Offen für Menschen und Musik

Friederike Kenneweg
„Es fällt gerade schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren“, sagt die Pianistin Tamriko Kordzaia, als ich sie Anfang März zu einem Zoom-Gespräch treffe. Wir sind beide erschüttert vom Krieg, der in der Ukraine begonnen hat. Aber für die Georgierin Kordzaia hat das Geschehen noch eine andere Bedeutung. „Ich bin hier natürlich auch gleich auf der Demo gewesen, und das hat gut getan, aber wenn danach alles wieder einfach so weiter geht, fühle ich mich hier auf einmal einsam…“

 

Die Pianistin Tamriko Kordzaia sitzt am Flügel und spielt konzentriert, vor ihr die aufgeschlagenen Noten.
Portrait Tamriko Kordzaia © Lorenzo Pusterla/ Kunstraum Walcheturm

 

Brücken zwischen Georgien und der Schweiz

Und dabei ist Tamriko Kordzaia schon lange als eine Art musikalische Botschafterin zwischen der Schweiz und Georgien unterwegs. Seit 2005 leitet sie das Festival Close Encounters, das sich zur Aufgabe gemacht hat, zeitgenössische Musik beider Länder gemeinsam zur Aufführung zu bringen. Alle zwei Jahre findet das Festival in der Schweiz und in Georgien statt. Dabei geht es Tamriko Kordzaia zum einen darum, die Musik zeitgenössischer Komponist:innen beider Länder gemeinsam zu präsentieren und so Begegnungen zu schaffen. In Georgien geht es aber auch darum, zeitgenössische Musik in ländliche Regionen weit abseits des hauptstädtischen Zentrums zu bringen. „Das ermöglicht allen Beteiligten – Musiker:innen wie Zuhörenden – immer wieder einmalige Erfahrungen“, betont Kordzaia.

In diesem Jahr werden zu Werken von Peter Conradin Zumthor und Cathy van Eck junge georgische Komponist:innen mit neuen Stücken vorgestellt. Und mit Alexandre Kordzaia (*1994) ist auch der Sohn der Pianistin beim Close Encounters Festival vertreten. Er kann selbst als vermittelnder Grenzgänger zwischen der Schweiz und Georgien gelten, aber auch zwischen klassischer und elektronischer Musik. Denn er komponiert nicht nur Kammermusikwerke, sondern ist unter dem Namen KORDZ auch als Clubmusiker bekannt.

 

Engagiert für einen vergessenen Komponisten

Es sind allerdings nicht nur die jungen georgischen Komponist:innen, die Tamriko Kordzaia bekannter machen will. In Zusammenarbeit mit zwei weiteren georgischen Pianistinnen hat sie sich auch der Wiederentdeckung des in Vergessenheit geratenen Komponisten Mikheil Shugliashvili (1941-1996) gewidmet. Im Jahr 2013 brachten die drei Pianistinnen die Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Shugliashvili zur Aufführung und veröffentlichten die erste Aufnahme des beeindruckenden Werks für drei Klaviere auf CD.

 

Ausschnitt einer Aufführung des Stückes Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Mikheil Shugliashvili beim Musikfestival Bern 2020

 

Brücken bauen zwischen Formationen, Epochen und Genres

Tamriko Kordzaia ist als Pianistin in ganz unterschiedlichen musikalischen Formationen aktiv. Sie spielt Soloauftritte, konzertiert im Duo mit Dominik Blum von Steamboat Switzerland oder mit der Cellistin Karolina Öhman, und ist seit 2008 Mitglied des Mondrian Ensembles, das selbst alle möglichen Kombinationen, die ein Klavierquartett ermöglicht, mit seinen Programmen abdeckt.

 

Die vier Musikerinnen des Mondrian Ensembles. Foto: Arturo Fuentes
Tamriko Kordzaia spielt schon seit 2008 im Mondrian Ensemble, zusammen mit Karolina Öhman, Ivana Pristašová und Petra Ackermann. Foto: Arturo Fuentes

 

Und schon lange ist Tamriko Kordzaia nicht nur eine Grenzgängerin zwischen den Ländern und Formationen, sondern auch zwischen den Epochen. Zu Beginn ihrer Karriere in Georgien hatte sie sich zunächst mit ihren Interpretationen von Mozart und Haydn einen Namen gemacht. Als sie aber an der Zürcher Hochschule der Künste ihre Studien fortsetzte, begann ihre Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik. Zum Beispiel mit den Werken des Schweizer Komponisten Christoph Delz (1950-1993), dessen sämtliche Klavierwerke Kordzaia im Jahr 2005 einspielte. Das Mondrian Ensemble, in dem Kordzaia Mitglied ist, hat es sich explizit zur Aufgabe gemacht, in seinen Programmen alte und neue Musik gemeinsam zu spielen und dadurch ungewöhnliche Zusammenhänge hörbar zu machen. Das Ensemble setzt in seinen Programmen auch Konzepte um, in denen Raum, Bühne oder Film eine Rolle spielen, und hat auch keine Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit Vertreter:innen des Jazz oder der Clubmusik.

 

Aufnahme des Mondrian Ensembles von Plod on von Martin Jaggi.

 

Über die lange Zeit, die Tamriko Kordzaia jetzt beim Mondrian Ensemble dabei ist, haben sich feste und regelmäßige Arbeitsbeziehungen ergeben, u.a. mit Komponisten wie Dieter Ammann, Felix Profos, Antoine Chessex, Martin Jaggi, Jannik Giger, Roland Moser und Thomas Wally.

 

sieben sonnengesichter

Ein besonderes Verhältnis hat Tamriko Kordzaia allerdings zur Musik von Klaus Lang, dessen Stücke schon in einige Programme des Mondrian Ensembles Eingang gefunden haben. Als die Corona-Pandemie das Konzertleben jäh zum Stillstand brachte, war es das Stück sieben sonnengesichter von Klaus Lang, mit dem sich Kordzaia, auf sich selbst zurückgeworfen, endlich einmal ausführlicher beschäftigen wollte. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung erschien 2021 auf CD.

 


Video von den CD-Aufnahmen der sieben sonnengesichter von Klaus Lang mit Tamriko Kordzaia am Klavier.

 

Arbeit mit der jungen Generation

Etwas, das Tamriko Kordzaia schon seit ihren Anfängen in der Schweiz begleitet, ist die Arbeit mit jungen Musiker:innen – eine Tätigkeit, die sie heutzutage richtig glücklich macht. An der Zürcher Hochschule der Künste gibt sie Klavierunterricht und hilft den Studierenden, den Weg zur eigenen Stimme bei der Interpretation nicht nur klassischer, sondern auch zeitgenössischer Werke zu finden. Und dort kommt sie auch mit jungen Komponist:innen in Kontakt, denen sie bei der Entwicklung ihrer Stücke beratend zur Seite steht. „Das ist so toll zu sehen, was diese jungen Leute für Ideen haben und wie sie weiter kommen. Das gibt mir immer Sinn und hilft mir weiter zu machen, auch wenn drumherum alles schwierig ist.“
Friederike Kenneweg

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Close Encounters:
Dienstag, 26.4.22 Kunstraum Walcheturm – Favourite Pieces
Donnerstag, 28.4.22 Stanser Musiktage – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Freitag, 29.4.22 Feilenhauer Winterthur – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Samstag, 30.4.22 GDS.FM Club Sender Zürich – Tbilisi Madness

