Neue Energien: Klangkunst im Wallis

Die Biennale Son findet im Herbst 2023 zum ersten Mal statt. Mit Sion, Martigny und Sierre (und ein paar kleineren Spielorten etwas außerhalb) bespielt sie den französischsprachigen Teil des Wallis entlang der Rhône über sechs Wochen mit Klanginstallationen, Konzerten und Performances.

 

Friedemann Dupelius
Eisblau liegt auf 2.364 Metern Höhe der Lac des Dix. Seine Staumauer gilt mit 285 Metern als das höchste Bauwerk der Schweiz. Über Druckleitungen ist der Damm unter anderem mit dem Chandoline-Kraftwerk in Sion verbunden. Seit Juli 2013 fließt darin kein Wasser mehr hinab ins Rhône-Tal, die Rohre sind stillgelegt. Und doch knistert es weiter in dem modernistischen Bau, seiner Aura wegen. So stark, dass er ins Visier dreier Kuratoren geriet. Seit Mitte September ist das Kraftwerk nun die Zentrale der neuen Biennale Son. Hier erzeugen internationale Künstler:innen durch den Dialog ihrer Arbeiten mit der industriellen Architektur neue Energie. Und von hier aus versorgt die Biennale Son verschiedene Orte entlang der Rhône mit künstlerischem Strom.

 

(c) Olivier Lovey
Der Tessiner Architekt Daniele Buzzi entwarf 1934 das Kraftwerk “Chandoline”, das die Hauptausstellung der Biennale Son beherbergt.

 

Die Biennale Son präsentiert Kunstformen, die in der Romandie für gewöhnlich eher in Genf oder Lausanne stattfinden. Und doch gibt es auch hier eine Tradition und eine kleine Szene für experimentelle Musik. Seit den 90er-Jahren ist die Vereinigung Dolmen in der Region aktiv, daneben ist das etwas mehr am Pop orientierte Palp-Festival für Experimente bekannt.

 


Christian Marclay, Screenplay part 2, gespielt vom Ensemble Babel

 

Auch der klangaffine Bildende Künstler Christian Marclay kommt aus dem Wallis – genauso wie Luc Meier, Co-Kurator der Biennale Son, der sich darüber freut, dass er Marclay für die Erstausgabe des Festivals in der gemeinsamen Heimat gewinnen konnte. Der Exil-Schweizer ist mit zwei Arbeiten Teil der Hauptausstellung im Kraftwerk. Künstler:innen wie Christian Marclay sind Gründe dafür, warum die Biennale Son ins Leben gerufen wurde: „Seit langem befruchten sich Klang und Bildende Kunst gegenseitig“, sagt Luc Meier, „doch gerade in den letzten Jahren hat das nochmal deutlich zugenommen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durchlässiger. Das zeigt sich auch in Begriffen, die neuerdings in den Kunstdiskurs geschwappt sind: Man spricht etwa davon, sich auf andere, nicht-menschliche Lebensformen einzuschwingen oder mit der Umwelt zu resonieren.“

 

Die Basilique Valère auf dem südlichen Burghügel von Sion

 

Himmelblaue Rhône, spätgotische Orgel

Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und ihres Wandels ist bei einem Kunstfestival in solch einer Umgebung unvermeidbar. In Sion ist die Rhône noch himmelblau, wirkt frisch und gesund, malerisch eingebettet in die kantigen Gebirgszüge am Horizont. Doch machen sich klimatische Veränderungen auch hier bemerkbar. Der Rhône-Gletscher ist seit vielen Jahren im Rückgang begriffen. So mikrofonierte die kanadische Klangkünstlerin Crys Cole den Grande Dixence-Staudamm und brachte den tönenden Geist des Wassers wieder in das ansonsten spukend leere Kraftwerk zurück. Und auf organisatorischer Ebene versucht die Biennale Son, ihren eigenen ökologischen Fußabdruck in den Alpen möglichst gering zu halten. Sie hält Flugzeugreisen minimal und achtet auf möglichst geringen Stromverbrauch und Materialverschleiß.

