Zeitbrücken über Epochengrenzen

20 Jahre lang gibt es sie schon: das Basler Klavierquartett Mondrian feiert Jubiläum. Wie gut, dass einige der zu diesem Anlass geplanten Konzerte nun tatsächlich stattfinden können.

Ensemble Mondrian ©zVg Ensemble Mondrian


Friederike Kenneweg
Durchwachsen, das war die diesjährige Konzertsaison nicht nur für das Mondrian Ensemble: allzuviele Veranstaltungen wurden abgesagt, verschoben oder mussten als Live-Stream online stattfinden. Doch für die vier Musikerinnen Tamriko Kordzaia (Klavier), Ivana Pristašová (Violine), Petra Ackermann (Viola) und Karolina Öhmann (Violoncello) war das noch mal extra bitter. Denn ausgerechnet 2020 und 2021 wollten sie das 20jährige Bestehen ihres Ensembles begehen. Das Jubiläumskonzert im Herbst 2020 konnte noch mit wenig anwesendem Publikum stattfinden. Die Veranstaltung aus dem Walcheturm in Zürich musste dann aber doch gestreamt werden. Der Vorteil: dadurch ist das Ereignis noch immer für alle online zugänglich.

 

Verbindungslinien zwischen den Epochen

Klassisch-Romantisches und Zeitgenössisches zusammenzubringen, das ist seit 20 Jahren charakteristisch für das Mondrian Ensemble. Dies zeigte sich auch im Jubiläumsprogramm. Ein Streichtrio von Schubert und vier Fantasiestücke von Schumann wurden mit Werken von Martin Jaggi (*1978), Jannik Giger (*1985) und Madli Marje Gildemann (*1994)  kombiniert. Auf diese Weise werden Verbindungslinien zwischen den Epochen wahrnehmbar,  aber auch Kontaste und Weiterentwicklungen treten umso klarer hervor. Dadurch, dass sich die vier Musikerinnen nicht auf eine Epoche festlegen, sondern die gesamte Musikgeschichte bis hin zur Jetztzeit als Material für ihre Konzertprogramme betrachten, fördern sie immer wieder Erstaunliches zutage – zum Beispiel Parallelen zwischen der melancholischen Schönheit englischer Renaissancemusik und dem langsamen Pulsieren eines Stücks des Österreichers Klaus Lang. Oder sie ermöglichen dem Publikum eine ganz eigene Art der Zeiterfahrung, wenn sie ein Klaviertrio von Schubert und ein Klavierquartett von Morton Feldman unmittelbar hintereinander zu Gehör bringen.

Wichtig ist dem Ensemble außerdem, zeitgenössische Kompositionen ins Repertoire aufzunehmen. Da das Ensemble sie über Jahre hinweg bei verschiedenen Gelegenheiten spielt, entwickeln und entfalten sich diese Stücke wie Interpretationen von klassischen Werken. Das ist im mehrheitlich auf Uraufführungen fokussierten Neue-Musikbetrieb sonst kaum möglich.

Die vier Musikerinnen legen außerdem Wert darauf, eng mit den Komponist*innen zusammen zu arbeiten – teilweise über lange Zeiträume hinweg. Mit Dieter Ammann zum Beispiel ist das Mondrian Ensemble schon seit der unmittelbaren Anfangszeit verbunden. Die Arbeit an der Uraufführung seines Streichtrios Gehörte Form aus dem Jahr 1998 führte überhaupt erst dazu, dass sich die Gründungsmitglieder Daniela Müller an der Violine, Christian Zgraggen an der Bratsche und Martin Jaggi am Cello schließlich im Jahr 2000 zu einem Ensemble zusammen fanden.

 


Dieter Ammann, Gehörte Form – Hommages für Streichtrio 1998, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Mit Walter Zoller am Klavier wurde es ihnen möglich, sowohl Streich- und Klaviertrios als auch Klavierquartette aus allen Epochen miteinander aufzuführen. Die Flexibilität, die diese Art der Besetzung mit sich bringt, nutzt das Ensemble bis heute weidlich bei der Programmgestaltung aus. So finden sich darin auch Soli oder Duette in den unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten.

