Der Wahnsinn der Welt

Cécile Olshausen
“Manchmal habe ich das Gefühl, ich wohne im Zug», lacht Helga Arias. Die Komponistin kommt aus dem spanischen Baskenland, ist 1984 in Bilbao geboren und lebt in der Schweiz. Sie selbst bezeichnet sich als Nomadin, denn seit ihrer Kindheit ist sie ständig unterwegs und hat schon an vielen verschiedenen Orten gelebt. Im Frühling 2020 aber steht plötzlich alles still, wegen Corona.

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

Stundenlange Video-Calls

Helga Arias hatte eigentlich einen längeren Aufenthalt in den USA geplant; das International Contemporary Ensemble(ICE), ein Künstlerkollektiv aus New York, hatte sie eingeladen als composer in residence. Aber die Komponistin muss wegen der Pandemie in Europa bleiben. Und auch die Musiker:innen des ICE in New York sind isoliert und können sich wegen des Lockdowns nicht zu Proben treffen. Dieser Stillstand setzt bei Helga Arias kreative Energien frei. So entsteht das Werk I see you für verstärktes Streichquartett und Live-Video, das am Eröffnungskonzert des Festival SONIC MATTER im Dezember 2021 in Zürich uraufgeführt wurde.

Weil also weder reale Begegnungen noch die geplanten kollektiven Arbeitsformen möglich sind, führt Helga Arias das Ensemble per Video-Call zusammen. Zuerst verbindet sie sich  einzeln mit jedem Mitglied, nimmt stundenlang Klänge und Töne auf, aber auch Gespräche über Kunst und Geschmack, über Musik und seelisches Befinden. Das audio-visuelle Material fügt sie zusammen und verteilt es dann wieder unter den Quartett-Mitgliedern. So verwebt sie alle miteinander, obwohl jeder einzeln zu Hause festsitzt. Eine künstliche, aber auch kunstvolle Form der Kommunikation.

Erst wenige Stunden vor der Premiere in Zürich haben sich die Komponistin und das Quartett schliesslich persönlich kennengelernt und konnten vor Ort die virtuell geschaffene Video- und die Quartett-Partitur von I see youzusammensetzen. In der Corona-Pandemie ist also ein kreatives und variables Modell der Zusammenarbeit entstanden. Ein Modell, bei dem alle Beteiligten, sowohl Komponistin als auch die Spielenden gleichberechtigt künstlerisch involviert sind.

 

Helga Arias, I see you, International Contemporary Ensemble, UA Festival Sonic Matter Zürich, 2.12.2021 / Sound-recording: Eigenproduktion SRG/SSR

 

Im Rausch der Reize

Helga Arias ist eine sensible Zeitgenossin. Sie beobachtet alles und blendet beim Komponieren die Welt, auch die virtuelle Welt der digitalen Medien nicht aus: Hatespeech, Me Too-Debatte und Fake News sind Elemente ihrer Musik. «Der Kontakt mit der Gesellschaft ist mir sehr wichtig», sagt sie, «es heisst ja zeitgenössische Musik, also muss sie auch zeitgenössisch sein. Was in der Welt passiert, das hat auch eine Wirkung auf meine musikalischen Ideen.»

In ihrer Performance Hate-follow me – die Uraufführung fand am Musikfestival Bern im September 2021 statt – mischt Arias die vokalen Klänge von vier Sopranistinnen mit den aufdringlichen Signalen von Handys und per Video rauschen dazu Bilder aus Social Media vorbei: Gehässige Beleidigungen wechseln ab mit aufdringlichen Körperposen, eine Mischung aus sinnentleerter Verführung und Hass. Begleitet von unaufhörlichem Vibrieren, Klingeln, Zwitschern und Piepen.