10 PIECES TO DESTROY ANY PARTY:
Im nächsten Programm des Mondrian Ensembles kommt das gleichnamige Stück von Alexandre Kordzaia zur Uraufführung, eine „Oper ohne Libretto in 6 Sätzen“ für Klavierquartett und Elektronik. Das Stück erzählt die Geschichte von drei Prinzessinnen, die angesichts ihrer Hochzeit anfangen zu zweifeln und schließlich ihr eigenes Fest sabotieren. Dazu kombiniert: Werke von Mauricio Kagel, Cathy van Eck und Bernd Alois Zimmermann.
Dienstag, 3.5.22 Gare du Nord, Basel
Mittwoch, 4.5.22 Kunstraum Walcheturm, Zürich
Donnerstag, 5.5.22 Cinema Sil Plaz, Ilanz

Erwähnte CD-Einspielungen:
Klaus Lang / Tamriko Kordzaia, sieben sonnengesichter: CD domizil records 2021.
Mikheil Shugliashvili/Tamriko Kordzaia, Tamara Chitadze, Nutsa Kasradze, Grand Chromatic Fantasy (Symphony) For Three Pianos: CD, Edition Wandelweiser Records, 2016.
Christoph Delz: Sils „Reliquie“ – 3 Auszüge aus „Istanbul“, CD, guildmusic, 2005.

Klaus Lang, Mikheil Shugliashvili, KORDZ, Christoph Delz

neo-Profile:
Tamriko Kordzaia, Festival Close Encounters, Mondrian Ensemble, Karolina Öhman, Petra Ackermann, Alexandre Kordzaia, Cathy van Eck, Peter Conradin Zumthor, Jannik Giger, Dieter Ammann, Martin Jaggi, Roland Moser, Felix Profos, Antoine Chessex, Zürcher Hochschule der Künste, Musikfestival Bern

Robert Walsers Komponist:innen

In seiner neuen Monografie zeichnet der Musikwissenschaftler Roman Brotbeck die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nach und entwirft im selben Zug ein faszinierendes Panorama der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts abseits der dominanten Strömungen.
Am 27. Januar findet im Gare du Nord in Basel die Buchvernissage statt, zusammen mit der Aufführung von Georges Aperghis’ Werk Zeugen, basierend auf Texten Walsers.

 

Silvan Moosmüller
„Robert Walser – sein eigener Komponist“, so lautet der Titel zur Einleitung von Roman Brotbecks Töne und Schälle: Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021.

 

Robert Walser Berlin 1909 © Keystone SDA / Robert Walser-Stiftung Bern

 

Walser als literarischer Komponist

Und tatsächlich, viele Prosastücke und erst recht die Gedichte des notorischen „Plauderers“ Walser gleichen mit ihrer elaborierten Lautstruktur einer musikalischen Komposition: Jede Silbe, jeder Buchstabe trägt zur Poesie des Ganzen bei. „Walser zu vertonen, ist eine schwierige, vielleicht sogar unlösbare Aufgabe, weil viele Walser-Texte schon Musik sind und deshalb einer Musik eigentlich gar nicht mehr bedürfen“, bilanziert Roman Brotbeck die heikle Ausgangslage.

 

200 Werke von über 100 Komponistinnen und Komponisten

Dennoch – oder vielmehr gerade wegen der Musikalität seines Schreibens – hat Walser eine Vielzahl von Komponistinnen und Komponisten zu Vertonungen angeregt. Neben Hölderlin zählt Walser zu den meistvertonten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Diesen klingenden Walser-Kosmos entfaltet Roman Brotbeck auf fast 500 Seiten. Mit seinem Buch bietet er die erste umfassende und systematisch erarbeitete Untersuchung zur musikalischen Rezeption von Walsers literarischen Werken.

Und als Kurator des letztjährigen Festivals Rümlingen hat Brotbeck der Geschichte der Walser-Vertonungen gleich selber ein neues Kapitel hinzugefügt. 15 Uraufführungen mit Werken zu Robert Walser wurden im September aus der Taufe gehoben; darunter z. B. die revidierte Neufassung des théâtre musical Zeugen von Georges Aperghis, das zusammen mit der Buchvernissage im GdN in Basel erneut zur Aufführung kommt. Oder die performative Ausstellung Patient Nr. 3561 der Komponistin und Performerin HannaH Walter und ihrem Kollektiv Mycelium.

 

Von Anfang an..

Aber beginnen wir doch am besten chronologisch ganz vorne: mit James Simon. Dieser Berliner Musikwissenschaftler und Komponist ist gemäss Brotbecks Recherchen der Erste, der sich an Robert Walser heranwagte. Genauer sind es die beiden Gedichte Gebet und Gelassenheit, die Simon 1912 respektive 1914 als Lieder in romantisch anmutender Weise komponierte.

Dabei ist James Simon als Figur in zweierlei Hinsicht wegweisend für die weitere Geschichte der Robert Walser-Vertonungen: Erstens ist er keiner der Grossen, Bekannten – als Komponist ist James Simon heute sogar ganz in Vergessenheit geraten. Und zweitens steht er mit seiner “verspätet”-romantischen Kompositionstechnik quer zu den dominanten Strömungen der Zeit.

 

Musikgeschichtsschreibung diesseits des Höhenkamms

Diese beiden Eigenschaften bilden die DNA für alles Kommende. Denn generell verläuft die inzwischen 110-jährige Geschichte der Robert Walser-Vertonungen nicht auf dem Höhenkamm der etablierten Musikgeschichtsschreibung. Vielmehr liest sie sich – in Roman Brotbecks eigenen Worten – als „Geschichte, oder besser: als Geschichten der Ausbruchsversuche aus dem Avantgarde-Diskurs“.

Dazu passt, dass die musikalische Rezeption Walsers überaus gemächlich startete. In den fünfzig Jahren nach James Simons ersten musikalischen Umsetzungen gibt es nur zwei weitere Belege; in den nächsten 25 Jahren bis 1987 lassen sich gemäss Brotbecks Recherchen immerhin 13 Komponist:innen mit 20 Werken nachweisen. Darunter finden sich weitere Liedvertonungen, aber auch das zwölftönige Dramma-Oratorio Flucht von Wladimir Vogel, das die rhythmisch polyphonen Möglichkeiten des Sprechchors ausreizt.

 


Wladimir Vogel, Flucht, Dramma-Oratorio (1964), Tonhalle-Orchester Zürich 1966, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Die Ruhe…

Von diesen „frühen“ Walser-Vertonern, denen der erste Teil der Monografie gilt, hat sich der Schweizer Urs Peter Schneider besonders beharrlich und vielseitig auf Walsers Œuvre eingelassen. Über fast sechzig Jahre hinweg hat Schneider ein ganzes Walser-Laboratorium geschaffen – von der „extremen Stereophonie“ seines radiophonischen Porträts Spazieren mit Robert Walser bis hin zu den Polyphonisierungen des Textmaterials im Chorbuch.

 


Urs Peter Schneider, Chorbuch, 12 Lieder auf 12 Texte von Robert Walser für 8 Singstimmen, UA 2013 Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Der Grossteil der Walser-Vertonungen entstand laut Brotbeck hingegen erst in den letzten 34 Jahren, dafür mit exponentiell steigender Geschwindigkeit. Angestossen durch Heinz Holligers Beiseit-Zyklus und die grosse Schneewittchen-Oper setzt in den 90er-Jahren ein regelrechter Walser-Boom ein.

