Robert Walsers Komponist:innen

In seiner neuen Monografie zeichnet der Musikwissenschaftler Roman Brotbeck die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nach und entwirft im selben Zug ein faszinierendes Panorama der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts abseits der dominanten Strömungen.
Am 27. Januar findet im Gare du Nord in Basel die Buchvernissage statt, zusammen mit der Aufführung von Georges Aperghis’ Werk Zeugen, basierend auf Texten Walsers.

 

Silvan Moosmüller
„Robert Walser – sein eigener Komponist“, so lautet der Titel zur Einleitung von Roman Brotbecks Töne und Schälle: Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021.

 

Robert Walser Berlin 1909 © Keystone SDA / Robert Walser-Stiftung Bern

 

Walser als literarischer Komponist

Und tatsächlich, viele Prosastücke und erst recht die Gedichte des notorischen „Plauderers“ Walser gleichen mit ihrer elaborierten Lautstruktur einer musikalischen Komposition: Jede Silbe, jeder Buchstabe trägt zur Poesie des Ganzen bei. „Walser zu vertonen, ist eine schwierige, vielleicht sogar unlösbare Aufgabe, weil viele Walser-Texte schon Musik sind und deshalb einer Musik eigentlich gar nicht mehr bedürfen“, bilanziert Roman Brotbeck die heikle Ausgangslage.

 

200 Werke von über 100 Komponistinnen und Komponisten

Dennoch – oder vielmehr gerade wegen der Musikalität seines Schreibens – hat Walser eine Vielzahl von Komponistinnen und Komponisten zu Vertonungen angeregt. Neben Hölderlin zählt Walser zu den meistvertonten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Diesen klingenden Walser-Kosmos entfaltet Roman Brotbeck auf fast 500 Seiten. Mit seinem Buch bietet er die erste umfassende und systematisch erarbeitete Untersuchung zur musikalischen Rezeption von Walsers literarischen Werken.

Und als Kurator des letztjährigen Festivals Rümlingen hat Brotbeck der Geschichte der Walser-Vertonungen gleich selber ein neues Kapitel hinzugefügt. 15 Uraufführungen mit Werken zu Robert Walser wurden im September aus der Taufe gehoben; darunter z. B. die revidierte Neufassung des théâtre musical Zeugen von Georges Aperghis, das zusammen mit der Buchvernissage im GdN in Basel erneut zur Aufführung kommt. Oder die performative Ausstellung Patient Nr. 3561 der Komponistin und Performerin HannaH Walter und ihrem Kollektiv Mycelium.

 

Von Anfang an..

Aber beginnen wir doch am besten chronologisch ganz vorne: mit James Simon. Dieser Berliner Musikwissenschaftler und Komponist ist gemäss Brotbecks Recherchen der Erste, der sich an Robert Walser heranwagte. Genauer sind es die beiden Gedichte Gebet und Gelassenheit, die Simon 1912 respektive 1914 als Lieder in romantisch anmutender Weise komponierte.

Dabei ist James Simon als Figur in zweierlei Hinsicht wegweisend für die weitere Geschichte der Robert Walser-Vertonungen: Erstens ist er keiner der Grossen, Bekannten – als Komponist ist James Simon heute sogar ganz in Vergessenheit geraten. Und zweitens steht er mit seiner “verspätet”-romantischen Kompositionstechnik quer zu den dominanten Strömungen der Zeit.

 

Musikgeschichtsschreibung diesseits des Höhenkamms

Diese beiden Eigenschaften bilden die DNA für alles Kommende. Denn generell verläuft die inzwischen 110-jährige Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nicht auf dem Höhenkamm der etablierten Musikgeschichtsschreibung. Vielmehr liest sie sich – in Roman Brotbecks eigenen Worten – als „Geschichte, oder besser: als Geschichten der Ausbruchsversuche aus dem Avantgarde-Diskurs“.

