Nora Vetter / Die performativen Kontexte

Nora Vetter, Bratschistin und Komponistin aus Luzern, wurde 2023-2024 innerhalb des Double Classic-Netzwerks der Migros-Kulturprozent, einem Mentoring-Plattform, gefördert. Es ermöglicht jährlich mehreren Musikerinnen und Musikern, vertieft an einem bestimmten Projekt zu arbeiten und dabei gecoacht zu werden. Vetter entwickelte in diesem Rahmen ein neues Werk für Soloschlagzeug. Mit Vetter blicken wir zurück auf ihren kreativen Prozess nach einem Jahr Coaching. Ein Porträt von Alexandre Babel.

 


Portrait Nora Vetter zVg. Nora Vetter

Alexandre Babel

Nora Vetter, Bratschistin und Komponistin aus Luzern, wurde 2023-2024 innerhalb des Double Classic-Netzwerks der Migros-Kulturprozent, einem Mentoring-Plattform, gefördert. Es ermöglicht jährlich mehreren Musikerinnen und Musikern, vertieft an einem bestimmten Projekt zu arbeiten und dabei gecoacht zu werden. Vetter entwickelte in diesem Rahmen ein neues Werk für Soloschlagzeug. Mit Vetter blicken wir zurück auf ihren kreativen Prozess nach einem Jahr Coaching. Ein Porträt von Alexandre Babel.

Nach einem Master in zeitgenössischer Musik in Basel wählte Nora Vetter die Stadt Luzern als Wohnort und engagiert sich seither stark für die dortige zeitgenössische Musikszene: als Bratschistin im Latenz Ensemble und im Kollektiv Kulturbrauerei, wie in Veranstaltungen fürs Forum Neue Musik oder in performativen Projekten mit dem Kollektiv VAMM! Ihr Engagement in verschiedenen zeitgenössischen Kontexten nutzt sie, um ihre eigene kreative Kraft zu hinterfragen. So entwickelt sie seit 2019 einen Korpus an Werken, in denen sie die Verbindung zwischen Raum und musikalischer Aktion strukturiert.

„Ich komponiere gerne für besondere Orte. Mein erstes Projekt fand in den stillgelegten Getreidesilos in Altdorf, Kanton Uri, im Jahr 2019 statt. Der architektonische Raum war aussergewöhnlich, mit einer Nachhallzeit von fast fünfzehn Sekunden“, erklärt Nora Vetter. „Ich habe dort zwei Klangarbeiten präsentiert. Die eine bestand darin, dass aus der Öffnung des Silodachs trockene Brotstücke fielen. Auf dem Siloboden waren zwei Performer, die die Krümel auffingen und in Säcke füllten. Deren Aufprall, verstärkt durch akustischen Nachhall, klang wie kleine ‘Bomben’ und bildete die Grundlage für Klangstrukturen“. Äusserlich performativ und phänomenologisch geht es Vetter bei dieser Aktion darum, den Klang zu formen und ihn im zeitlichen Raum zu organisieren. Gleichzeitig beeinflusst der architektonische Kontext hier die Wahrnehmung des Klangphänomens. Unabhängig vom formalen Kontext ihrer Arbeiten unterstreicht Nora Vetter gerne solche Aspekte.

Im Rahmen des Luzerner Forward 2022 führte das VAMM!-Kollektiv (Nora Vetter, Urban Mäder, Peter Allamand und Pia Matthes) das Werk, Ein sauberes Ende, eine ‘kollektive Operation’, auf: eine Gruppe von fast dreißig Mitwirkenden führte darin zum Ende des Konzerts eine Reinigungsaktion als musikalische Performance durch. „Es war eine und keine konventionelle Reinigung“, erklärt Nora Vetter. «Wir führten neue Werkzeuge ein, wie Abfallzangen und Laubbläser, die die Notenblätter zu Beginn des Stücks zerstreuten.“

 

 

Urban Mäder, Peter Allamand Pia Matthes et Nora Vetter, Ein sauberes Ende, UA Lucerne Festival Forward, Konzertsaal KKL, November 2022.