 

…vor dem Sturm

Nicht zufällig fällt dieser Boom mit dem Trend zu neuen Musik- und Theaterformen im Zeichen des postdramatischen Theaters zusammen. So büsst das Klavierlied seine Stellung als bislang dominierende Gattung ein und es schlägt die Stunde des Dramatikers Walser. Aber auch gesellschaftspolitische Veränderungen begünstigten gemäss Brotbeck in den 1990er-Jahren die Walser-Rezeption: „Die Künste sind in jener Zeit durch eine ambivalente Mischung aus Freiheitsdrang und Orientierungslosigkeit, aus Dekonstruktion der grossen Erzählungen in der Nachfolge der Postmoderne und Faszination für neue Medien und Technologien geprägt.“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Um die Materialfülle im zweiten Teil seines Buches übersichtlich darzustellen, teilt Brotbeck das weite Feld der Walser-Vertonungen vor allem nach Gattungen auf, namentlich verschiedenen Musiktheaterformen, Lieder- und Liederzyklen und Melodramen. Die eröffnete Bandbreite ist enorm. Sie reicht von improvisatorischen Formen mit Akteur:innen der neuen Schweizer Volksmusik (z. B. Oberwalliser Spillit) über szenische Musik wie Michel Roths Räuber-Fragmente bis zu Neukontextualisierungen wie bspw. im Stück Der Teich der japanisch-schweizerischen Komponistin Ezko Kikoutchi, wo sie ein französisch-schweizerdeutsches Libretto in ein japanisches Umfeld stellt.

 


Ezko Kikoutchi, Der Teich nach einem Text von Robert Walser, Laure-Anne Payot, Mezzosopran und Lemanic Modern Ensemble, 2012

 

 

Die Abweichung als Norm

Die Geschichte der Robert Walser-Vertonungen gleicht, so gesehen, einer von Walsers verwinkelten und ständig abschweifenden Erzählungen. Oder wie Roman Brotbeck es formuliert: “Das Gemeinsame der Walser-Vertonungen ist quasi das Nicht-Gemeinsame”. Dass Brotbeck gerade diese “Zergliederung individualistischer Walser-Zugänge” aufzeigt und der Versuchung nach einer grossen Erzählung widersteht, ist ein grosser Vorzug seines Buches. Da die besprochenen Werke immer auch sozialgeschichtlich und kulturpolitisch kontextualisiert werden, zeigen die Kapitel dennoch ein detailliertes Bild der (Schweizer) Kulturlandschaft mitsamt ihren Strömungen und Institutionen im 20. und 21. Jahrhundert.

Auf 500 Seiten entsteht so das faszinierende Panorama einer “anderen Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts” . Und das Beste ist, dass diese Geschichte noch lange weitergeht.
Silvan Moosmüller

 

Do 27.1.22, 21h GdN Basel: Buchvernissage Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021 / 20h Konzert: Georges Aperghis, Zeugen

Sa 29.1.22, 20h / So, 30.1.22, 17h GdN Basel: Roland Moser, Die Europäerin auf Mikrogramme von Robert Walser

Roman Brotbeck, Silvan Moosmüller, Georges Aperghis, James Simon

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 8.9.2021: Klingender Autor – Walser-Vertonungen am Festival Rümlingen, Redaktion Silvan Moosmüller
neoblog, 13.7.2021: Alles was unser Menschengeschlecht ausmacht – Roland Moser erhält einen BAK-Musikpreis 2021, u.a. zur UA von ‘Die Europäerin’ nach Robert Walser, Autor Burkhard Kinzler

neo-Profile:
Robert Walser, Urs Peter Schneider, Heinz Holliger, Michel Roth, Ezko Kikoutchi, Kollektiv Mycelium, Neue Musik Rümlingen, Gare du Nord, Basler Madrigalisten, Musikfestival Bern, Roland Moser, Lemanic Modern Ensemble

un projet est avant tout une rencontre..

Der Genfer Komponist, Interpret und Kurator Alexandre Babel erhielt einen der Schweizer Musikpreise des Bundesamts für Kultur 2021. Am 17. September findet die feierliche Preisübergabe in Lugano statt. Im Gespräch erzählt Babel was er unter Komposition und Kuration versteht und wie er diese Tätigkeiten verwebt.

 

Portrait Alexandre Babel © Felix Brueggemann 2021

 

Gabrielle Weber
Alexandre Babel, Perkussionist, Komponist und Kurator, bewegt sich auf Avantgarde-Konzertbühnen, an Jazzfestivals, in Galerien und an Kunstbiennalen. Zwischen Berlin und Genf verbindet er klassische Avantgardemusik, Klangkunst, experimentelle Improvisation und Performance.

Es gebe so viele Arten zu komponieren, wie es Komponierende gebe, sagt Alexandre Babel. Komponieren umschreibt er deshalb lieber mit “Organisation von Klängen in Zeit und Raum”. Diesem Kompositionsverständnis sei auch das Kuratieren nahe. “Auch hier geht es darum, dass man existierende Klangobjekte an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in Bewegung bringt und diese Objekte dann mit anderen Objekten in Verbindung setzt”.

Komponieren und Kuratieren: das sind für Babel verschiedene Seiten ein und derselben Tätigkeit. Babel kreiert, konzipiert, inszeniert, vernetzt und interpretiert.

Alexandre Babel, 1980 in Genf geboren, fand durch seinen ersten Schlagzeuglehrer in Genf zunächst zum Jazz. Anschliessend spezialisierte er sich in New York bei Jazzlegenden wie Joey Baron oder Jeff Hirshfield weiter und spielte in verschiedenen Formationen. „Am Jazz faszinierte mich nicht nur die Ästhetik, sondern vielmehr wie Musiker miteinander umgingen, um Musik zu kreieren. Das Mischen von Repertoire und Improvisation: das war für mich die Basis des Musikmachens“.

Gleichzeitig angezogen von der klassischen musikalischen Avantgarde, wechselte er bald zum klassischen Schlagzeug und fand, zurück in Europa, zur Komposition. John Cage, Morton Feldman, Alvin Lucier, Heiner Goebbels oder Helmut Lachenmann waren dann für Babels kompositorischen Weg wegweisend.

Bereits in ersten Stücken wie music for small audiences für kleine Trommel solo, setzt er sich dabei insbesondere auch mit der Rolle des Interpreten auseinander. “Mit Music for small audiences begann eine eigentliche Liebesgeschichte mit der kleinen Trommel”, meint Babel.

 


In einem seiner ersten Stücke, ‘music for small audiences’ erkundet Alexandre Babel neue Klänge für kleine Trommel solo und rückt die Rolle der Perkussion im Musikbetrieb in den Fokus.

 

Interpret – Improvisator – Komponist

 

Als Schlagzeuger ist Babel heute vielgleisig unterwegs: als feiner leiser Improvisator, als lauter experimenteller Drummer bspw. mit der Band „Sudden infant“ im Duo mit Joke Lanz oder als Interpret zeitgenössischen Schlagzeugrepertoires in diversen Formationen.

Gleichzeitig komponiert und kuratiert er und entwickelt Projekte für eigene Formationen wie bspw. das Berliner Kollektiv Radial, zusammen mit der Videokünstlerin Mio Chareteau.

