Christian Fluri
Sie sind wichtig, ja essentiell, Förderungseinrichtungen speziell für junge Komponistinnen und Komponisten, die nach oder noch vor ihrem Studienabschluss stehen. Das Musikforum Biel/Bienne 2021 widmet sich dieser Aufgabe im Bereich der Orchestermusik.
Im 9. Sinfoniekonzert am 19. Mai stellt das Sinfonie Orchester Biel Solothurn in Biel unter Leitung seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder drei Uraufführungen vor.
Die Werke stammen alle von jungen Komponistinnen: von der Spanierin Gemma Ragués Pujol, der Schweizerin Michal Muggli und der Armenierin Argenaz Martirosyan. Verbindendes Element ist, dass die drei derzeit in der Schweiz leben, hier studieren oder ihr Studium abgeschlossen haben. Verbindend ist ebenfalls, dass sie Musik von grosser Dichte, Spannung und eigenständiger Klangsprache kreieren, und dass sie mit ihren Werken bereits verschiedene Preise gewonnen haben.
Ordnung, Aufbruch, Dekonstruktion
Die 30-jährige, im Zürcher Oberland aufgewachsene Michal Muggli weist bereits einen grossen Werkkatalog auf. Sie schloss als Schülerin des Komponisten Beat Furrer ihr Studium mit dem Master in Graz ab – nach einem Bachelor an der Hochschule der Künste Bern bei Christian Henking. 2014 gewann sie protonwerk 4 mit ihrem Stück DICKdünn II für Flöte, Lupophon, Bassklarinette, Violine, Violoncello, Harfe, Klavier und DirigentIn.
Im ersten Teil des achtminütigen Stücks wird ein dichtes, erdiges und fortschreitendes Klanggewebe in einzelne, fragmentarische Figuren zerlegt, im Wechsel mit düstern, aufbegehrenden Klangballungen. Muggli führt ihre Musik in ein Stimmengewirr sich überlagernder gesprochener Worte, das in ein instrumentales Sprechen, Seufzen, Klagen übergeht. Ein Werk, das den Blick auch auf beide künstlerischen Leidenschaften Mugglis öffnet: die Musik und die Literatur. In einem zweiten Studium beschäftigt sie sich mit französischer Literatur- und Sprach- sowie mit Musikwissenschaft und Hermeneutik.
Michal Muggli, DICKdünn II, UA ensemble proton Bern, UA 2014 Bern / 2015 St. Petersburg International New Music Festival
Unruh nennt sie ihr neues Orchesterstück, das am Musikforum Biel/Bienne uraufgeführt wird. Wiederum geht es um Ordnung – hier der Uhrmechanik – und Aufbruch. “…scheinbar unkontrollierte Ausschweifbewegungen einer Sprialfeder” halten “die geregelte Ordnung der Zahnräder aufrecht”, schreibt Muggli zu ihrer Komposition. Unterschwellig bäumten sich die Unruhen gegen die mechanische Ordnung der ablaufenden Zeit auf und hielten diese damit in Gang. Muggli entwickelt in ihrem Stück einen dialektischen Prozess, der den Klang auch durch das Orchester wandern lässt, wie sie es ausdrückt. Und es geht ihr dabei auch um die immer neue Übertragung von Kräften zwischen den quasi ineinander verzahnten Orchestermusikerinnen und -musikern.
Ost und West im Heute verknüpft
Das Orchesterstück Zeitlos der Armenierin Argenaz Martirosyan kreist nicht allein um das Phänomen der Zeit, sondern will auch den Begriff in seinen unterschiedlichen semantischen Bedeutungen erkunden. Der Mechanismus eines Uhrwerks taucht auch hier auf, ebenso Momente des Ausbruchs. Martirosyan schreibt von “befreiter Zeit”. Ihre Musik entwickle sich in einer Dialektik von Stillstand und Bewegung, was wiederum auf die verschiedenen Dimensionen von Zeit zurückzuführen sei. Die Komponistin hofft, dass für die Hörenden die Zeit “wie im Flug” vergeht.
