Ein moderner Kapellmeister – Titus Engel

Der in Berlin lebende Schweizer Dirigent Titus Engel ist ab dieser Saison Principal Conductor der Basel Sinfonietta. Ein Portrait von Jaronas Scheurer

Jaronas Scheurer
«Es gibt diese alte Kapellmeister-Tradition: Der Kapellmeister, der sozusagen im Opernhaus lebt und die ganze Musikgeschichte dirigiert, egal was kommt, und versucht, das auf möglichst gutem Niveau zu machen. Das finde ich schon irgendwie einen tollen Ansatz.» meint der Schweizer Dirigent Titus Engel einmal im Laufe des Interviews. Dementsprechend wehrt er sich auch gegen die Bezeichnung, er sei Spezialist für Neue Musik, obwohl er ab dieser Saison neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta ist. Das einzige Orchester der Schweiz, das sich ausschliesslich auf Musik nach 1950 spezialisiert hat. «Wenn ich Neue Musik dirigiere, z.B. eine Messiaen-Oper wie diesen Sommer in Stuttgart, dann ist eine Phrasierungs-Erfahrung z.B. von Johannes Brahms hilfreich, wenn plötzlich eine Kantilene kommt. Hingegen kann die oft sehr rhythmische Neue Musik wiederum viel helfen, wenn man bei traditioneller Musik die rhythmischen Parameter wirklich auf den Punkt bringen und schleifen möchte.» Damit sind schon einige Eckpunkte von Titus Engels Schaffen abgesteckt: eine präzise Klangsprache, eine dienende Haltung gegenüber dem jeweiligen Werk und eine grosse musikalische Breite.

 

Titus Engel, neuer Principal Conductor der Basel Sinfonietta, ©Kaupo Kikkas

 

Diese musikalische Breite war schon früh vorgezeichnet. Als Jugendlicher spielte er Kontrabass und Bassisten sind damals wie heute sehr gefragt. So war er bald in den unterschiedlichsten musikalischen Kontexten unterwegs: von Bach bis Boulez oder auch in Big Bands. Nachdem Titus Engel in Zürich und Berlin Philosophie und Musikwissenschaft studiert hatte, entschied er sich für eine Laufbahn als Dirigent und studierte in Dresden bei Christian Kluttig Dirigieren. Weitere Einflüsse kamen unter anderem von Peter Eötvös, Sir Colin Davis und Sylvain Cambreling.

Michael Wertmüller: The Blade Dancer, SWR Symphonieorchester unter Titus Engel, UA 2020 an den Donaueschinger Musiktagen

 

Steile Laufbahn

Schon in seinem zweiten Studienjahr konnte Engel die Uraufführung von Benjamin Schweitzers Oper Jakob von Gunten dirigieren. Kurz darauf wurde er musikalischer Leiter des Dresdner Ensemble Courage. Es folgten Auftritte in ganz Europa an den grossen Opernhäusern und Festivals z.B. 2020 an den Donaueschinger Musiktagen. Während die zeitgenössische Musik weiterhin einen grossen Stellenwert in seinem Repertoire einnahm, trat er auch immer wieder mit klassischer Musik oder gar mit Alter Musik hervor, so z.B. mit einer vielgelobten Inszenierung von Claudio Monteverdis Oper L’Orfeo mit dem Ensemble Resonanz 2006. Weitere Highlights von Titus Engels Laufbahn sind sicher das Dirigat von Karlheinz Stockhausens Oper Donnerstag aus dem Licht-Zyklus am Theater Basel 2016 und die Wahl als «Dirigent des Jahres» 2020 durch das Fachmagazin Opernwelt. Somit ist ein weiterer Eckpunkt Engels abgesteckt: die Oper. Obwohl – es scheint zu kurz gegriffen, Titus Engel einfach als Operndirigenten abzutun: «Für meine Arbeit ist das Zusammenspiel zwischen den Künsten wichtig.» meint er dazu. «Natürlich ist die Musik primär ein akustisches Phänomen, aber weil die Musik inhaltlich oft offen ist, glaube ich, dass die Zusammenarbeit mit anderen Kunstsparten der Musik und gerade der zeitgenössischen Musik auch guttut.» Titus Engel macht sich nicht nur bei Operninszenierungen Gedanken über den visuellen und szenischen Aspekt des Auftritts.