„Musikmachen sehe ich als mehrere Prozesse. Der erste ist das ‚Denken‘ von Musik, also das Komponieren, dann die Übermittlung an jemanden, der die Musik realisiert, und zuletzt das Aufführen für ein Publikum: mich faszinieren alle diese Prozesse“, meint Babel.

Alle seine Tätigkeiten verbindet das Zusammendenken von Kreation und Interpretation und auch ein Interesse am Visuellen, am Raum und am Performativen.

 

“Was möchte ich sehen und was möchte ich hören..”

 

Komponieren beginnt für Babel immer mit einer Begegnung oder ist gar eine Begegnung. So entstehen Babels Kompositionen meistens konkret für Musikschaffende.

Die InterpretInnen hat er dabei immer vor Augen und lässt sich -nicht zuletzt- auch durch ihre Bewegungen, ihre Gesten beim Spiel inspirieren. Im Stück The way down für das Duo Orion bspw. ging Babel vom gemeinsamen Musizierens des Duos aus und inszenierte dieses akustisch und auch performativ.

 

Alexandre Babel, The way down pour violoncelle et piano, Duo Orion (Gilles Grimaître, piano, Elas Dorbath, Cello) 2020

 

 

«Am Anfang eines Projekts stelle ich mir die Frage: ‘Was möchte ich sehen und was möchte ich hören’: Das Visuelle ist für mich genauso wichtig wie das Klangliche. Das Duo Orion hat bspw. eine besondere Körperlichkeit beim Musizieren. Ich entwickelte für das Duo ein Stück, in dem die Gesten fast sportlich sind. Es entstand fast ein Tanz oder eine Choreografie», sagt Babel.

 

Kuratieren als permanenter Dialog

 

In idealer Weise seien seine drei Tätigkeiten, Komposition, Interpretation und Kuration in der künstlerischen Leitung des Festival les amplitudes (La-Chaux-de-Fonds, Herbst 2020) zusammengekommen, sagt Babel. „Ich hatte hier die Chance alle meine Aspekte innerhalb eines Objekts -das Festival und gleichzeitig die Stadt La Chaux-de-Fonds – zu verbinden: Ich dachte das Festival als eine Riesen-Komposition aus einzelnen Teilen – einer Kunstausstellung, Liveperformances, Drum Sets und Kompositionen für den Raum. Daraus bildete sich eine neue Einheit“.

Seit 2013 leitet Babel das Perkussionsensemble Eklekto Geneva Percussion Center. Es besteht aus zirka 20 MusikerInnen in loser Zusammensetzung. “Eklekto bietet für mich eine Gelegenheit, ungewöhnliche Perkussionssituationen zu entwickeln”. Alle Projekte entstehen in engem Austausch und Zusammenarbeit mit den Komponierenden und den MusikerInnen. “Kuratieren ist ein permanenter Dialog mit den beteiligten Musikschaffenden”.

 

Aufmerksames Hören

 

Pauline Olivero’s Stück Earth ears, ein sog ‘Sonic Ritual‘ von 1989 für freie Besetzung, sei charakteristisch für sein Verständnis von Kuratieren, meint Babel: „Die Musiker spielen nach dem Gehör. Es gibt keine geschriebene Partitur. Man muss sich selbst und auch dem ganzen Ensemble zuhören und darauf reagieren. Im Stück geht’s um Klang, um Raum und ums aufmerksame Zuhören: das ist für mich die Basis des Musikmachens”, sagt Babel.

 


Pauline Oliveros’ ‘Earth ears’, ein ‘Sonic Ritual’ und offen zu interpretierendes Stück von 1989, ist charakteristisch für Babels Ansatz des Kuratierens.

 

Wichtig ist für Babel zudem sein grosses Perkussionsensemble mit 15 Schlagzeugern aus dem Eklekto-Pool. „Wir haben klare Regeln: wir spielen auswendig und es wird nicht dirigiert: das Spielen ohne Leader schafft eine enorme Energie und Präsenz und eröffnet gleichzeitig neue Kommunikationswege, fast schon auf radikale Weise“.

 

Choeur mixte’ reflektiert das klassische Setting von Kammermusik und rückt zugleicht das oft unterschätzte klassische Orchester-instrument ‘kleine Trommel’ in ein neues solistisches Licht. Eine weitere Liebeserklärung an die kleine Trommel.

 

Im Stück ‘choeur mixte’ für 15 kleine Trommeln, spielen die Perkussionisten ihre Instrumente stehend, zu einem Keil formiert, im Lichtspot auf leerer Bühne. Sie agieren stark aufeinander bezogen: das Stück strahlt eine Kraft als Gruppe und gleichzeitig Eigenverantwortung der einzelnen InterpretInnen aus.

 

Musik ohne Klang

 

Aktuell arbeitet Babel u.a. an einem Kompositionsauftrag für die Kunstbiennale Venedig 2022. Zusammen mit der Schweiz-basierten franco-marokkanische Bildenden Künstlerin Latifa Echakhch gestaltet er den Schweizer Pavillon. Babel sieht sich dabei mit einer speziellen Herausforderung konfrontiert: Echakhch wünschte sich von Babel eine Komposition ohne realen Klang. „Das ist für mich eine wichtige und besondere Aufgabe: durch den gemeinsamen Kreationsprozess nähern wir uns Lösungen an, wie Musik ohne Klang klingen kann“, sagt Babel. Momentan entstehen dafür kurze Musikstücke, die die Basis bilden für die finale Musik der Stille.
Gabrielle Weber

 

Portrait Alexandre Babel ©Felix Brueggemann (2021)

 

Am Freitag, 17. September 2021, findet die feierliche Preisverleihung im Lugano Arte e Cultura (LAC) in Lugano statt. Am Wochenende treten einige der PreisträgerInnen im Rahmen des Longlake Festival Lugano auf.
Der diesjährige Grand Prix musique ging an Stephan Eicher. Die weiteren PreisträgerInnen: Alexandre Babel, Chiara Banchini, Yilian Canizares, Viviane Chassot, Tom Gabriel Fischer, Jürg Frey, Lionel Friedli, Louis Jucker, Christine Lauterburg, Roland Moser, Roli Mosimann, Conrad Steinmann, Manuel Troller, Nils Wogram.

 

Konzerte Alexandre Babel:
Sonntag, 19.9.21, 10:30h Studio Foce, LAC:
Alexandre Babel e Niton +ROM visuals

23.4.-27.11.2022 Biennale Arte Venezia:
Alexandre Babel & Latifa Echakhch @Swiss Pavillon

Joke Lanz, Joey BaronJeff Hirshfield, Pauline Oliveros, Biennale Arte 2022, John Cage, Morton Feldman, Alvin Lucier, Heiner Goebbels, Helmut Lachenmann, Latifa EchakhchKollektiv Radial, Mio Chareteau, Elsa Dorbath

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
in: Musikmagazin, 18./19.9.21: Alexandre Babel – Träger BAK-Musikpreis 2021 im Gespräch mit Gabrielle Weber, Redaktion Annelis Berger

Musik unserer Zeit, 16.6.21: Alexandre Babel – Perkussionist, Komponist, Kurator, Redaktion Gabrielle Weber

neoblog, 14.10.2020: La ville – une composition géante, Text Anya Leveillé

 

Neo-Profiles:
Alexandre Babel, Les amplitudes, Eklekto Geneva Percussion Center, Duo Orion, Gilles Grimaître

 

 

Alles was unser Menschengeschlecht ausmacht..