 

Zum kompositorischen Anteil der Performance meint Vetter: „Die ursprüngliche Idee war, den Raum zu reinigen, während das Publikum sich noch im Saal befindete, wir haben der Aktion aber nach und nach eine musikalische Dimension verliehen. Das Stück ist insofern eine Komposition, als dass wir auf die Reihenfolge der Klänge, wie auch die Überlagerung der Klangstrukturen geachtet haben, welche wir bewusst in einer bestimmten Reihenfolge hören wollten.“

Diese Dualität zwischen performativer Aktion und musikalischer Struktur thematisiert Vetter auch in der Arbeit Dream Paralysis, ein Konzertstück, entstanden 2021 für das Latenz-Ensemble. „Während meine Arbeit in den Getreidesilos von Altdorf sich an einen bestehenden Ort anpasste, ist Dream Paralysis einer bestimmten Gruppe von Menschen gewidmet“, erläutert Vetter. „Aber ich brauchte ein zusätzliches Element, mit dem ich den visuellen Raum formen konnte. Ich setzte dafür das Licht ein, in mehreren Schichten: Neonröhren und Taschenlampen, die von den Darstellern bedient wurden, wie auch Bühnenlicht, das Bilder zeichnete, die ich auf Basis der musikalischen Form programmierte. Sie bilden den Ausgangspunkt für einen – dem Traum gewidmeten – Raum“. Das Stück ist von den Zyklen des Schlafs inspiriert und spielt mit der Kombination verschiedener Wahrnehmungsquellen. Sie fährt fort: „Wenn das Licht reduziert wird, verändert sich die Wahrnehmung. Sobald man das Blickfeld einschränkt, nimmt die Fähigkeit, andere Dinge wahrzunehmen, zu. Das gefällt mir.”

 

Nora Vetter, Dream Paralysis

 

In Dream Paralysis setzt Vetter performative Gesten ein, die keinen Klang erzeugen, sondern die kompositorischen Dramaturgie unterstützen. Vetters neueste Produktion Patch work, die während ihres Mentoring-Jahres entstand ist hingegen ein reines Musikstück. Patch work ist ein Solo für akustisches Schlagzeug, entstanden für den Perkussionisten Ruben Bañuelos. Auch hier sind performative Aspekte wesentlich. „Was mich während des Mentorings interessierte, war, mir der Konnotationen bewusst zu werden, die ein bestimmtes Instrument, hier das Schlagzeug, mit sich bringt. Allein die Anwesenheit eines Schlagzeugs auf einer Bühne ist bereits ein performatives ‘Statement’.“ In Patch Work reduziert  Vetter nun die Gesten des Schlagzeugers auf ein Minimum und hebt dadurch die Essenz der Bühnengeste hervor.  „Das Schlagzeug ist an sich bereits sehr choreografisch“, erklärt Vetter. „Die manchmal feinen Gesten, die Ruben ausführt, um den Klang zu erzeugen, erzählen bereits ein ganzes Universum. Letztendlich setze ich mit diesem Stück meine Arbeitsweise fort, die mich bereits seit Jahren begleitet“.
Alexandre Babel

Portrait Nora Vetter zVg. Nora Vetter

 

Latenz EnsembleKulturbrauerei LuzernForum Neue Musik Luzern, Ruben Bañuelos

émissions SRF Kultur :
neoblog, 11.11.2022: Das Lucerne Festival Forward nimmt “ein sauberes Ende”, Autor Jaronas Scheurer.

neoprofiles :
Nora VetterUrban Mäder

Das Lucerne Festival Forward nimmt “ein sauberes Ende”

Jaronas Scheurer
Vom 18. bis 20. November 2022 findet in Luzern das Lucerne Festival Forward statt. Neben grosse Namen der internationalen zeitgenössischen Musik-Szene wie Anna Thorvaldsdottir, Patricia Kopatchinskaja und Tito Muñoz steht auch die kollektive Intervention Ein sauberes Ende zum Schluss des Festivals auf dem Programm.