Neben Stauseen und Bergen mit Gipfelkreuzen prägen Kirchen das Landschaftsbild im Wallis. „Es ist ein traditionell katholischer Kanton und religiöser als andere Orte in der Romandie“, weiß Luc Meier. In einigen der Kapellen und Basiliken fand die Biennale Son ihre Spielorte. Meier vergleicht sie mit dem Kraftwerk in Sion: „Ohne esoterisch klingen zu wollen, aber auch in diesen Kirchen gibt es eine Art von Energie, die sich transformieren lässt. So wie wir das Kraftwerk in Schwingung versetzen können, können wir auch diese Kirchen neu resonieren lassen.“ In der Sioner Basilique de Valère findet sich eine der ältesten Orgeln der Welt, fast 600 Jahre alt. Wenn das queere Duo Judith Hamann und James Rushford dieses Instrument spielen darf, wird die Floskel von der Transformation dringlich und greifbar. „Wer durfte hier bislang eintreten? Wer durfte hier Musik machen?“, fragt Luc Meier. „Welches Echo werden solche Performances haben? In den Bergen um uns, aber auch in den sozialen Räumen, die wir dabei schaffen?“

 

Die Schwalbennestorgel der Basilique de Valère wurde 1435 gebaut

 

Begegnungen im Rhône-Tal

Diese Orte der Begegnung sind tatsächlich erst im Entstehen begriffen. Das Team der Biennale Son verlässt sich auf ein allgemein kunst- und musikinteressiertes Schweizer Publikum, das den Weg in die Alpen nicht scheut. Zugleich sieht Luc Meier aber auch das Potenzial, ein lokales Publikum neugierig zu machen. Außerdem habe das kuratorische Team darauf geachtet, dass die Live-Performances an Freitagen und Samstagen stattfinden. In Locations wie Jazzclubs und Theatern treten nahmafte Künstler:innen wie Saâdane Afif, Félicia Atkinson, Alvin Curran, David Toop oder Kassel Jaeger auf. Und wer sich eingehender mit der Geschichte klangbasierter Kunst beschäftigen möchte, kann die Ausstellung der Sammlung FRAC Franche-Comté aus dem französischen Besançon in der Médiathèque Martigny besuchen.

 


Das Eklekto Geneva Percussion Center spielt Choeur Mixte für 15 snare drums (2018) von Alexandre Babel. Beide sind zu Gast bei der Biennale Son.

 

Und dann ist da noch die Hochschule Édhéa (École de design et haute école d’art du Valais). Im beschaulichen Sierre kann man mittlerweile einen künstlerischen Bachelor explizit im Bereich Klang studieren. Studierende und Alumni der Édhéa sind aktiv an der Biennale Son beteiligt, hinter den Kulissen und als Ausführende: Claire Frachebourg hat quer durch den Keller des Kraftwerks eine Skulptur gezogen, die an ein Boot oder eine Mumie erinnert. Den Soundtrack zum Objekt hat Frachebourg während einer Künstlerinnen-Residenz auf einem Boot aufgenommen, das von Island nach Grönland fuhr. Noch mehr klingendes Wasser, noch mehr Power fürs Kraftwerk, das endlich wieder tun darf, wofür es einst gebaut wurde: Energie erzeugen und verteilen.
Friedemann Dupelius

Biennale Son, 16.9.-29.10., Wallis
Der Podcast der Biennale Son führt ins Programm ein
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Alexandre BabelEklektoFrançois BonnetEnsemble Babel

Empathisches Spekulieren: Magda Drozd

Die Zürcher Klangkünstlerin und Musikerin Magda Drozd setzt sich in Beziehung zu den Klängen und Wesen ihrer Umwelt. Dabei arbeitet sie genauso erkenntnisgeleitet und reflektiert wie spekulativ und fantastisch. Im Frühjahr 2023 erschien ihr drittes Album „Viscera“. Derweil komponiert sie Musik für Theater und Hörspiel und tritt auch als Solo-Performin in experimentellen Soundkontexten zwischen den Szenen in Erscheinung.

Friedemann Dupelius
Welche Musik würde eine Aloe Vera hören? Wozu möchte der Gummibaum im Wohnzimmer tanzen? Wäre die Playlist des Kaktus auf dem Fenstersims gespickt mit Piek Time Hits? Darüber können wir nur spekulieren. Die Zürcherin Magda Drozd hat ein ganzes Album darüber geschrieben: „Songs for Plants“ erschien Ende 2019 auf dem Luzerner Label „Präsens Editionen“ und passte nur zu gut in die Zeit, in der gefühlt alle zu Heimgärtner:innen mutierten.