Der Basler Komponist Roland Moser erhielt einen der Schweizer Musikpreise des Bundesamts für Kultur. Sein ehemaliger Kompositionsstudent Burkhard Kinzler, mittlerweile selbst arrivierter Komponist und Theoriedozent in Zürich, gibt Einblick in Mosers in Denken und Schaffen.

 

Roland Moser ©Louis Moser zVg Roland Moser

 

Burkhard Kinzler
Als ich – ein junger, kirchenmusikalisch geprägter angehender Komponist – 1992 zum ersten Mal von Heidelberg nach Basel zu meinem Unterricht bei Roland Moser fuhr, konnte ich noch nicht ahnen, wie prägend, ja entscheidend für mein Leben diese Stunden für mich werden würden. Ich war gespannt, aber auch skeptisch: ich kannte meinen zukünftigen Lehrer bisher überhaupt nicht, hatte eigentlich zu Kelterborn gewollt, von dem ich ein paar Stücke gesungen hatte, bei diesem war aber kein Studienplatz frei. «Kannst es ja mal versuchen bei Moser», dachte ich mir, «und wenn’s nicht funkt, hörst du halt wieder auf».

Nach der ersten Lektion war dieser Gedanke wie weggewischt – es hatte gefunkt. Roland Moser hat mir die Augen geöffnet, sein Blick auf alte wie auf neue Musik war eine Offenbarung für mich. Dieser Mann kannte ALLES. Und ein derart eigenständiges, so kompromissloses wie konkret an der Partitur orientiertes musikalisches Denken war mir vorher noch nicht begegnet.

Seine Gabe, meine kompositorischen Versuche zu lesen, sich in sie hineinzudenken und dann Fragen zu stellen, habe ich je länger je mehr bewundert. Sie hat mich um Quantensprünge vorwärts gebracht. Seine Fragen entlarvten mehr als einmal das nicht zu Ende Gedachte auf liebevoll-diskrete Weise.

Das muss auch anderen so gegangen sein, und so ist es kein Wunder, dass der Löwenanteil meiner Theoriedozierenden-Kollegen nur schon an der ZHdK* aus Rolands Schule kommt.

 

Roland Moser ©Louis Moser zVg Roland Moser

 

Keine Note Musik hatte ich von Roland Moser gekannt, also begann ich bald einmal, Stücke von ihm aufzutreiben (das war damals deutlich schwieriger als heute), sie zu studieren und auch aufzuführen, zunächst mit meinem kleinen Ensemble für neue Musik und im Rahmen meiner Professur in Mannheim. Bspw. die so präzise formulierten wie hintergründig humorigen Stücke seines «Kabinetts mit Vierteltönen» für 2 Klaviere haben mich wie auch meine damaligen Studierenden bezaubert.

Roland hat mir später einmal im Spass vorgehalten, dass ich fast ausschliesslich seine «Gelegenheitswerke» zur Aufführung bringen würde. Um dann gleichzeitig anzudeuten, dass diese Stücke, scheinbar nur Randprodukte, auf verwickelte Weise eine durchaus wesentliche Rolle in seinem – inzwischen eindrücklich umfassenden – Oeuvre spielen.

Ein gutes Beispiel hierfür sind seine «Quatre cadres harmoniques» für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, deren erster Satz für Altflöte und Bassklarinette solo für mich so etwas wie ein heimliches Zentrum von Roland Mosers Schaffen darstellt.

Nicht umsonst verwendet er dieses sparsame, auf eine Partiturseite passende Zweieinhalbminutenstück auch in anderen Kompositionen, etwa in «Kleine Differenzen über einen Grund» für Bläserquintett (6. Satz). Auch hier erscheint es als Ausgangspunkt und gedankliche Mitte.

 


Roland Moser, Kleine Differenzen über einen Grund für Bläserquintett, Ensemble Contrechamps 2005, Eigenproduktion SRG

 

Wie komme ich zu dieser Einschätzung?
Nun, anhand dieser wenigen Töne lassen sich wesentliche Denk- und Klangrichtungen von Roland Mosers Musik aufzeigen: Da wäre zunächst die strenge, ungeschwätzige Sparsamkeit: kein Ton zu viel, keinerlei «Zierrat», jeder Klang präzise gehört und genau an dem Ort, wo es ihn braucht.

 

Keine  “Just-Intonation-Sauce” – kein spektralistisches Spektakel

Dann die Beschäftigung mit der Obertonreihe, die bei Roland Moser nicht einfach zu einer “Just-Intonation-Sauce” oder einem “spektralistischen Spektakel” führt; Mosers Nachdenken über die Konflikte zwischen (natürlicher) Physik und (temperierter) Kultur erzeugt Klänge, in denen dieser Konflikt zum Erlebnis wird. Die Kontrapunktik der beiden Instrumente in diesem Satz ist derart angelegt, dass buchstäblich jeder Zusammenklang in einem Teiltonverhältnis steht; gleichzeitig sind die Interpret*Innen dazu angehalten, ihre Intonation eben nicht anzupassen, sondern in der gleichstufigen Temperatur zu verbleiben. So erscheint die Natur-Klanglichkeit als Chimäre, die wie mit den Händen (bzw. den Ohren) zu greifen scheint und sich doch nur als Fata Morgana herausstellt.

Damit das alles im Ohr der Zuhörenden passieren kann, braucht es die Geduld und die Fähigkeit zur Langsamkeit des Komponisten. Beides hat Roland Moser zur Genüge.

Unbedingt zu erwähnen ist auch die rhythmisch ungebundene, aber gestisch immer eindeutige Art der Dauern-Notation, die Roland Moser bei seinem Freund György Kurtag gelernt hat.

All die genannten Grund-Bedingungen führen zu einem – nur zweistimmigen – Stück von ungeheurer Konzentriertheit und einer unmittelbar aus der Klangkonzeption entstehenden Ausdruckskraft, die ihresgleichen sucht.

 

Partiturseite «Quatre cadres harmoniques», erster Satz für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier: für Burkhard Kinzler ‘ein heimliches Zentrum von Roland Mosers Schaffen’

 

Das “Romantik-Projekt”

Nun wäre es absolut ungerechtfertigt, Roland Mosers weitgespanntes Oeuvre auf dieses «Stücklein», wie er selbst es wohl nennen würde, zu reduzieren. Es gibt grosse, sein gesamtes kompositorisches Leben bestimmende Projekte wie etwa das «Romantik-Projekt». Zu einer Zeit, als die romantische Dichtung gegenüber spät- und post-expressionistischen Ausdrucksweisen bei den meisten seiner Zeitgenossen als vorgestrig galt, beschäftigte Roland Moser sich unbeirrt mit Dichtern wie Heine und vor allem Brentano. Er schaffte es, dieser scheinbar so lieblichen Sprache ihr anarchisches Potenzial abzulauschen und eine eigene, neuartige Klanglichkeit dafür zu finden.

In diesen Zusammenhang gehört auch die permanente Auseinandersetzung mit der Musik Franz Liszts und vor allem Franz Schuberts, zu der Roland Tiefgründiges zu sagen weiss und auf die er in seinem eigenen Werk immer wieder reagiert hat. Etwa in den «Echoräumen» nach Schuberts Trauermusik oder in der Bearbeitung des Andante h-moll für fragmentarisches Orchester.