 

Der Luzerner Komponist, Musiker und Experte für Reinigungsmaschinen Urban Mäder, zVg. von Urban Mäder.

 

Der Luzerner Komponist und Musiker Urban Mäder bezeichnete sich im Interview als Experte für die verschiedensten Reinigungsmaschinen – und das hat gute Gründe. Denn für den Schlusspunkt des diesjährigen Lucerne Festival Forward (LFF) stehen für einmal nicht die Musiker:innen des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LCFO) im Rampenlicht, sondern unter anderem das Reinigungspersonal des KKL mitsamt ihren verschiedenen Staubsaugertypen, Nasswischern und Reinigungsmaschinen.

 


Urban Mäder und Peter Allamand: Klanginstallation ‘Balgerei’ im Rahmen des Festivals Alpentöne, Altdorf 2015.

 

Recherchearbeit um 6 Uhr morgens

Nach der ersten Ausgabe des LFF letztes Jahr und der in diesem Rahmen stattfindenden Aufführung des Stücks Ricefall von Michael Pisaro durch 49 Lai:innen aus der Bevölkerung, findet auch dieses Jahr am LFF eine partizipative Aktion statt: Ein sauberes Ende. Eine kollektive Intervention nennt sich die Aktion und dahinter stecken Urban Mäder, Nora Vetter, Pia Matthes und Peter Allamand. Und diese kollektive Intervention findet als Schlusspunkt des letzten Konzerts des vom 18. bis am 20. November stattfindenden LFF statt. Nun, was gibt es am Ende eines Festivals oder eines Konzertes zu tun: Putzen, damit das Ganze auch ein sauberes Ende nimmt. Von dieser Prämisse gingen die vier Künstler:innen aus und beschäftigten sich intensiv mit dem ganzen Putzequipment, das dafür zum Einsatz kommt. Denn, nach jedem Konzert im Kultur- und Kongresszentrum Luzern trabt am nächsten Morgen um 6 Uhr das fünfzehnköpfige Reinigungspersonal der Firma Vebego an und bringt den Konzertsaal, das Foyer, die Toiletten und alle Räumlichkeiten wieder auf Hochglanz. Die Mitarbeitenden benutzen dafür jedoch nicht Eimer und Besen, sondern etliche topmoderne Reinigungsmaschinen. Das Team hinter der Intervention Ein sauberes Ende habe sich intensiv mit den verschiedenen Maschinen beschäftigt und genau untersucht, was für Klänge aus all dem unterschiedlichen Reinigungsequipment herauszuholen seien, wie Urban Mäder berichtete. Sie hätten sich auch um 6 Uhr morgens mal ins KKL begeben, um dem Vebego-Team bei der Arbeit zuzuschauen. Aus dieser Recherchearbeit entstand dann eine Art Komposition für eine Gruppe von Lai:innen, die sich auf einen Aufruf des LFF hin als Performer:innen gemeldet haben.

 

Die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, zVg. von Nora Vetter.

 