 

Für die Sound-Installation “Intra-Action / Traces” (2017) zapfte Magda Drozd 200 selbst gezüchtete Kakteen an und machte ihre Klänge hörbar.

 

Ausgangspunkt war ein Kunstprojekt, das für Magda Drozd zunächst darin bestand, 200 Kakteen zu züchten. Zwei Jahre später war eine Klanginstallation daraus gewachsen: „Intra-Action / Traces“. An der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) besuchte die Künstlerin das von Marcus Maeder initiierte „treelab“. Dort fand sie die technischen Behelfsmittel, um die Klänge unterschiedlichster Pflanzen hörbar zu machen. Eine feine Nadel nimmt die Bewegungen von Flüssigkeiten in den Kapillaren (quasi den Adern) der Pflanzen ab. Mehrere Verstärker und eine Software transponieren das Innere der Pflanze dann in den menschlichen Hörbereich. Je durstiger eine Pflanze ist, desto mehr Luftblasen bewegen sich in ihren Kapillaren und desto lauter sind ihre nun klickartigen Laute.

Klänge zwischen Kapillaren und Spiel

Magda Drozd interessierte sich nicht nur für die Bioakustik der Kakteen, sondern auch für ihre eigene Position als Mensch in Bezug auf diese so andersartigen Lebewesen. Dabei ist ihr klar, dass bereits der Schritt der Transponierung ein künstlicher Kniff ist. „Ich repräsentiere die Pflanzen nicht und versuche auch nicht, so gut wie möglich ihren Klang darzustellen. Es ist letztendlich ein Spiel mit dem Material.“

Magda Drozd · Weaving into shoresDie Klanginstallation „Weaving into shores“ kombiniert Aufnahmen vom Zürichsee mit Drones aus Synthesizern und von der Violine. Wie hören wir dem See zu? Was bedeutet er für uns?

Mit den fertigen Kaktus-Instrumenten trat Magda Drozd nun ins Spiel. Sie goss die Gewächse, hörte auf deren Reaktion und bezog auch die Klänge der Erde und Keramik, wenn sie diese berührte, mit ein. „Daraus entsteht erst mal ein Klangteppich. Ich arbeite dann viel mit Frequenzverschiebungen. Unterschiedliche Aufnahmen verändere ich so, dass man nur noch eine Frequenz hört. Dann lege ich Effekte darüber und langsam entsteht aus dem Material, das nur vermeintlich die Pflanze ist, Musik.“ Diese speist sich auch aus Rhythmen oder Melodien, die sich aus den Kapillar-Klängen erkennen lassen, und die Drozd mit Synthesizern oder ihrem Herzensinstrument – der Geige – weiterspinnt. Nicht ohne Grund heißt das resultierende Album dann auch „Songs for Plants“ und nicht „Songs by Plants“.


„Painkiller“ vom Album „Songs for Plants“

 

Magda Drozd wurde 1987 in Polen geboren, wuchs in München auf und zog 2011 nach Zürich, um Theater-Dramaturgie und später Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste zu studieren. Von Theater und Performance fand sie den Weg zur Klangkunst und der experimentellen Musik. Die verschiedenen Kunstformen und ihre Formate durchdringen und vermischen sich in ihren Arbeiten. Von 2019 bis 2021 war sie „Research Fellow“ an der ZhdK und beschäftigte sich mit Klang und Hören als Mittel der Wissensproduktion. In diese Zeit fiel auch die Arbeit an ihrem zweiten Album „18 Floors“. Der Titel bezieht sich auf das Lochergut-Hochhaus in Zürich, in dem die Künstlerin damals wohnte. Sie horchte das Gebäude und seine 18 Stockwerke in allen (ihr zugänglichen) Nischen und Winkeln ab und hielt viele Hörmomente in Fieldrecordings fest. Daraus ergaben sich Fragen wie: Was heißt urbanes Zusammenleben auf engstem Raum? Inwiefern kann man ein Wohngebäude als lebendigen Organismus verstehen? Welches Wissen kann aus genauem Hinhören an einem Ort generiert werden?“


„Dreamy Monster“ vom Album „18 Floors“

 