 


Roland Moser,  Echoraum nach Schuberts Trauermusik (Nonett D79) für Kammerorchester, Kammerorchester Basel, 2018, Eigenproduktion SRG

 

Hier zeigt sich auch Mosers Verhältnis zum Orchester, das er selbst als «gebrochen» bezeichnet hat – und doch war es ihm möglich, so gewichtige Werke wie «WAL – für schweres Orchester» zu schreiben.

 


Roland Moser,  WAL für schweres Orchester mit 5 Saxophonen (1980/83), Basel Sinfonietta und Xasax Saxophonquartett, Eigenproduktion SRG

 

Auch seine grosse Oper «Avatar» kreist ums Romantisch-Phantastische, wie auch auf ganz andere Weise sein zweites Bühnenwerk «Rahel und Pauline», welches das Kunststück fertigbringt, einen Briefwechsel (zwischen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel) zur Szene zu bringen, also lebendig zu machen.

So vieles gäbe es noch zu sagen über Roland Mosers Werk und Wirken. Roland Mosers Kosmos hat Berührungs- und Anregungspunkte in der gesamten menschlichen Geschichte – hierin manifestiert sich seine zutiefst humane, menschenfreundliche Haltung. Sein Werk ist Ausdruck einer tiefen, gleichzeitig kritischen wie von Zuneigung geprägten Auseinandersetzung und Kommunikation mit dem Menschen und allem, was unser Menschengeschlecht ausmacht.
Burkhard Kinzler

 

Roland Moser am Komponieren ©Louis Moser zVg Roland Moser

 

*Theorie-Dozierende ZHdK u.a.: Felix Baumann, Kaspar Ewald, Mathias Steinauer, Felix Profos, Bruno Karrer, Lars Heusser

Das Romantik-Projekt wird dieses Jahr fortgeführt mit einer Uraufführung zu den letzten symphonischen Dichtungen Schuberts, aufgeführt durch das KOB unter der Leitung von Heinz Holliger.

24. Juli 2021, Lübeck, Schleswig-Holstein Musikfestival: Uraufführung dreisätzige Fassung der letzten symphonischen Skizzen von Franz Schubert (D 936A) von Roland Moser. 
Kammerorchester Basel, Leitung Heinz Holliger.
Weitere Daten/Orte:
15.8. Stadtcasino Basel

21. August, Festival Les Jardins musicaux, Rondchâtel Villiers bei Biel/Bienne:  Uraufführung «Die Europäerin», Musiktheater von Roland Moser, nach dem Mikrogrammm 400 von Robert Walser; mit Leila Pfister, Niklaus Kost, Jürg Kienberger, Conrad Steinmann (BAK-Preisträger 2021), Alessandro d’Amico, Helena Winkelman

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Weitere Daten/Orte:
18. September: Festival Rümlingen 2021, Musiktheater#3
29./30. Januar 2022: Basel Gare du Nord

Im Sommer 2021 erscheint eine neue CD mit Cello-Soli und Duos mit Klavier, Violine, Oboe d’amore, Blockflöte mit: Katharina Gohl Moser, Anton Kernjak, Helena Winkelman, Matthias Arter und Conrad Steinmann.

Detlev Müller-Siemens, György Kurtág, Felix Baumann, Bruno Karrer, Lars Heusser, Leila Pfister, Katharina Gohl Moser, Jürg Kienberger

 

Neo Profile
Roland Moser, Burkhard Kinzler, Kammerorchester Basel, Festival Les jardins musicauxHeinz Holliger, Kaspar, Neue Musik Rümlingen, Mathias Steinauer, Felix Profos, Matthias Arter, Helena Winkelman, Basel Sinfonietta, Anton Kernjak,  Xasax Saxophonquartett

 

Sprache mischt sich in Musik ein

Musik und Sprache sind vielfältig verflochten. Dem weiten Spektrum geht die diesjährige Darmstädter Frühjahrstagung anhand von Lectures, Roundtables und Konzerten auf die Spur. Zu erleben sind die Slam-Poetin Nora Gomringer oder die Sopranistin Sarah Maria Sun wie auch das ensemble proton bern.
Erstmals online – live gestreamt vom 7. bis zum 10.April 2021.

INMM 2021 Verflechtungen II © zVg INMM

Thomas Meyer
Darmstadt, die ehrwürdige und traditionsreiche Stadt in Hessen, die als „Zentrum des Jugendstils“ gilt, ist auch für die Musik des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Sie beherbergt nicht nur das Jazz-Institut mit dem europaweit bestbestückten Archiv. Alle zwei Jahre finden dort im Sommer auch die berühmten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik statt, bei denen sich die besten DozentInnen mit dem Nachwuchs treffen, dozieren und diskutieren. Seit der Gründung 1946 ist Darmstadt ein Ort der Diskussion, an dem die ästhetischen Richtungen vorgegeben werden – der wichtigste Ort neben Donaueschingen. Die Stadt hat der von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen angeführten Avantgarde denn auch den Namen gegeben: die Darmstädter Schule.

Etwas weniger bekannt ist, dass damals auch eine Frühjahrstagung ins Leben gerufen wurde, in der es zwar auch um Neue Musik, in der künstlerischen Produktion und in der Musikwissenschaft, geht, vor allem aber um ihre Vermittlung gerade in der Musikpädagogik. Veranstalter ist das ‘Institut für Neue Musik und Musikerziehung’ (INMM). Der Verein bietet im Rahmen der Frühjahrstagungen auch Kompositionskurse für Kinder und Jugendliche an und initiierte das Forschungsprojekt ‘Campus Neue Musik’, das kooperative Kompositionsprojekte mit Schulklassen begleitet.


INMM Trailer Konzert mit Sarah Maria Sun, 9.4.21 ©INMM 2021

Die Tagung wird seit jeher von einem Kollektiv-Vorstand aus Künstler*innen, Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen vorbereitet und durchgeführt, was in der Zusammensetzung den Gedanken der Kooperation verkörpert. Es versteht sich, schreibt das INMM auf seiner Homepage, als „Forum des interdisziplinären Diskurses zwischen Produktion, Reproduktion und Reflexion innovativer künstlerischer Konzepte der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit und ihrer musikpädagogischen Vermittlung“. 

Brandaktuelle Themen und Grenzbereiche

Zur Diskussion standen dort seit je brandaktuelle Themen und Grenzbereiche, in den letzten Jahren etwa zur Körperlichkeit, zu Film/Video oder zum Aufeinanderprallen von Kulturen. „Wir möchten schauen, wie unterschiedliche Dinge zueinander kommen“, sagt der Musikwissenschaftler Till Knipper, der im Vorstand mitwirkt. Heuer stehen die vielfältigen Verflechtungen von Wort und Sprache mit der Musik zur Debatte – ein uraltes, eigentlich fast fundamentales Thema, das aber noch etliches Potenzial birgt. Ja, in der Neuen Musik öffnen sich dafür ganz neue Bereiche, die in der Tagung diesmal thematisiert werden sollen.

Annette Schmucki musikalisiert Sprache: Skizze © zVg Annette Schmucki

Die Pandemie lässt ein Live-Durchführung nicht zu. Erstmals läuft nun alles übers Internet, nach einem klugen Zeitplan, bei dem man nicht mit Material überfüttert wird. Zum einen sind da vorproduzierte Beiträge, die man sich online anschauen kann. Sie bieten quasi ein künstlerisches Statement zu dem, was ab 16 Uhr erst in Lectures und ab 18 Uhr in Roundtable-Gesprächen thematisiert wird. Der Abend ist Performances bzw. Konzerten vorbehalten. Die Verbindung von Musik und Sprache bietet da ein weites Spektrum. Gewiss kommt dabei auch die herkömmliche Art des Vertonens vor. Sie steht am zweiten Tag auch im Zentrum, aber so herkömmlich gerät sie dann doch auch wieder nicht, etwa wenn die Slam-Poetin Nora Gomringer mit Günter Baby Sommer interagiert, einem Schlagzeuger, der einst schon mit Günter Grass auftrat.