Das Team hinter Ein sauberes Ende

Hinter Ein sauberes Ende stecken neben dem Luzerner Komponist und Dozent für Improvisation Urban Mäder die Bratschistin, Komponistin und Performerin Nora Vetter, die Künstlerin und Szenografin Pia Matthes, die eine starken Affinität zur Klangkunst besitzt, und der langjährige Kollaborateur von Urban Mäder, Peter Allamand. Jede:r der vier Künstler:innen bringt eine andere Sichtweise mit hinein, so Nora Vetter im Gespräch. Urban Mäder besitze eine ganz eigene Klangsprache und einen unglaublichen Erfahrungsschatz in diesem Bereich, Pia Matthes habe ein sehr gutes Gefühl für Dramaturgie und, als ausgebildete Produktdesignerin, ein Auge für das Visuelle, Peter Allamand wisse wahnsinnig viel über das Funktionieren der Dinge und habe eine grosse Lust und Freude am Ausprobieren und Rumtüfteln. So habe er beispielsweise zu einer Sitzung der Vier einen Laubbläser mitgebracht, damit sie im Café, wo sie sich trafen, direkt ausprobieren konnten, wie so ein Ding klingt und funktioniert. Und für sie selbst, sagt Nora Vetter, sei, neben dem Fokus auf den klanglich-kompositorischen Aspekt, den sie mit Urban Mäder teile, die politische Dimension in dieser Arbeit von grosser Bedeutung. So sei es für sie wichtig gewesen, dass auch das tatsächliche Reinigungspersonal auftritt. Es haben sich daraufhin vierzehn der fünfzehn angestellten Reinigungskräfte gemeldet.

Während die Musiker:innen auf der Bühne aus aller Welt kommen und zu Recht für ihre Leistungen kräftig gefeiert werden, bleibt das häufig migrantisierte Reinigungspersonal im Verborgenen. Des Weiteren haftet dieser Tätigkeit das Klischee an, dass den Putzenden leider nichts anderes übrigbleibe. “Doch” so Nora Vetter “am Ende des Tages ist sowohl Musik machen als auch Putzen einfach Arbeit und beides ist gleichermassen notwendig dafür, damit ein Festival wie das LFF überhaupt durchgeführt werden kann.”

 


Nora Vetter: ‘Dream Paralysis’, latenz ensemble, Zürich 2021.

 

Ernst nehmen

Ernst nehmen – unter diesem Stichwort lassen sich vielleicht die verschiedenen Anliegen hinter der kollektiven Intervention Ein sauberes Ende versammeln: Ernst nehmen der Menschen, die die so wichtige, aber unsichtbare Arbeit des Putzens und Aufräumens übernehmen. Und ernst nehmen des klanglichen, ja gar musikalischen Potentials des Putzequipments.

 

Der Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, der am 20. November beim “sauberen Ende” gereinigt wird. ©KKL Luzern

 

Das Ziel der Aktion sei nicht, eine lustige Show abzuziehen, sondern die klanglichen Möglichkeiten der Reinigungstätigkeit und der Putzgeräte ernst zu nehmen, so Urban Mäder. Ihre Intervention basiere auf einer klaren musikalischen Vorstellung, das sei vergleichbar mit klassischen Kompositionen. “Wenn man ein Orchesterstück schreibt, kennt man sich mit der Zeit aus bei den Holzbläsern, den Blechbläsern, den Perkussionsinstrumenten usw. Wir kennen uns jetzt halt aus bei all den Putzmaschinen und wie die klingen.” Und vor allem – sieht das Publikum auch endlich mal die Menschen, die dafür sorgen, dass sich das KKL bei jedem Konzert von Neuem sauber, aufgeräumt und in tadellosem Zustand präsentiert, und kann sich dafür bei diesen meistens unsichtbaren Personen mit dem gebührenden Applaus bedanken.
Jaronas Scheurer

 

Trailer zur Intervention “Ein sauberes Ende” von Urban Mäder, Nora Vetter, Peter Allamand und Pia Matthes. Lucerne Festival Forward, 20. November 2022, KKL Luzern.

 

Das Lucerne Festival Forward fand vom 18. bis am 20. November in Luzern statt.
Die kollektive Intervention Ein sauberes Ende wurde im Rahmen des Abschlusskonzerts am 20. November im Konzertsaal des KKL uraufgeführt.
Neben Urban Mäder und Nora Vetter gehörten auch Pia Matthes und Peter Allamand zum Team hinter Ein sauberes Ende.

Neo-Profile:
Urban Mäder, Nora Vetter, Patricia Kopatchinskaja, Lucerne Festival Contemporary Orchestra