 

Unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten

Ein weiterer Komponist, der das Ensemble schon lange begleitet, ist Jannik Giger aus Basel. Die erste gemeinsame Arbeit war das Stück „Intime Skizzen“. Jannik Giger begleitete die Musikerinnen beim Einstudieren von kompositorischen Skizzen von Leoš Janáček mit der Kamera. Das fertige Werk bietet über eine Videoleinwand Einblicke in die Probenräume der Musikerinnen, die vom Aneignungsprozess des Stückes erzählten. Dazu spielt das Ensemble live die Janáček-Fragmente und Ergänzungen, die Jannik Giger dazu komponiert hatte. Inzwischen gehört auch das Klaviertrio Caprice aus dem Jahr 2013 sowie das Streichtrio Vertige von Jannik Giger zum festen Repertoire des Ensembles.

Jannik Giger, Vertige für Streichtrio 2020

 

Mit dem östereichischen Komponisten Thomas Wally hat das Ensemble nicht nur eine Portrait-CD  aufgenommen, (Jusqu’à l’aurore, col legno 2020), sondern es wird auch im Mai gemeinsam mit ihm auf der Bühne stehen. Denn Wally komponiert nicht nur, sondern ist auch Violinist. Bei den anstehenden Konzerten ergänzt er Ivana Pristašová, Petra Ackermann und Karolina Öhmann zum Streichquartett. Im Programm BLACK ANGELS bringen sie das gleichnamige Stück von George Crumb aus dem Jahr 1970 zu Gehör, das Bezug auf den Vietnamkrieg nimmt. Die Streichinstrumente werden hier elektronisch verstärkt. Klänge vom Tonband kommen zum Streichquartett in Steve Reichs Komposition Different trains aus dem Jahr 1988 dazu. Different trains nimmt ebenfalls das Thema Krieg in den Blick – reflektiert anhand der Bedeutung, die Züge zur Zeit um den zweiten Weltkrieg hatten.

 

50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz – zum Einsatz kommt ein bespielbarer Backofen

 

Um 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz kreist ein Programm, das für den Herbst 2021 geplant ist. Einen ersten Einblick gibt es schon am 4. Juni, wenn das Stück Garzeit des Künstlerduos LAUTESkollektiv zur Uraufführung kommt.

LAUTESkollektiv 2x Haensler ©zVg Stefanie Haensler

LAUTESkollektiv, dahinter verbergen sich die Komponistin Stephanie Haensler (*1986) und die Designerin Laura Haensler. Garzeit ist ein mehrteiliges Klavierquartett, in dem nicht nur die gewohnten Instrumente des Mondrian Ensembles  zum Einsatz kommen, sondern auch ein bespielbarer Backofen. Dieser transportiert einen Teil der Ästhetik und Lebensrealität der Frauen um 1971. Schalter, Hebel und Knöpfe werden während der Komposition von den Musikerinnen bedient und nehmen auf das Klanggeschehen Einfluss.

 


Stephanie Haensler: Ein Schnitt für Streichquintett 2019, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im vollständigen Programm werden darüber hinaus Stücke von Komponistinnen verschiedener Epochen und Generationen zu hören sein – von Clara Schumann (1819-1896) über Elfrida Andrée (1841-1929) und die fast vergessene St. Galler Komponistin und Dichterin Olga Diener (1890-1963) bis hin zu Rebecca Saunders (*1967) und Katharina Rosenberger (*1971).

Auf 2022 verlegt wurde das Programm des Mondrian Ensembles, in dem das Stück the ocarina chapter von Christoph Gallio uraufgeführt werden sollte – ein Auftrag des Mondrian Ensembles an den Schweizer Komponisten. Geplant war das Konzert als Begegnung des Ensembles mit dem Stimmkünstler Theo Bleckmann aus New York – ein künstlerisches Zusammentreffen, wie es die Situation momentan leider nicht erlaubt.
Friederike Kenneweg

 

Ensemble Mondrian ©zVg Ensemble Mondrian

 

BLACK ANGELS, das Jubiläumsprogramm mit Thomas Wally kommt nochmals am 7. Und 8. Mai zur Aufführung (Gare du Nord Basel, Kunstraum Walcheturm Zürich).

Die Uraufführung von Garzeit findet am 4. Juni im Historische Museum in Baden statt. Die Uraufführungstournee (Zürich, St. Gallen, Chur, Basel) dauert bis zum 1. November 2021.