Nora Gomringer und Günter Baby Sommer © zVg INMM 2021

Am ersten Tag werden die Verflechtungen bis hinein ins Theatrale aufgenommen, am dritten meldet sich die Stimme selber zu Wort (und Ton), eben jenes so individuelle wie belastbare Transportmedium. The Voice gehört diesmal der herausragenden Sopranistin Sarah Maria Sun.
Sie performt bzw. singt zum Beispiel neue Lieder des Deutschen Rolf Riehm und des Kanadiers Thierry Tidrow. Er fügt seinen Morgenstern-Vertonungen eine Subebene aus emoticons hinzu.


Rolf Riehm, Ausschnitte aus Liederzyklus nach Heine / Hölderin, Der Asra, Orpheus Euphrat Panzer, Hyperions Schicksalslied, Sarah Maria Sun, Jan Philip Schulze, UA INMM 2021

Zum samstäglichen Abschluss gibt’s mit den «Transformationen» einen helvetischen Schwerpunkt. Beim Konzert des ensemble proton bern ist kein Text, zumindest kein herkömmlicher, zu vernehmen, vielmehr wird Sprache in Musik verwandet, und das kommt nicht von ungefähr, denn die Schweiz verfügt über einige besondere Worttonkünstler*innen: Komponist*innen, die Sprache eben auch in blosse Töne transferieren und transformieren und dabei zu erstaunlichen Resultaten gelangen.

Vorbilder in der ältesten Generation gibt es etliche wie Heinz Holliger, Urs Peter Schneider oder Roland Moser. Da kann es – wie bei Moser – auch mal vorkommen, dass nur die Interpunktion eines Texts musikalisiert wird.

Und die Jüngeren sind ihnen gefolgt, haben weiterentwickelt, Neues eingebracht. Die Komponistin Annette Schmucki etwa gehört hierher, die gerne von Wortlisten ausgeht, sie analysiert und durchdringt und daraus ihre Musik entstehen lässt: Auf vielerlei Ebenen: Mal wird der Text einfach gesprochen, mal erscheint die Sprache als Notenbild, mal prägt sie die Struktur der Musik Ihr brotkunst… /54 Stück/farbstifte papier tabak basiert zum Beispiel auf Texten von Adolf Wölfli. Was es wohl mit ihrer neuen Komposition drei möbelstücke auf sich hat?


Annette Schmucki, brotkunst / 54 stück / farbstifte papier tabak, UA ensemble proton bern 2016

Daniel Ott, der Gründer des Festivals Rümlingens, der heute mit seinem Kollegen Manos Tsangaris die Münchner Biennale für Neues Musiktheater leitet, war immer auch politisch motiviert. Eine seiner ersten Kompositionen, molto semplicemente für Akkordeon solo entstand vor dem Hintergrund des Basler Chemiebrandes 1986 und brachte das auch zur Sprache. In 6/7 Gare du Sud geht er von der unzumutbaren Situation aus, der sich MigrantInnen im Bahnhof Chiasso konfrontiert sehen: Alltägliches fliesst in die Musik ein. Das sind ungewöhnliche Umsetzungen, die neuartige Aspekte des Sprachmaterials zutage fördern.

Von Isabel Klaus erklingt ein älteres Werk aus dem Jahr 2013: and then? für Kontraforte (eine neuentwickelte Art Kontrafagott) und Ensemble. Und es zeigt die Liebe dieser Komponistin zum Schrägen, etwas Absonderlichen, zum Beharrlichen und leise-verspielt Kabarettistischen.
Eine Sprachvertonung ist das nicht mehr, viel mehr mischt sich der Dirigent nicht nur gestisch, sondern auch sprechend in die Musik ein. Ja, manche hätten die Musik gerne textlos rein, aber so puristisch ist sie nun einmal nicht immer zu haben…
Thomas Meyer

Annette Schmucki Skizze © zVg Annette Schmucki

Die 74. Frühjahrstagung des INMM – Verflechtungen II Musik und Sprache in der Gegenwart- findet vom Mittwoch 7. bis zum Samstag 10. April 2021 online statt: alle Veranstaltungen sind öffentlich und kostenlos zugänglich.
Die Vorträge von Christa Brüstle und Christian Grüny sind bereits jetzt online.

Konzerte:
Donnerstag, 8.4., 20h: Betrommeltes Sprachvergnügen, Nora Gomringer und Günter Baby Sommer
Freitag, 9.4., 20h: Sarah Maria Sun, Kilian Herold, Jan-Philipp Schulze
Samstag, 10.4., 20h: ensemble proton bern: Werke von Annette Schmucki, Isabel Klaus, Daniel Ott, Lauren Redhead

Nora Gomringer, Günter Baby Sommer, Rolf Riehm, Thierry Tidrow, Adolf Wölfli, Manos Tsangaris, Münchener Biennale für Neues Musiktheater, Christa Brüstle, Christian Grüny

neo-Profiles
Heinz Holliger, Urs Peter Schneider, Roland Moser, Annette Schmucki, Daniel Ott, Neue Musik Rümlingen, Isabel Klaus, Sarah Maria Sun, ensemble proton bern

Ein Prost auf die Neue Musik!

RTR feiert den Launch von neo.mx3 mit einem Extrakonzert am 11. Oktober in Chur – zusammen mit dem Bündner Ensemble ö!. Dabei werden zahlreiche Werke von Schweizer Musikschaffenden aufgeführt. RTR zeichnet sie per Video auf und stellt sie anschliessend umgehend auf neo.mx3 und rtr.ch/musica zur Verfügung.

Thomas Meyer im Gespräch mit dem Geiger und Komponisten David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter des Ensemble ö!.


Asia Ahmetjanova, La voix, UA ensemble ö!, Chur 2020

Seit 2002 existiert das Ensemble ö! Es entstand damals aus einem ebenfalls von Ihnen 1991 gegründeten Streicherensemble (Musicuria). Sie waren damals noch im Gymnasium… Was war Ihr Anliegen?

Schon bei Musicuria integrierten wir in jedem Programm ein Stück Neue Musik, ja manchmal auch eine Uraufführung. Das Interesse verlagerte sich dann immer mehr in diese Richtung, und schliesslich entstand daraus mit einigen Streichern von Musicuria sowie Bläsern, Klavier und Schlagzeug das neue Ensemble ö!.

David Sontòn-Caflisch & Ensemble ö!

Was bedeutet der ungewöhnliche Name?

Als ich das Ensemble präsentierte und dabei sagte, man solle den Unterschied zwischen E und U nicht mehr machen, hat die Bündner Presse das eigenwillig interpretiert: e und u ergäben zusammen eu und das werde, französisch ausgesprochen, zum ö. Ursprünglich jedoch dachte ich an das ö!, mit dem man sich im Bündnerland zuprostet. Es ist schlicht ein Prost auf die Neue Musik.

In der Programmation nehmen Sie sich jeweils bestimmte Themen vor.