 

Helga Arias: Hate-follow me, UA Musikfestival Bern, UA 5.9.2021

 

Dieses bedrängende Übermass an akustischen und visuellen Reizen ist dabei das Ziel der Komponistin. Helga Arias macht auf diese Weise aufmerksam auf den Wasserfall an Meldungen, der tagtäglich auf uns einprasselt. Selbst wenn wir eine Nachricht lesen könnten, wird sie sofort von der nächsten verdrängt. Die einzelne Information verliert jede Bedeutung. Dabei verdichtet die Komponistin Klang und Bild auf erschreckend faszinierende Weise und man beginnt zu ahnen, wieso gerade Hass-Nachrichten eine so schnelle und grosse Verbreitung finden.

 

«So sorry»

Hate-follow me zeigt drastisch auf, dass der unbegrenzte Raum des World Wide Web nicht für ein Maximum an Offenheit und Diversität genutzt wird. Vielmehr verengt sich die Perspektive, wenn Influencerinnen und Blogger normierte Klischees verbreiten und alte Rollenbilder zementieren. Und anstatt im Internet differenzierte Vielstimmigkeit zu feiern, lässt ungehemmte Hassrede viele verstummen. Hate-follow me endet – nach einem medialen Kollaps – in einem Schwall von Entschuldigungen. Versöhnlich aber ist das nicht. Denn auch die tausendfachen «Sorrys» wirken klebrig und scheinheilig. Dieses Stück ist ein erstaunliches Paradox: Helga Arias komponiert eine Musik, die uns nicht loslässt, aber eigentlich auffordert, sie abzustellen. Wenn wir es tun, entziehen wir uns dem Wahnsinn der Welt, wenn wir es nicht tun, unterwerfen wir uns ihm.

Für Helga Arias sind Werke wie Hate-follow me oder I see you Möglichkeiten, über ihre eigene Rolle als Komponistin und ihre Beziehung zu Interpret:innen und Publikum nachzudenken: «Die Interpreten meiner Musik sind keine Spielmaschinen und ich bin kein Chef, der sagt: du machst das! Vielmehr geht es um komplexe Interaktionen.» Auch mit dem Publikum. Und so vermittelt Helga Arias auch keine Botschaft. Wir Zuhörenden müssen selbst herausfinden, wie wir mit den Widersprüchen und Verrücktheiten klarkommen.
Cécile Olshausen

 

Portrait Helga Arias zVg Helga Arias

 

International Contemporary Ensemble

Am 26. März ist Helga Arias in Ascona in einer conferenza-concerto im Rahmen des Festival Ticino Musica zu erleben.

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit: I see you – die Komponistin Helga Arias, Redaktion Cécile Olshausen, Mittwoch, 9.2.22, 20:00h / Samstag, 12.2.22, 21:00h
SRF-online, 14.2.22: Komponistin Helga Arias – Sie macht auch Hate Speech zu Musik, Text Cécile Olshausen

neo-Profile:
Helga Arias, Festival Sonic Matter, Musikfestival Bern, Ticino Musica

 

Out of the box

Oscar Bianchi, künstlerischer Leiter der International Young Composers Academy am Festival Ticino Musica im Gespräch

Out of the box: Oscar Bianchi@Musica viva, München, 2.7.17 © Astrid Ackermann

Gabrielle Weber
Klassische Kompositionen und transdisziplinäre Formate in Verbindung mit Tanz bilden die Eckpfeiler der dritten International Young Composers Academy des Festival Ticino Musica. Für internationale Ausstrahlung sorgen Dmitri Kourliandski und das Ensemble Modern Frankfurt.
Im Interview berichtet Oscar Bianchi über die Ausrichtung der kommenden Edition.

Oscar, vor drei Jahren übernahmst Du vom Gründer Mathias Steinauer die künstlerische Leitung der international Young Composers Academywas sind die Neuerungen die Du einbrachtest?
Seit 2018 laden wir ein arriviertes Spitzenensemble der zeitgenössischen Musik ein. Zudem steht jedes Jahr ein anderes Format im Zentrum. Dieses Jahr ist das Ensemble Modern Frankfurt zu Gast.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern?
Ich kenne die Energie und das Comittment des Ensembles durch frühere Zusammenarbeiten, wie bspw. dem Projekt Connect in Frankfurt 2016, das die Beziehung zwischen Komponist, Ensemble und Publikum thematisierte.