 

Simon Steen-Andersen: TRIO, SWR Symphonieorchester (Dir. Emilio Pomàrico), SWR Vokalensemble (Leitung Michael Alber) und SWR Big Band Leitung Thorsten Wollmann), UA 2019 an den Donaueschinger Musiktage

 

Darin spiegelt sich auch ein Vermittlungsgedanke, der Titus Engel wichtig ist, gerade wenn es um zeitgenössische Musik geht: «Mir geht es nicht um Ablenkung von der Musik, die sie in ihrem Kern schwächen würde, sondern ich glaube, gerade kreative Formate, die über das normale Konzert hinausgehen, können auch für ein breiteres Publikum interessant sein und letztlich auch die Konzentration auf die Musik schärfen.» So wird auch in der kommenden Saison der Basel Sinfonietta das konventionelle Konzertformat immer wieder gesprengt.  Beim Eröffnungskonzert am 1. Oktober 2023 wird das Stück TRIO von Simon Steen-Andersen gespielt, in dem sich ein humorvoller Dialog zwischen Videoaufnahmen von Orchesterproben und dem real spielenden Orchester entspinnt. Am 26. April 2024 spielen die Basel Sinfonietta und die Band des Zürcher Jazzpianisten Nik Bärtsch eine Neukomposition von Bärtsch, bei der das Lichtdesign eine wichtige Rolle spielen wird. Und am Schlusskonzert der Saison im Juni 2024, bei der ausschliesslich Kompositionen von Frauen gespielt werden, tritt die junge spanische Komponistin Gemma Ragués Pujol als Performerin auf und das Publikum kann beim Werk Earth Plays V von Cathy Milliken auf fossilen Steinen mitspielen. Video, Licht, Performance-Kunst oder Publikumspartizipation – für Titus Engel dürfen die Grenzen zwischen den Künsten, zwischen Musiker:innen und Publikum, zwischen den verschiedenen Musikrichtungen oder zwischen reinem Konzert und theatraler Inszenierung durchaus hinterfragt werden.

 

Die Basel Sinfonietta, ©Marc Doradzillo

 

Basel Sinfonietta – ein Orchester für die ganze Stadt

Diese Lust am Experiment und am künstlerischen Abenteuer teilt Titus Engel mit der Basel Sinfonietta. Sie ist für ihn das spannendeste Orchester der Schweiz: «Weil sie a) demokratisch organisiert ist. Das heisst, es kommt unglaublich viel Energie und Engagement vom Orchester selbst. Und b), weil sie in ihrer Offenheit für spannende Programme und ihrer Ausrichtung auf die zeitgenössische Musik total zu mir passt.» Er hat nun auch schon klare Ideen für seine Zeit bei der Basel Sinfonietta: So würde er gerne an einem eigenen «Sinfonietta-Sound» arbeiten. «Natürlich muss man in dem breiten Repertoire, was die Basel Sinfonietta spielt, sehr flexibel sein. Aber da was zu finden, was noch spezifischer ist, das interessiert mich. Also z.B. extreme Dynamik, auch mal den Mut, sehr süffig zu spielen. Dann wieder knackig und hart.» Und andererseits interessiert ihn die körperliche, performative Präsenz des Orchesters, was sich mit seinem Interesse an anderen Kunstformen verbindet. «Ich würde sehr gerne mit dem Orchester spannende Formate entwickeln: z.B. draussen am Rhein oder im Wald spielen, auch um noch ein breiteres Publikum zu erreichen. Dafür braucht es natürlich auch noch mehr Vermittlungsarbeit. Das heisst, dass wir auch Projekte machen mit gesellschaftlichen Gruppen, die nicht unbedingt ins Stadtcasino ans Orchesterkonzert gehen, dass wir zu diesen hingehen und gemeinsam Projekte entwickeln. Ich würde die Basel Sinfonietta gerne breiter in der Stadt abstützen, damit wir ein Orchester für die ganze Stadt werden.»

Titus Engel hat also einiges vor. Nur, die Basel Sinfonietta ist ein sich selbst verwaltendes Orchester. Die Musiker:innen können also bei der Programmierung mitentscheiden. Zweifellos wird er jedoch mit seinem Wunsch, die Basel Sinfonietta mittels unkonventionellen, spannenden Programmen und Formaten zu einem Orchester für die ganze Stadt Basel zu machen, bei den Mitgliedern offene Türen einrennen.
Jaronas Scheurer

 

Das Eröffnungskonzert der Basel Sinfonietta unter Titus Engel findet am 1. Oktober 2023 um 19:00 im Sportzentrum Pfaffenholz in Saint-Louis (F) statt.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musikmagazin, 30.9.2023: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Jaronas Scheurer.

Musik unserer Zeit, 20.2.2019: Der Derwisch: Titus Engel, Redaktion Florian Hauser.

Musikmagazin, 1.2.2014: Kaffeegespräch mit Titus Engel von Mariel Kreis, Redaktion: Florian Hauser (ab Min. 28:47).