Wir setzen uns pro Saison ein Thema, das wir mit sechs Programmen im Detail beleuchten. Es geht mir als künstlerischem Leiter nicht nur darum, gute Stücke auszuwählen, sondern auch gescheite Programme zu machen, die eine Geschichte erzählen und so aufgebaut sind, als gäbe es pro Abend ein grosses Stück, an dem verschiedene Komponisten beteiligt sind.


Stephanie Hänsler, Im Begriffe, ensemble ö! 2017

Die Weite des Alls und die Einzigartigkeit der Kunst..

Die laufende Saison steht unter dem Motto „Sonnen“.

…ein weites Feld. Wenn man in den Sternenhimmel schaut, vergisst man ja häufig, dass fast alle diese leuchtenden Punkt Sonnen sind. Jede von ihnen hat ihre eigene Welt, und diese Welten sind unglaublich weit voneinander entfernt. Unser nächster Nachbar schon ist über vier Lichtjahre weit weg. Das zeigt einerseits, wie klein, andererseits, wie einzigartig wir sind. Wir sind in der Lage, die Welt über Kunst bzw. über Musik zu reflektieren! Die Weite des Alls steht also neben der Einzigartigkeit der Kunst.

Diese Aspekte beleuchten Sie auf unterschiedliche Weise: Die Konzerte heissen „Lichtjahre“, „Unzugänglichkeit“, „Energie“, „Opium“… Wie gestalten Sie die Programme?

Beim Programm „Lichtjahre“ jetzt im September standen einander beispielsweise Masse und Leere gegenüber: Die Masse von einer Milliarde Sternen kann man sich gar nicht vorstellen; zwischen den Sternen aber ist eine grosse Leere. Zwei Werke des Konzerts (von Vladimir Tarnopolski und Gwyn Pritchard) sind unglaublich dicht komponiert, so dicht, dass man nicht jeder Note folgen kann, sondern nur einer Gesamtidee. Die Stücke von Luciano Berio und von Roland Moser arbeiten hingegen mit der Leere und sind sehr leise. Jenes von Marc-André Dalbavie schliesslich kombiniert beide Elemente.


Jannis Xenakis, Dikhthas, Ensemble ö! 2017

Neu ist, dass Sie für diese Programme mit einem Kuratorium zusammenarbeiten.

Bisher hatte ich mich jeweils intensiv in die Materie eingelesen. Dafür wollte ich nun Fachleute beiziehen. Dieses Jahr sind das ein Philosoph/Psychologe, ein Journalist, eine Schriftstellerin und ein Astrophysiker. Dadurch kommt viel Fachwissen zusammen, um die Themen, die ich wähle, zu vertiefen. In unserer ersten Sitzung gingen wir zusammen jedes Programm im Detail durch und liessen Aspekte aus allen Disziplinen einfliessen. Daraus entstehen dann kurze literarische Texte, die im Konzert eingeflochten werden. Ich möchte dem Publikum nichts rein Theoretisches zumuten; deshalb setzt die Schriftstellerin die Gedanken literarisch um. Die Texte regen aber auch dazu an, das nächste Stück intensiver zu erleben. Sie bilden einen roten Faden zur Musik, die immer noch im Vordergrund steht. Weiterhin gibt es vor dem Konzert Einführungen, in denen ich stärker auf die Musik eingehe.

Die Diskussionen gehen also den Konzerten voraus.

In diesem Jahr schon, es ist ein Pilotprojekt. Später wollen wir diese Sitzungstage auch für die Musiker und fürs Publikum öffnen. Das könnte mit der Zeit eine Begleitung zu den Konzerten werden.

Es handelt sich also um ein vermittelndes und interdisziplinäres Projekt…

Vielleicht eher „transdisziplinär“. Es sind mehrere Disziplinen, die die Musik vertiefen sollen. Es ist ja immer noch etwas in Mode, dass man Konzerte interdisziplinär mit Videoelementen oder Lichtevents anreichert. Das ist berechtigt, aber man muss aufpassen, dass es nicht nur eine äusserliche Ablenkung bleibt. Unsere Musik braucht eine ziemliche Konzentration und soll intelligent kombiniert werden. Da kann man nicht bloss Unterhaltungselemente hinzufügen.

Drei Komponisten tauchen mehrmals auf: der Franzose Tristan Murail, der Österreicher Klaus Lang und der 2017 verstorbene Schweizer Klaus Huber.

Murail schreibt eine sehr sinnliche Musik. Es ist mir wichtig, diesen Aspekt zu betonen, weil gern behauptet wird, dass Neue Musik zu abstrakt sei. Bei Lang fasziniert mich, wie er auf ganz eigene Weise musikalische Weiten schafft. Und bei Huber erinnern wir an einen grossen Schweizer Komponisten, der zurzeit nicht so häufig gespielt wird. Zeitlebens hat er sich mit der Rolle des kleinen Menschen im Universum auseinandergesetzt. Bei seinem Flötensolostück „Ein Hauch von Unzeit“ hat er übrigens einst die Interpreten aufgefordert, neue Versionen herzustellen. Wir stellen gleich zwei neue Ensemblefassungen davon vor.


Klaus Huber, Ein Hauch von Unzeit IV (Fassung für Sopran, Klavier, Flöte, Klarinette und Orgel), Ensemble Neue Horizonte Bern, 1976

Mit den Uraufführungen von Duri Collenberg und Martin Derungs verweisen Sie auch auf Ihre Bündner Ursprünge…

Die beiden stehen für die jüngste und die älteste Generation von Bündner Komponisten, dies innerhalb der „Tuns contemporans“ (Zeitgenössische Töne), unserer Biennale, die wir vor zwei Jahren zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden gegründet haben. Wir fanden es nötig, dass sich die beiden professionellen Klangkörper des Kantons zusammenschliessen. Es soll die Schwellenangst gegenüber Neuer Musik nehmen. Der Finne Magnus Lindberg wird nächstes Mal als Composer-in-residence dabei sein.

Ladies only!

Für das Festival lancierten Sie auch einen Call for Scores… An wen richtete er sich?

An Komponistinnen jeden Alters aus aller Welt. Das Motto lautet: “Ladies only!”. Es sind 126 Partituren eingetroffen, von denen wir drei bei der Biennale aufführen. Aus diesem Riesenfundus werde ich aber sicher noch das eine oder andere in einer künftigen Saison berücksichtigen.
Interview: Thomas Meyer 

Ensemble ö!-Verbeugung

Concert spezial launch neo.mx3 &Ensemble ö!. 11. Oktober 2020:
Stephanie Hänsler: Im Begriffe, Alfred Knüsel: Mischzonen, Asia Ahmetjanova: La voix, David Sontòn Caflisch: aqua micans (danach als Video auf neo.mx3 und rtr.ch/musica).

Ensemble ö!: Saison 20/21
Tuns contemporans, Biennale für Neue Musik Chur: 9.-11. April 2021

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 11.11.20.: ö! Ensemble für neue musik, Redaktion Florian Hauser

Stephanie Haensler, Asia AhmetjanovaMagnus Lindberg, Tristan MurailVladimir Tarnopolski, Gwyn Pritchard, Klaus LangMarc-André DalbavieAsia Ahmetjanova

Neo-profiles: Ensemble ö!, David Sontòn CaflischKlaus Huber, Stephanie Hänsler, Martin Derungs, Roland Moser, Alfred Knüsel