“Ich benutze meine eigene Erfahrung als Filter um die richtigen Partner zu engagieren.”

Die Mitglieder des Ensembles haben eine klare musikalische Vision verbunden mit stilistischer Offenheit. Und vor allem: sie sind neugierig darauf, wonach junge Komponierende suchen.

Oscar Bianchi Orango, Projekt Connect ©Ensemble Modern Frankfurt 2016

Was ist das diesjährige Format?
Wir schrieben zwei Kategorien aus: klassische Instrumentalstücke und multidisziplinär Projekte. Es gibt zwei entsprechende Konzerte. Eingegangen sind über 100 Bewerbungen. Zusammen mit Olga Neuwirth, der Juryvorsitzenden, wurden 14 Komponierende aus der ganzen Welt, aus Taiwan, Iran, Süd- und Nordamerika, Europa oder Südafrika ausgewählt. Durch eine Kollaboration mit dem Festival TicinoInDanza erhalten sie die Gelegenheit mit Tänzern und Choreografen zusammen zu arbeiten. Solche Erfahrungen eröffnen neue Perspektiven.

“Es ist wichtig, dass Komponierende “out of the box” denken.”

14 Komponistinnen und Komponisten sind eine grosse Anzahl. Wie muss man sich das gemeinsame Arbeiten vorstellen?
lacht: Dazu kommen noch zehn passive Beobachter. Uns geht es explizit um das Arbeiten als Gruppe. Das kommt der Musik und dem Austausch zu Gute. Elitäres Wettbewerbsdenken mit einem winner ist nicht gefragt.

“Es geht um ein Collective project. Gruppe anstelle Elite”

Es gibt diverse Conferences und Lectures, u.a. mit Dmitri Kourliandski und Gästen wie Katharina Rosenberger oder Michael Wertmüller. Davon profitieren alle. Dennoch: ein besonders gutes Werk bleibt in Erinnerung.

Ensemble Modern &Oscar Bianchi ©Walter Vorjohann

Was für Säle wurden für die zwei Konzertformate gewählt?
Das Klassische Konzert findet im Foyer des LAC (Lugano Arte e Cultura) statt, ein Ort der verschiedene Kunstsparten beherbergt und Begegnungen von Einheimischen und Touristen ermöglicht, das multidisziplinäre Konzert in Mendrisio im Chiostro dei Serviti, in einem Innenhof im Freien.

Bedeutet die Wahl eines Offspaces in Mendrisio nicht auch ein Risiko in Bezug auf das Publikum? Die zeitgenössische Musik-Community im Tessin ist ja eher klein..
Das Konzert ist in das Festival Musica nel Mendrisiotto eingebunden, eine Reihe mit interessiertem Stammpublikum. Die Musik hat eine visuelle Komponente, profitiert vom Zusammenwirken mit anderen Kunstsparten und spricht ein breites Publikum an.

“Neue Musik sollte ein Level playing field werden – das wäre mein Traum.”

Konzert Int. Composers Academy 2018, Mendrisio Museo Vela ©Ticino Musica

Hast Du eine weitere Vision für die Composers Academy – wo siehst Du ein Entwicklungspotenzial?
Dank der Unterstützung der Art Mentor Foundation Lucerne konnten wir ein Spitzenensemble einladen und Scholarships vergeben. Meine Vision wäre, die Akademie inklusive Reise und Unterkunft kostenfrei anzubieten, damit die Teilnahme gleichberechtigt allen offen stünde. Die Neue Musik ist Teil eines Systems das Ausschluss schafft. Ich möchte solche Diskriminierung unterbrechen.
Interview Gabrielle Weber

Festival Ticino musica, erwähnte Konzerte:
27 Luglio 2019, 18:00, Ticino Musica, Mendriso, Chiostro dei Serviti
28 Luglio 2019,  21:00, Ticino Musica, Lugano, LAC

Kooperation mit:
Musica nel Mendrisiotto, TicinoInDanza

neo-profilesOscar BianchiEnsemble Modern, Ticino Musica, Mathias Steinauer, Katharina Rosenberger