Die Tournee mit einer Uraufführung von Christoph Gallio wurde auf 2022 verschoben.

 

Thomas WallyIvana PristašováGeorge Crumb, Steve Reich, Madli Marje Gildemann, Klaus Lang, Morton Feldman, Daniela MüllerWalter Zoller, Leoš Janáček, col legno, Laura HaenslerOlga Diener, Clara Schumann, Rebecca Saunders, Elfrida Andrée, Theo Bleckmann

 

Sendung SRF 2 Kultur:
Blick in die Feuilletons, 8.12.20, 20 Jahre mutige Kammermusik – das Mondrian Ensemble hat etwas zu feiern (ab Min 24): Ein Portrait von Gabrielle Weber

 

Neo-Profiles:
Mondrian Ensemble, Tamriko Kordzaia, Karolina Öhman, Petra Ackermann, George Crumb, Klaus LangMartin Jaggi, Jannik Giger, Dieter Ammann, Stephanie Haensler, Katharina Rosenberger, Christoph Gallio, Gare du Nord, Kunstraum Walcheturm

 

Ein Prost auf die Neue Musik!

RTR feiert den Launch von neo.mx3 mit einem Extrakonzert am 11. Oktober in Chur – zusammen mit dem Bündner Ensemble ö!. Dabei werden zahlreiche Werke von Schweizer Musikschaffenden aufgeführt. RTR zeichnet sie per Video auf und stellt sie anschliessend umgehend auf neo.mx3 und rtr.ch/musica zur Verfügung.

Thomas Meyer im Gespräch mit dem Geiger und Komponisten David Sontòn Caflisch, künstlerischer Leiter des Ensemble ö!.


Asia Ahmetjanova, La voix, UA ensemble ö!, Chur 2020

Seit 2002 existiert das Ensemble ö! Es entstand damals aus einem ebenfalls von Ihnen 1991 gegründeten Streicherensemble (Musicuria). Sie waren damals noch im Gymnasium… Was war Ihr Anliegen?

Schon bei Musicuria integrierten wir in jedem Programm ein Stück Neue Musik, ja manchmal auch eine Uraufführung. Das Interesse verlagerte sich dann immer mehr in diese Richtung, und schliesslich entstand daraus mit einigen Streichern von Musicuria sowie Bläsern, Klavier und Schlagzeug das neue Ensemble ö!.

David Sontòn-Caflisch & Ensemble ö!

Was bedeutet der ungewöhnliche Name?

Als ich das Ensemble präsentierte und dabei sagte, man solle den Unterschied zwischen E und U nicht mehr machen, hat die Bündner Presse das eigenwillig interpretiert: e und u ergäben zusammen eu und das werde, französisch ausgesprochen, zum ö. Ursprünglich jedoch dachte ich an das ö!, mit dem man sich im Bündnerland zuprostet. Es ist schlicht ein Prost auf die Neue Musik.

In der Programmation nehmen Sie sich jeweils bestimmte Themen vor.

Wir setzen uns pro Saison ein Thema, das wir mit sechs Programmen im Detail beleuchten. Es geht mir als künstlerischem Leiter nicht nur darum, gute Stücke auszuwählen, sondern auch gescheite Programme zu machen, die eine Geschichte erzählen und so aufgebaut sind, als gäbe es pro Abend ein grosses Stück, an dem verschiedene Komponisten beteiligt sind.


Stephanie Hänsler, Im Begriffe, ensemble ö! 2017

Die Weite des Alls und die Einzigartigkeit der Kunst..

Die laufende Saison steht unter dem Motto „Sonnen“.

…ein weites Feld. Wenn man in den Sternenhimmel schaut, vergisst man ja häufig, dass fast alle diese leuchtenden Punkt Sonnen sind. Jede von ihnen hat ihre eigene Welt, und diese Welten sind unglaublich weit voneinander entfernt. Unser nächster Nachbar schon ist über vier Lichtjahre weit weg. Das zeigt einerseits, wie klein, andererseits, wie einzigartig wir sind. Wir sind in der Lage, die Welt über Kunst bzw. über Musik zu reflektieren! Die Weite des Alls steht also neben der Einzigartigkeit der Kunst.

Diese Aspekte beleuchten Sie auf unterschiedliche Weise: Die Konzerte heissen „Lichtjahre“, „Unzugänglichkeit“, „Energie“, „Opium“… Wie gestalten Sie die Programme?