Neo-Profile:
Titus Engel, Basel Sinfonietta, Gemma Ragués, Michael Wertmüller, Simon Steen-Andersen, Nik Bärtsch, Donaueschinger Musiktage

Stimme – Schweigen – Persona

Die junge Komponistin Anda Kryeziu bringt den Kultfilm «Persona» von Ingmar Bergman für das Theater Basel als Musiktheater auf die Bühne. Eine musikalische Reflexion über die Themen Stimme, Schweigen und Identität.

 

Die Komponistin Anda Kryeziu, ©Jetmid Idrizi

 

Jaronas Scheurer
Ich treffe Anda Kryeziu an einem regnerischen Februarabend in der Basler Innenstadt zum Interview. Die letzte Probephase für ihr Musiktheater «Persona», basierend auf dem gleichnamigen Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, hat gerade begonnen und ihr steht ein stressiger Endprobe-Monat bevor. Für sie bedeutet das, von Montag bis Samstag jeweils den ganzen Tag Proben und in der Nacht Revisionsarbeiten. Gleichzeitig lastet eine gehörige Portion Druck auf der knapp 30-jährigen Komponistin – ein abendfüllendes Musiktheater für das renommierte Theater Basel zu schreiben, ist nicht allen vergönnt. So könnte man auf jeden Fall meinen. Doch Anda Kryeziu wirkt beim Interview erstaunlich entspannt und gelöst.

Die kosovarische Komponistin studierte in Bern Klavier und Komposition bei Dieter Ammann, danach in Basel und Berlin bei Caspar Johannes Walter und Daniel Ott Komposition und elektroakustische Musik und intermediale Komposition bei Wolfgang Heiniger. Inzwischen hat sich schon eine erstaunlich umfangreiche Werkliste angehäuft: Musiktheatrale Werke, Performances, Orchesterkompositionen, Werke für Instrumentalbesetzungen mit oder ohne Elektronik, multimediale Kompositionen, Installationen und akusmatische Stücke. Kryeziu wechselt mühelos zwischen verschiedenen Formaten und Besetzungen und präsentierte ihre Werke schon an renommierten Festivals wie Impuls Festival Graz, Neue Musik Rümlingen oder der Münchener Biennale. Ihr reiches und diverses Portfolio ist vielleicht der Grund für ihre Gelassenheit angesichts des renommierten Auftrags vom Theater Basel.

 


Anda Kryeziu: «Infuse: Playtime» (2021), Ensemble Recherche.

 

«Persona» von Bergman

Für das Theater Basel vertont sie den Film «Persona» von Ingmar Bergman als «ambivalentes musiktheatrales Format, oszillierend zwischen Oper, Theater und Performance», wie sie das Werk selbst bezeichnet, für eine Sopranistin, eine Performerin, vier Instrumente und Elektronik. Der Kultfilm von Bergman aus dem Jahre 1966 dreht sich um zwei Frauen, die Schauspielerin Elisabeth Vogler und die Krankenpflegerin Alma. Elisabeth hat plötzlich aufgehört zu sprechen und wird daher in Begleitung von Alma zur Kur in eine Villa am Meer geschickt. Durch das Schweigen von Elisabeth übernimmt Alma das Sprechen und erzählt Elisabeth von ihren innersten Wünschen, Träumen und von gutgehüteten Geheimnissen aus ihre Vergangenheit. Es entwickelt sich eine komplexe Beziehung zwischen den zwei Frauen und das Schweigen von Elisabeth nimmt dabei ganz unterschiedliche Facetten an, von überheblicher Distanz über empathische Teilnahme bis hin zu passiver Aggressivität. Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen zwischen den zwei Protagonistinnen. Der Film von Bergman ist einerseits ein exaktes Psychogramm dieser ungewöhnlichen Beziehung, andererseits eine Reflexion darüber, was eine Person eigentlich ausmacht und ob wir nicht nur aus unterschiedlichen Masken bestehen.

Inwiefern macht die Stimme unsere Identität aus und was geschieht mit einer Identität, wenn der Faktor Stimme plötzlich wegfällt? Anda Kryeziu, die Regisseurin Caterina Cianfarini und die Dramaturgin Meret Kündig interessierten sich also vor allem für «Persona», weil darin Stimme, Schweigen und Identität in enger Verknüpfung verhandelt werden.

 

Anda Kryeziu: «co-» (2016-2017), gespielt von Theo Nabicht (Kontrabassklarinette), Seth Josel (E-Gitarre) und Gabriella Strümpel (Cello) vom Ensemble KNM Berlin.


Wie komponiert man Schweigen?

