der Ton erzeugt».

Visualisierung Rohrwerk Fabrique sonore© Made in

Pe Lang knipst die kleinen Motoren des Röhren-Instruments an und ein durchgehender Ton entsteht: komplex, organisch und schön – eine eigenständige Klangskulptur mit Potenzial zu einer Komposition. Um diese zu entfalten, schlüpft Pe Lang in die Rolle des Performers: langsam verändert er die Geschwindigkeiten der Motoren, die Spannung der Nylonschnur und die Position der Klammern, die daran befestigt sind. Der Klang reagiert sofort – mal erinnert er an einen modularen Synthesizer, mal an eine obertonreiche Orgel, mal an die mäandernden Drones von Eliane Radigue oder La Monte Young.

Die Behutsamkeit, mit der dieses Instrument gespielt werden muss, vergleicht Marianthi mit einer japanischen Teezeremonie: «Obwohl hinter jeder Geste grösste Berechnung steckt, wirkt es nach aussen mühelos und leicht. Alle Bewegung folgen einem natürlichen Flow.»

Marianthi Papalexandri-Alexandri: Untitled II (Vorläufer von Untitled VII)

Der Charme des Unperfekten

Im Klangflow von „Untitled II“ mischt noch etwas mit: das Material an sich. „Die Spannung der Membran lässt mit der Zeit nach, das Kolophonium reibt sich ab und die Motoren eiern leicht“, sagt Pe Lang, «Diese Ungenauigkeiten haben wir bewusst eingebaut.» Das Röhren-Instrument, das vorgibt clean, minimalistisch und kontrollierbar zu sein, ist eben gerade keine perfekte Maschine.

Auch deswegen bewegen sich die Klangskulpturen und Kompositionen von Marianthi und Pe Lang immer in einem Zwischenraum. Zwischen genau und ungenau. Zwischen Objekt und Performance. Zwischen mechanisch und elektronisch. Und wenn sie das Atelier in Wald verlassen, landen sie irgendwo zwischen Galerie und Konzertsaal.

Aber wer komponiert hier eigentlich: Die Komponistin, der Performer, oder das Instrument selbst? Genau diese Kategorien versucht Marianthi mit ihren Klangskulpturen aufzulösen. «Ich will Komponist*in, Performer*in und Instrument auf Augenhöhe bringen und so auch Autorschaft hinterfragen». Wer da also genau am Werk ist, hängt immer von der Perspektive ab.
Theresa Beyer

Marianthi Paplexandri-Alexandri: Untitled VI

Die diesjährige Festivalausgabe von «Zeiträume – Biennale für neue Musik und Architektur» in Basel ist mit 30 Projekten die bisher grösste. Vom 15. bis 21. September ist im Innenhof des Kunstmuseum der 45 Meter hohe Klangturm «Rohrwerk/Fabrique sonore» zu erleben. Marianthi Papalexandri-Alexandri ist eine von sechs Komponist*innen und vier Musiker*innen, die diese Mischung aus Pavillon und Musikinstrument zum Klingen bringt.

Am 20. September findet am Festival Zeiträume zudem die Übergabe des diesjährigen Schweizer Musikpreises an u.a. Cod.act, Michael Jarrell, Pierre Favre, Laurent Peter (d’incise) oder das Kammerorchester Basel statt.

Zeiträume – Biennale für neue Musik und Architektur, Marianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang

neo-profiles: ZeitRäume BaselMarianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang, Kammerorchester Basel, Michael Jarrell, Pierre Favre, d’incise / tresque

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Marianthi Papalexandri-Alexandri, Pe Lang: 11.September, 20h, Wiederholung 14.September, 20h;
Passage: Cod.act -Maschinenmusik aus La Chaux-de-Fonds: 20. September, 20h; Kontext, 20. September