Beim Programm „Lichtjahre“ jetzt im September standen einander beispielsweise Masse und Leere gegenüber: Die Masse von einer Milliarde Sternen kann man sich gar nicht vorstellen; zwischen den Sternen aber ist eine grosse Leere. Zwei Werke des Konzerts (von Vladimir Tarnopolski und Gwyn Pritchard) sind unglaublich dicht komponiert, so dicht, dass man nicht jeder Note folgen kann, sondern nur einer Gesamtidee. Die Stücke von Luciano Berio und von Roland Moser arbeiten hingegen mit der Leere und sind sehr leise. Jenes von Marc-André Dalbavie schliesslich kombiniert beide Elemente.


Jannis Xenakis, Dikhthas, Ensemble ö! 2017

Neu ist, dass Sie für diese Programme mit einem Kuratorium zusammenarbeiten.

Bisher hatte ich mich jeweils intensiv in die Materie eingelesen. Dafür wollte ich nun Fachleute beiziehen. Dieses Jahr sind das ein Philosoph/Psychologe, ein Journalist, eine Schriftstellerin und ein Astrophysiker. Dadurch kommt viel Fachwissen zusammen, um die Themen, die ich wähle, zu vertiefen. In unserer ersten Sitzung gingen wir zusammen jedes Programm im Detail durch und liessen Aspekte aus allen Disziplinen einfliessen. Daraus entstehen dann kurze literarische Texte, die im Konzert eingeflochten werden. Ich möchte dem Publikum nichts rein Theoretisches zumuten; deshalb setzt die Schriftstellerin die Gedanken literarisch um. Die Texte regen aber auch dazu an, das nächste Stück intensiver zu erleben. Sie bilden einen roten Faden zur Musik, die immer noch im Vordergrund steht. Weiterhin gibt es vor dem Konzert Einführungen, in denen ich stärker auf die Musik eingehe.

Die Diskussionen gehen also den Konzerten voraus.

In diesem Jahr schon, es ist ein Pilotprojekt. Später wollen wir diese Sitzungstage auch für die Musiker und fürs Publikum öffnen. Das könnte mit der Zeit eine Begleitung zu den Konzerten werden.

Es handelt sich also um ein vermittelndes und interdisziplinäres Projekt…

Vielleicht eher „transdisziplinär“. Es sind mehrere Disziplinen, die die Musik vertiefen sollen. Es ist ja immer noch etwas in Mode, dass man Konzerte interdisziplinär mit Videoelementen oder Lichtevents anreichert. Das ist berechtigt, aber man muss aufpassen, dass es nicht nur eine äusserliche Ablenkung bleibt. Unsere Musik braucht eine ziemliche Konzentration und soll intelligent kombiniert werden. Da kann man nicht bloss Unterhaltungselemente hinzufügen.

Drei Komponisten tauchen mehrmals auf: der Franzose Tristan Murail, der Österreicher Klaus Lang und der 2017 verstorbene Schweizer Klaus Huber.

Murail schreibt eine sehr sinnliche Musik. Es ist mir wichtig, diesen Aspekt zu betonen, weil gern behauptet wird, dass Neue Musik zu abstrakt sei. Bei Lang fasziniert mich, wie er auf ganz eigene Weise musikalische Weiten schafft. Und bei Huber erinnern wir an einen grossen Schweizer Komponisten, der zurzeit nicht so häufig gespielt wird. Zeitlebens hat er sich mit der Rolle des kleinen Menschen im Universum auseinandergesetzt. Bei seinem Flötensolostück „Ein Hauch von Unzeit“ hat er übrigens einst die Interpreten aufgefordert, neue Versionen herzustellen. Wir stellen gleich zwei neue Ensemblefassungen davon vor.


Klaus Huber, Ein Hauch von Unzeit IV (Fassung für Sopran, Klavier, Flöte, Klarinette und Orgel), Ensemble Neue Horizonte Bern, 1976

Mit den Uraufführungen von Duri Collenberg und Martin Derungs verweisen Sie auch auf Ihre Bündner Ursprünge…

Die beiden stehen für die jüngste und die älteste Generation von Bündner Komponisten, dies innerhalb der „Tuns contemporans“ (Zeitgenössische Töne), unserer Biennale, die wir vor zwei Jahren zusammen mit der Kammerphilharmonie Graubünden gegründet haben. Wir fanden es nötig, dass sich die beiden professionellen Klangkörper des Kantons zusammenschliessen. Es soll die Schwellenangst gegenüber Neuer Musik nehmen. Der Finne Magnus Lindberg wird nächstes Mal als Composer-in-residence dabei sein.