Hören zwischen Erkenntnis und Spekulation

„Wissen, das sich über Sound vermittelt, ist ein anderes Wissen als das, was wir für gewöhnlich gelten lassen. Es ist fragil, fluide und ephemer. Und es führte mich bald zur Spekulation. Ich habe ja nicht die Gespräche in diesem Haus aufgenommen, sondern seine harten Materialien.“ So ist „18 Floors“ zugleich die Dokumentation eines minutiösen, erkenntnisgeleiteten Hörprozesses – und die in Musik gefasste Spekulation über all die Geschichten, Wesen und geheimen Abläufe, die ein Betongebäude in sich birgt. „Mir ging es nicht darum, jeden Sound einer bestimmten Ecke oder Etage in dem Haus zuzuordnen. Ich habe vieles vermischt. Das ist für mich diese Spekulation: Es entsteht etwas Neues, das unsere Fantasie anregt: Okay, auch das kann ein Haus sein, auch so kann es klingen. Dabei geht es auch darum, durch das Hören empathisch zu werden, durch die Musik auch einen emotionalen Zugang zu einem möglichen Wissen zu bekommen.“ Zunächst sollte „18 Floors“ die Gestalt einer konzeptuellen Performance annehmen. Dass daraus ein Musikalbum wurde hat Magda Drozd der Klangkünstlerin und -forscherin Salomé Voegelin zu verdanken, mit der sie in engem Austausch stand.

 

2022 beschäftigten sich Magda Drozd und Salomé Voegelin in einer Performance mit dem Zürcher Kräutergarten von Conrad Gessner aus dem 16. Jahrhundert und unserer heutigen vieldeutigen Beziehung zu Heilpflanzen.

 

Mit ihren Arbeiten bewegt sich Magda Drozd in verschiedenen Disziplinen und Formaten: Soundinstallation, Theaterperformance, Hörspielmusik, Komposition, Forschung. „Ich bewege mich zwischen den Szenen und fühle mich da auch wohl. Das ist auch manchmal anstrengend, aber je länger ich aktiv bin, desto mehr wissen die Leute, was ich mache.“

Die Leute, die sie schon sehr lange kennen – namentlich ihre deutschen Freund:innen – sagen, Magda spräche mittlerweile in Schweizer Sprachmelodie. Das will sie so nicht stehen lassen – und auch im Gespräch mit ihr erkennt das am Süddeutschen geschulte Autorenohr nichts dergleichen. Aber vielleicht ist auch etwas dran: Zwischen und über all die herausfordernden, forschenden, schwebenden und schürfenden Soundpassagen schieben sich immer wieder Melodien – das ist selten genug in experimenteller, an Klangkunst orientierter Musik. „Ich habe keine Angst vor ein bisschen Kitsch oder emotionalen Momenten. Für mich spiegelt sich darin das Leben wieder: Es gibt Ecken und Kanten, und es gibt die runden Momente, in denen man sich von einer Melodie treiben lassen kann. Wenn ich dabei die Geige benutze ist es immer eine feine Gratwanderung, nicht zu pathetisch zu werden. Generell glaube ich, dass Melodien auch in experimenteller Musik wieder mehr im Trend liegen.“


Magda Drozd: Clipped Wings vom Album Viscera

Am Unverblümtesten hört man sie in Magda Drozds neuestem Album „Viscera“. Auch hier eröffnet der Titel wieder spekulative Räume. Musik für Eingeweide? Der Klang des Körpers? Oder vielleicht diesmal: „Songs for Humans“? Es darf weiter spekuliert werden.
Friedemann Dupelius

Konzerte & Performances
20.+23.06.23 – Musik für Charlotte Mathiessen: Der Boden ist verhältnismässig hart – ein performativer Spaziergang oder ein Protestmarsch (ZHdK Zürich)

08.07.23 – Musik für die Performance „Warp“ von Nicola Genovese (Fondazione Teatro, Lugano)

Mit Katja Brunner als Paula Rot (Spoken Word trifft auf Sound Scape):
24.06.23 – Sofalesungen, Basel
09.07.23 – 
Hinterhalt-Festival, Uster 

Solo-Konzerte
19.08.23 – Les Digitales, Luzern
25.08.23 – Natures of Pop Festival, ZHdK Zürich
09.09.23 – Les Digitales, Biel

Magda Drozd
Songs for Plants (Präsens Editionen, 2019)
18 Floors (Präsens Editionen, 2021)
Viscera (Präsens Editionen, 2023)

neo-Profile:
Magda Drozd