Dazu passt, dass die musikalische Rezeption Walsers überaus gemächlich startete. In den fünfzig Jahren nach James Simons ersten musikalischen Umsetzungen gibt es nur zwei weitere Belege; in den nächsten 25 Jahren bis 1987 lassen sich gemäss Brotbecks Recherchen immerhin 13 Komponist:innen mit 20 Werken nachweisen. Darunter finden sich weitere Liedvertonungen, aber auch das zwölftönige Dramma-Oratorio Flucht von Wladimir Vogel, das die rhythmisch polyphonen Möglichkeiten des Sprechchors ausreizt.

 


Wladimir Vogel, Flucht, Dramma-Oratorio (1964), Tonhalle-Orchester Zürich 1966, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Die Ruhe…

Von diesen „frühen“ Walser-Vertonern, denen der erste Teil der Monografie gilt, hat sich der Schweizer Urs Peter Schneider besonders beharrlich und vielseitig auf Walsers Œuvre eingelassen. Über fast sechzig Jahre hinweg hat Schneider ein ganzes Walser-Laboratorium geschaffen – von der „extremen Stereophonie“ seines radiophonischen Porträts Spazieren mit Robert Walser bis hin zu den Polyphonisierungen des Textmaterials im Chorbuch.

 


Urs Peter Schneider, Chorbuch, 12 Lieder auf 12 Texte von Robert Walser für 8 Singstimmen, UA 2013 Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Der Grossteil der Walser-Vertonungen entstand laut Brotbeck hingegen erst in den letzten 34 Jahren, dafür mit exponentiell steigender Geschwindigkeit. Angestossen durch Heinz Holligers Beiseit-Zyklus und die grosse Schneewittchen-Oper setzt in den 90er-Jahren ein regelrechter Walser-Boom ein.

 

…vor dem Sturm

Nicht zufällig fällt dieser Boom mit dem Trend zu neuen Musik- und Theaterformen im Zeichen des postdramatischen Theaters zusammen. So büsst das Klavierlied seine Stellung als bislang dominierende Gattung ein und es schlägt die Stunde des Dramatikers Walser. Aber auch gesellschaftspolitische Veränderungen begünstigten gemäss Brotbeck in den 1990er-Jahren die Walser-Rezeption: „Die Künste sind in jener Zeit durch eine ambivalente Mischung aus Freiheitsdrang und Orientierungslosigkeit, aus Dekonstruktion der grossen Erzählungen in der Nachfolge der Postmoderne und Faszination für neue Medien und Technologien geprägt.“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Um die Materialfülle im zweiten Teil seines Buches übersichtlich darzustellen, teilt Brotbeck das weite Feld der Walser-Vertonungen vor allem nach Gattungen auf, namentlich verschiedenen Musiktheaterformen, Lieder- und Liederzyklen und Melodramen. Die eröffnete Bandbreite ist enorm. Sie reicht von improvisatorischen Formen mit Akteur:innen der neuen Schweizer Volksmusik (z. B. Oberwalliser Spillit) über szenische Musik wie Michel Roths Räuber-Fragmente bis zu Neukontextualisierungen wie bspw. im Stück Der Teich der japanisch-schweizerischen Komponistin Ezko Kikoutchi, wo sie ein französisch-schweizerdeutsches Libretto in ein japanisches Umfeld stellt.

 


Ezko Kikoutchi, Der Teich nach einem Text von Robert Walser, Laure-Anne Payot, Mezzosopran und Lemanic Modern Ensemble, 2012

 

 

Die Abweichung als Norm

Die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen gleicht, so gesehen, einer von Walsers verwinkelten und ständig abschweifenden Erzählungen. Oder wie Roman Brotbeck es formuliert: “Das Gemeinsame der Walser-Vertonungen ist quasi das Nicht-Gemeinsame”. Dass Brotbeck gerade diese “Zergliederung individualistischer Walser-Zugänge” aufzeigt und der Versuchung nach einer grossen Erzählung widersteht, ist ein grosser Vorzug seines Buches. Da die besprochenen Werke immer auch sozialgeschichtlich und kulturpolitisch kontextualisiert werden, zeigen die Kapitel dennoch ein detailliertes Bild der (Schweizer) Kulturlandschaft mitsamt ihren Strömungen und Institutionen im 20. und 21. Jahrhundert.