Ladies only!

Für das Festival lancierten Sie auch einen Call for Scores… An wen richtete er sich?

An Komponistinnen jeden Alters aus aller Welt. Das Motto lautet: “Ladies only!”. Es sind 126 Partituren eingetroffen, von denen wir drei bei der Biennale aufführen. Aus diesem Riesenfundus werde ich aber sicher noch das eine oder andere in einer künftigen Saison berücksichtigen.
Interview: Thomas Meyer 

Ensemble ö!-Verbeugung

Concert spezial launch neo.mx3 &Ensemble ö!. 11. Oktober 2020:
Stephanie Hänsler: Im Begriffe, Alfred Knüsel: Mischzonen, Asia Ahmetjanova: La voix, David Sontòn Caflisch: aqua micans (danach als Video auf neo.mx3 und rtr.ch/musica).

Ensemble ö!: Saison 20/21
Tuns contemporans, Biennale für Neue Musik Chur: 9.-11. April 2021

Sendung SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 11.11.20.: ö! Ensemble für neue musik, Redaktion Florian Hauser

Stephanie Haensler, Asia AhmetjanovaMagnus Lindberg, Tristan MurailVladimir Tarnopolski, Gwyn Pritchard, Klaus LangMarc-André DalbavieAsia Ahmetjanova

Neo-profiles: Ensemble ö!, David Sontòn CaflischKlaus Huber, Stephanie Hänsler, Martin Derungs, Roland Moser, Alfred Knüsel

“..spielen bis wir umfallen..”

 

Portrait Urs Peter Schneider ©Aart-Version lagr

Im Rahmen von Focus Contemporary feiert das Musikpodium der Stadt Zürich  den 80. Geburtstag von Urs Peter Schneider.
Hommage an ein ‘querköpfiges Unikat’ von Thomas Meyer:

Die 60er Jahre waren eine höchst bewegte Zeit für die Musik. Die Formen lösten sich auf. Konzepte, Happenings, Performances, Aleatorik und Improvisation traten an die Stelle fix auskomponierter Werke. Während bald jedoch viele wieder zum althergebrachten Handwerk zurückkehrten, verschrieb sich eine Gruppe hierzulande hartnäckig dieser Offenheit: das Ensemble Neue Horizonte Bern, gegründet 1968 und bis heute unverdrossen bestehend. «Wir werden», so sagte ein Ensemblemitglied einmal im Gespräch, «spielen, bis wir umfallen.» Ohne sie gäbe es wohl keine Cage-Tradition in der Schweiz und auch wenig Konzeptmusik auf enger Flur.

Ensemble Neue Horizonte Bern

Schweizer Cage-Tradition

In diesem Kollektiv aus KomponistInnen und InterpretInnen nimmt einer seit Beginn die besondere Position des Spiritus rector ein: Urs Peter Schneider, der heuer seinen Achtzigsten feiert, geboren in Bern, heute in Biel lebend und fröhlich weiter schaffend mit Kompositionen, Texten, Gebilden und Konzepten. Ihm zu Ehren veranstaltet das Musikpodium Zürich im Rahmen von Focus Contemporary ein Konzert: Dominik Blum spielt Klavierstücke von ihm, vom Neue-Horizonte-Kollegen Peter Streiff sowie von Hermann Meier, für dessen fast vergessenes Werk sich Schneider nachhaltig eingesetzt hat. Ausserdem singt der Chor vokativ zürich neben dem „Chorbuch“ von 1977 die neuen „Engelszungenreden“. Der Titel verweist darauf, dass Schneiders Musik auch gern ins Spirituelle hinaufgreift.