Die innere Spannung, die tiefgreifenden Klangerkundungen, die sich zur anregenden musikalischen Rede formen, ebenso ihre Nähe zur Improvisation, sind zu hören in Musik für Alto Saxophon und Percussions von 2020.
Aregnaz Martirosyan, Musik für Saxophone and Percussions, UA Lucerne Percussions New Music Days 2020
Martirosyan kam nach ihrer Ausbildung in Armenien fürs Masterstudium bei Dieter Ammann an die Hochschule nach Luzern. Sie verknüpft in ihrer Musik den Hintergrund östlichen Komponierens mit dessen weitläufigen, sich immer auch in harmonischen Bereichen bewegenden Klanggebilden und der westlichen musikalischen Gegenwart zur eigenen kraftvollen rhythmisierten Tonsprache.
Gekonnt entwickelt sie ihre Sprache im grossen Orchesterapparat: Das zeigt sich in Dreilinden für Solotrompete und Orchester von 2019. Aregnaz Martirosyan hat mit diesem Orchesterstück bereits zwei renommierte Preise gewonnen
Aregnaz Martirosyan, Dreilinden, Konzert for Solo Trumpet and Orchestra, UA 2019
Klang und Bewegung
Auch die katalanische Komponistin Gemma Ragués Pujol setzt sich in ihrem für das Musikforum Biel/Bienne geschriebenen Orchesterstück Le temps bouge mais n’avance pas mit dem Phänomen der Zeit auseinander. “Zeitlichkeit in der kreisförmigen und endlichen Bewegung eines Kreisels” bildet den Ausgangspunkt des Stücks, wie sie im Eingangstext schreibt. Dabei geht es ihr um die Beziehungen zwischen Bewegung, bzw. körperlichen Gesten und Klang, und um deren Schnittpunkte. Ein Beziehungsgeflecht, das die Komponistin, die in Barcelona, Stockholm und zuletzt an der Hochschule der Künste Bern ihr Masterstudium (bei Xavier Dayer und Simon Steen-Andersen) absolvierte, schon länger erkundet. So auch in ihrer streng choreographierten Performance silence fantasy #1 in der drei zeitungslesende Performer*innen sich auf Stühlen bewegen und doch statisch wirken.
Gemma Ragués, silence fantasy #1, UA 2020
Zudem setzt sie sich mit den möglichen Verknüpfungen von elektronischen und akustischen Klängen auseinander. Sie kommt dabei zu quasi konträren Ergebnissen: In nit de sal für Stimme, Ensemble und Elektronik von 2019 setzt sie in teils exzessiven Klanggebilden Gedichte von Joana Raspall and Maria Mercè Marçal in Musik
Gemma Ragués, nit de sal, UA 2019
Abgerundet werden im Konzert des Sinfonieorchesters Biel Solothurn die drei Uraufführungen durch Ulrich Hofers Minutenpendel, einer jazzigen Improvisationsanlage, die er nun für ein Orchester bearbeitet, so – aufbauend auf den “Gestaltungsmitteln des Jazz” , wie er selbst schreibt, zur Komposition formt.
Christian Fluri
Die drei Orchesterstücke sind in voller Länge auf den Profilen der Komponistinnen auf neo.mx3 nachzuhören.
Das Konzert wird in der Sendung Neue Musik im Konzert auf SRF 2 Kultur am Mittwoch, 26.5. um 21h, ausgestrahlt.
Details zum Konzert: Musikforum Biel/Bienne, 9. Sinfoniekonzert
Sendungen SRF 2 Kultur:
MusikMagazin, Samstag/Sonntag 22./23.5.21: Michal Muggli im Gespräch mit Florian Hauser
Neue Musik im Konzert, Mittwoch 26.5.21, 21h
neo-profiles:
Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Michal Rebekka Muggli, Gemma Ragués, Aregnaz Martirosyan, Dieter Ammann, Beat Furrer, Christian Henking, Xavier Dayer, Simon Steen-Andersen, Ensemble Proton Bern, Ulrich Hofer