Auf 500 Seiten entsteht so das faszinierende Panorama einer “anderen Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts” . Und das Beste ist, dass diese Geschichte noch lange weitergeht.
Silvan Moosmüller

 

Do 27.1.22, 21h GdN Basel: Buchvernissage Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021 / 20h Konzert: Georges Aperghis, Zeugen

Sa 29.1.22, 20h / So, 30.1.22, 17h GdN Basel: Roland Moser, Die Europäerin auf Mikrogramme von Robert Walser

Roman Brotbeck, Silvan Moosmüller, Georges Aperghis, James Simon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 8.9.2021: Klingender Autor – Walser-Vertonungen am Festival Rümlingen, Redaktion Silvan Moosmüller
neoblog, 13.7.2021: Alles was unser Menschengeschlecht ausmacht – Roland Moser erhält einen BAK-Musikpreis 2021, u.a. zur UA von ‘Die Europäerin’ nach Robert Walser, Autor Burkhard Kinzler

neo-Profile:
Robert Walser, Urs Peter Schneider, Heinz Holliger, Michel Roth, Ezko Kikoutchi, Kollektiv Mycelium, Neue Musik Rümlingen, Gare du Nord, Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Roland Moser, Lemanic Modern Ensemble

Chan e See dänke?

Eine musikalische Hommage an Biel
Zur Uraufführung von Jean-Luc Darbellays Melodram Belena am 19. Februar 2020 im Kongresshaus Biel

Sinfonie Orchester Biel Solothurn © Joel Schweizer

Cécile Olshausen
Das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn (SOBS) feiert in dieser Saison sein 50-Jahr-Jubiläum. Chefdirigent Kaspar Zehnder hat zu diesem Anlass dem Berner Komponisten Jean-Luc Darbellay einen Kompositionsauftrag erteilt. Er wünschte sich ein Werk, zweisprachig, mit Bezug zu Biel und Umgebung.

Darbellay entschied sich, mit zwei ihm nahestehenden Schriftstellern zusammenzuarbeiten: mit dem Westschweizer Poeten und Romancier François Debluë und dem Deutschschweizer Mundart-Dichter Guy Krneta. Den vielschichtigen Texten hat sich Darbellay musikalisch in Form des Melodrams genähert.

Portrait Jean-Luc Darbellay

Rousseau und das Melodram

Das Melodram ist heute ein ziemlich vergessenes Genre aus dem späten 18. Jahrhundert. Zwischen und über der Musik wird gesprochen anstatt gesungen. Erfinder dieser Gattung ist kein geringerer als der in Genf geborene französisch-schweizerische Philosoph und eben auch Komponist Jean-Jacques Rousseau. Er hat 1770 mit Pygmalion das erste Melodram der Musikgeschichte komponiert.

Und mit Rousseau sind wir schon inmitten von Darbellays Komposition, denn François Debluës Text rankt sich um einen fiktiven Brief Robert Walsers über Jean-Jacques Rousseau, nämlich über dessen Aufenthalt auf der St. Petersinsel im Bielersee. Rousseau verlebte dort im Herbst 1765 nach eigener Aussage die schönste Zeit seines Lebens. Der Berner Geheime Rat aber wies den berühmten Aufklärer aus. Und auch in Môtier (Val-de-Travers), wo er mit seiner Gefährtin Thérèse Levasseur lebte, war er nicht mehr willkommen, und es wurde – so geht die Geschichte – mit Steinen nach ihnen geworfen. Dies regt Debluë zu einer weiten Rêverie über Steine an. Je sais le langage des pierres.