Hermann Meier, Klavierstück für Urs Peter Schneider, HMV 99, 1987

Komponist/Pianist/Interpret/Performer/Pädagoge in einem, ist Schneider eines dieser querköpfigen Unikate, wie es sie gerade auch in der Schweiz nicht selten gibt. Seine Musik zu beschreiben ist nicht leicht, weil sie so vielfältig sein kann, denn häufig ändert er die Verfahrensweise. Schneider arbeitet gern mit Strategien. Im Kern folgt er dabei jenen seriellen Techniken, in denen seine Musik ihre Wurzeln hat. So tüftelt er oft lange und gründlichst an den Permutationen von Tönen, Instrumenten, Lautstärken etc., bis sie endlich aufgehen. Und er entwickelt dafür eine sehr eigene, radikale Beharrlichkeitsgestik.


Urs Peter Schneider, ‘Getrost, ein leiser Abschied’ für zwei Traversflöten und Bassblockflöte, 2015

Radikale Beharrlichkeitsgestik

Es bleibt allerdings nicht bei den Tönen. Vielmehr wendet er solche Strategien auch auf Worte an, auf Graphiken und theatralische Handlungen, ja irgendwie auf alles, was sein Schaffen umgibt, bis hin zu den Datierungen, Widmungen. Auch die Konzertprogramme sind – eine wichtige Qualität überhaupt der Neuen Horizonte – komponiert. „Die Bestandteile einer Darbietung relativieren, ergänzen, kommentieren sich gegenseitig in ausgeklügelter Weise.“ Ebenso fügt er, wenn er Bücher oder CDs herausgibt, seine Stücke nicht einfach lose aneinander, sondern stellt aus dem gesamten Schaffen eine neue Konstellation her. Denn dieser Stratege ist besessen davon, Ordnungen herzustellen.

Urs Peter Schneider: meridian-1-atemwende ©aart-verlag

Alles wird dabei gedreht und gewendet. Ständig entdeckt/erfindet er neue Verfahren. Er ist eigentlich ein Verfahrenskomponist und damit der konzeptuellen Musik sehr nahe. Dieser Gattung widmete er 2016 das Buch «Konzeptuelle Musik – Eine kommentierte Anthologie», ein exemplarisches und unverzichtbares Kompendium.

Die Spontaneität dieser offenen Formen wirkt wohl auch als Korrektiv zur Strenge. Zuweilen könnte ja in diesen Verfahrensweisen die Lebendigkeit und Biegsamkeit verloren gehen und die Ordnung in sich selber versanden. Doch gerade dann geschieht oft Überraschendes. Denn die Werke Schneiders kennen Witz, ja Heiterkeit. Zuweilen an ungewohnter Stelle, gelegentlich mit wohltuender Selbstironie.
Thomas Meyer

Hermann Meier, Stück für grosses Orchester und drei Klaviere, 1964, HMV 60 ©Privatbesitz

Das Festival Focus Contemporary Zürich findet vom 27. November bis zum 1. Dezember statt: In fünf Konzerten präsentieren die Zürcher Veranstalter Tonhalle Zürich, Collegium Novum Zürich, Zürcher Hochschule der Künste und Musikpodium Zürich gemeinsam eine Auswahl zwischen jungem experimentellem Musikschaffen und Altmeistern, an Orten wie der Tonhalle Maag, dem ZKO-Haus oder dem Musikclub Mehrspur der ZHdK.

Focus Contemporary Zürich, 27. 11.- 1. 12, Konzerte:
27.11., 20h ZHdK, Musikklub Mehrspur: Y-Band: Werke von Matthieu Shlomowitz, Alexander Schubert
28.11., 19:30h Musikpodium Zürich, ZKO-Haus: Urs Peter Schneider zum Achtzigsten: Werke von Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Peter Streiff
29.11., 19:30h Tonhalle Orchester, Tonhalle Maag: Heinz Holliger zum Achtzigsten: Werke von Heinz Holliger und Bernd Alois Zimmermann
30.11., 20h Collegium Novum Zürich, Tonhalle Maag: Werke von Sergej Newski (UA), Heinz Holliger, Isabel Mundry und Mark Andre
1. 12., 11h ZHdK, Studierende der ZHdK: Werke von Heinz Holliger, Mauro Hertig, Karin Wetzel, Micha Seidenberg, Stephanie Haensler

Musikpodium ZürichAart-Verlag

Neo-profilesZürcher Hochschule der Künste, Collegium Novum Zürich, Urs Peter Schneider, Hermann Meier, Heinz HolligerPeter Streiff, Stephanie Haensler, Karin Wetzel, Gilles GrimaitreDominik Blum