Das Schweigen der Hauptfigur Elisabeth ist ein zentraler Aspekt in «Persona». Doch, wie komponiert man eigentlich Schweigen? Musik besteht ja aus Klängen und Schweigen gerade nicht. Wobei, wie Anda Kryeziu betont, «Schweigen nicht dasselbe ist wie Stille. Schweigen ist die Entscheidung, nicht zu sprechen, und Stille ist die Absenz von Klängen.»

Das Schweigen musste Kryeziu jedoch gar nicht aktiv komponieren: «Das Schweigen war schon konzeptuell da und war eigentlich Auslöser für alle anderen musikalischen Ideen im Stück. Dieses Schweigen ist für mich das stärkste und krasseste Stilmittel, das mir in diesem Projekt zur Verfügung steht. Mit dem Schweigen von Elisabeth versuche ich die ganze Dynamik und Energie des Werks zu gestalten und es dient uns in vielen musikalischen und dramatischen Situationen als zündender Funke.»

Anda Kryeziu sieht im Schweigen der einen Hauptfigur eine willkommene Herausforderung und komponierte es als wichtigen Faktor mit. Ähnlich sieht es mit der Stimme der anderen Hauptfigur aus. Die Krankenpflegerin Alma übernimmt in Anbetracht der schweigenden Elisabeth das Sprechen für beide. Für Kryeziu ist die Stimme der Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die die Rolle der Alma übernimmt, Ausgangspunkt ihrer Komposition. «Die menschliche Stimme ist ein komplexes Kommunikationsmittel, ein ganzes Paket an Informationen, ein semiotisches System, über das man ganz viel über Identität erfahren kann.» so Kryeziu.

Die Stimme von Guðmundsdóttir wird von Kryeziu mittels elektronischen Mitteln verfremdet, verzerrt und vervielfacht. «Mit den Veränderungen des Stimmklangs kann ich auch die Wahrnehmung der sprechenden Person verändern. Sie kann plötzlich männlich, kindlich oder total zerstört klingen.»

 


Anda Kryeziu: “Kreiswanderung im Raum”, aus der Produktion “Grosse Reise in entgegengesetzter Richtung” an der Münchener Biennale 2022. Jens Ruland (Perkussion) und Ensemble Hand Werk.

 

Die Stimme aus den Instrumenten heraus

Zudem setzt Kryeziu die Stimme mit unterschiedlichen Gegenübern in Beziehung: Durch Loops spricht die Stimme von Guðmundsdóttir mit sich selbst, durch das raumfüllende Abspielen und Wiederaufnehmen tritt sie auch in einen Dialog mit dem Raum und mithilfe sogenannter Transduktoren kann Kryeziu den Stimmklang oder einzelne Schnipsel der Stimme auf die vier Instrumente projizieren. Die Stimme spricht dann sozusagen aus den Instrumenten heraus. Eine stimmige Metapher dafür, dass eine Identität in enger Verbindung und in stetiger Wechselwirkung mit der Aussenwelt interagiert.

Eine Stimme, die aus vielen Instrumenten heraus spricht – das ist vielleicht auch ein passendes Bild für das Schaffen von Kryeziu. Immer wieder taucht das Thema Identität in ihrem vielfältigen Schaffen auf. «Das Thema Identität kommt für mich nie alleine, weil es für mich nicht aus dem soziopolitischen Kontext ausgekoppelt werden kann. Wir existieren nicht als abstrakte Entitäten. Wir sind so, wie wir sind, wegen unserer Umgebung, wegen unserer Geschichte und Biografie.», so Kryeziu. Ihre Werke seien zwar nie autobiografisch, aber vielleicht liege dennoch in ihrer migrantischen Biografie ein Grund, wieso das Thema Identität immer wieder auftauche.
Jaronas Scheurer

 

Das Musiktheater «Persona» ist eine Produktion des Theater Basel und wird am 4., 6., 7., 15., 16. und 17. März 2023 im Gare du Nord gezeigt, mit: Álfheiður Erla Guðmundsdóttir: Sopran, Alice Gartenschläger: Performance, Jeanne Larrouturou: Perkussion, Chris Moy: Gitarre, Maria Emmi Franz: Cello und Aleksander Gabrýs: Kontrabass.

Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Ensemble Hand Werk, Jens Ruland, Wolfgang Heiniger, Caspar Johannes Walter, Theo Nabicht, Seth Josel, Gabriella Strümpel, Ensemble KNM Berlin, Ensemble Recherche

Neo-Profile:
Anda Kryeziu, Aleksander Gabrýs, Jeanne Larrouturou, Concept Store Quartet, Daniel Ott, Gare du Nord, Dieter Ammann