Guy Krneta reagiert auf Debluës Text mit einer artistischen berndeutschen Sprachstudie und entwickelt am Ufer des Bielersees einen Monolog über Wasser Chan e See dänke? Was würd’r dänke, wen’r chönnt dänke? und Steine Het e Schtei mau grännet?

 

Portrait Guy Krneta © Guy Krneta

Schifere und «Steineln»

Zentrale Verbindung zwischen den Texten von Debluë und Krneta ist das Steinewerfen übers Wasser – ds’Schifere wie man auf Berndeutsch sagt. Bei Krneta: Wen e Schtei über ds Wasser gumpet, vo Oberflächi zu Oberflächi, chan i ahne, wi’s isch gsi, wo d Schteine no gläbt hei, wo si gfloge sy wi Vögu. Bei Debluë sind es runde weiche Kieselsteine, die übers Wasser hüpfen; wenn Kinder da wären, würde man sich nun im «Steineln» messen. Mais il n’y a pas d’enfant – eine Anspielung an Rousseau, der seine Kinder in Waisenhäuser gegeben hat.


,Wenn ich denke‘, Guy Krneta für Jean-Luc Darbellay, Play SRF, Morgengeschichte, 5.10.2019

Jean-Luc Darbellay hat zu dieser komplexen literarischen Vorlage eine Musik geschrieben, die nicht die Konkurrenz zur Literatur sucht, vielmehr will er mit seiner Komposition die Texte unterstützen. Die Sprecherin soll sich frei entfalten können; deshalb wird sie nie in eine exakte Rhythmik eingebunden. Manchmal übernimmt die Musik eine illustrierende Funktion, zum Beispiel bei den Steinen, die übers Wasser fliegen. Oftmals lässt Darbellay aber auch einfach einen Akkord liegen oder er verzichtet ganz auf Musik. So kommen die gesprochenen Sprachen in ihrem Duktus und in ihrer Eigenheit zur vollen Wirkung.


Jean-Luc Darbellay, Pour une part d’enfance, für Sprecherin und Ensemble, Melodram über einen Text von François Debluë, 2018

Und auch der Titel des Melodrams «Belena» nimmt Bezug auf Biel. Denn Biel lässt sich sprachgeschichtlich auf den Namen Bĕlĕna zurückführen. Was es damit genau auf sich hat, weiss die Forschung bis heute nicht. Keltische Sonnengöttin? Oder Belenus als Gott der Macht? Man rätselt noch – aber der Titel passt zu diesem durch und durch «bielerischen» musiktheatralischen Werk.
Cécile Olshausen


Jean-Luc Darbellay, Belena, UA 19.2.2020 SOBS

Das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn macht Einspielungen von Uraufführungen im Rahmen seiner Sinfoniekonzerte laufend auf neo.mx3 zugänglich. Hören Sie hier auch die jüngste Aufnahme von Jost Meiers Konzert für Violoncello und Orchester in der Aufnahme der Uraufführung vom 13. November 2019 im Kongresshaus Biel:

Jost Meier, Konzert für Violoncello und Orchester, UA 13.11.2019 SOBS

Carnaval Bilingue, 6. Sinfoniekonzert SOBS, 19. Februar 2020, 19:30h, Kongresshaus Biel, Sinfonie-Orchester Biel Solothurn, Kaspar Zehnder – Leitung, Isabelle Freymond – Sprecherin
Programm:
Antonin Dvorak, Carnaval, Konzertouvertüre op. 92
Jean-Luc Darbellay, Belena, Melodramatisches Konzert für eine Sprecherin und Orchester
Joseph Lauber, Sinfonie Nr.1

Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Jean-Luc Darbellay, Guy Krneta

Sendungen SRF 2 Kultur: Im Konzertsaal, Do, 26.3.2020, Di, 19.5.2020

neo-profiles: Jean-Luc Darbellay, Sinfonie Orchester Biel Solothurn