Zwischen Schaltungen und Schlagwerk

Als Schlagzeuger und Perkussionist hat Martin Lorenz angefangen. Seine Neugier führte ihn erst zu Experimenten mit Schallplatten und schließlich zur elektronischen Klangerzeugung mit Synthesizern. Und immer häufiger wendet er sich dem Komponieren zu. Mit dem Synthesizer-Trio Lange/Berweck/Lorenz spielt er im September beim KONTAKTE-Festival in Berlin und im Kunstraum Walcheturm in Zürich.

 

Der Schlagzeuger Martin Lorenz, konzentriert mit diversen Schlegeln in der Hand. Foto: Heidi Hiltebrand
Portrait Martin Lorenz © Heidi Hiltebrand

 

Friederike Kenneweg
Groß und schlaksig wirkt Martin Lorenz und so, als müsste er sich immer ein wenig zu allen herunterbeugen. Wenn er von der Suche nach besonderen Sounds erzählt, davon, wie sich das Geräusch von Kies auf einer Auffahrt mit Synthesizern erzeugen lässt oder der Klang einer sich schließenden Fahrstuhltür, dann leuchtet ihm die Begeisterung aus dem Gesicht.

Eine solche Begeisterung für die Klangsuche ist auch notwendig, wenn man als Schlagzeuger oder Perkussionist für Neue Musik arbeitet.

 

Suche nach dem richtigen Klangmaterial

Oft müssen Perkussionist:innen nicht nur das gewohnte Schlagwerk-Instrumentarium spielen, sondern für ein Musikstück die erforderlichen Gegenstände mit dem richtigen Sound – Steine, Holzstücke, Tassen o.ä.-  überhaupt erst ausfindig machen. Teilweise übernehmen sie damit eine große Mitverantwortung dafür, wie ein Stück am Ende klingt, denn nicht immer schreiben die Komponist:innen genau auf, was sie sich vorstellen oder welche Tonhöhe eine bestimmte Trommel oder gar ein Stein eigentlich haben soll.

 

Die stetige Suche nach neuen Klängen brachte Martin Lorenz dazu, sich auch mit den Möglichkeiten von Schallplatten zu beschäftigen.  Die Spezialität, die er für eigene Turntable-Performances entwickelte: mit einem Messer während einer Live-Performance Schnitte in die Schallplatten ritzen, so dass beim Abspielen ganz bestimmte Rhythmen und Loops entstehen.

 

Schnitte in Vinyl

Aber natürlich ist es entscheidend dafür, wie die Loops am Ende klingen, was auf der zerschnittenen Platte aufgezeichnet ist. So war es für Lorenz naheliegend, sich selbst Schallplatten mit eigenen Sounds pressen zu lassen – und sich darum mit Synthesizern zu beschäftigen. Zu dieser Zeit gründete er auch in Zürich sein Label DUMPF Edtion, wo er eigene oder fremde Produktionen experimenteller Musik veröffentlicht. Eigentlich immer noch am liebsten auf Schallplatte. Aber als kleines Label auf Vinyl zu setzen, macht schon seit einer Weile keinen richtigen Spaß mehr, sagt Lorenz.
“Es gibt da einfach zu lange Wartezeiten, dann wieder Lieferschwierigkeiten, es ist nicht verlässlich, und dann dauert es ewig, bis eine Aufnahme endlich veröffentlicht wird.”

 

 

Lange hält Lorenz sich aber nicht bei solchen Problemen auf. Eher sucht er nach Möglichkeiten, Frustrationen aufzulösen und fruchtbar zu machen – wie sich auch an seinem Weg hin zum Komponieren zeigt. Da verspürte er nämlich immer wieder eine gewisse Enttäuschung, wenn das Ensemble, in dem er als Schlagzeuger beschäftigt war, an Komponist:innen Auftragswerke vergab und das Ergebnis, das diese vorlegten, so gar nicht seinen Erwartungen entsprechen wollte.
“Da habe ich mir irgendwann gesagt, wenn ich so genaue Vorstellungen von so einem Stück habe, vielleicht sollte ich die einfach mal aufschreiben und selber meine eigenen Stücke komponieren.”

 

Feedback und Raumklang

Eine Werkreihe von Martin Lorenz für Instrumente und Live-Elektronik heißt “Oscillations”. Darin arbeitet er mit dem Feedback, das entsteht, wenn Instrumente live im Raum aufgenommen und wieder eingespielt werden, und das er für komplexe Strukturen der Klangüberlagerung nutzt.

Im Jahr 2021 entstand für das im selben Jahr neu gegründte Ostschweizer Ensemble Orbiter die Komposition Swift Oscillations. Martin Lorenz spielt darin selbst das Vibraphon.

 


Das Kammermusikstück Swift Oscillations von Martin Lorenz aus dem Jahr 2021, gespielt vom Ensemble Orbiter im Kultbau St. Gallen.

 

Martin Lorenz arbeitete sich neben seiner Tätigkeit als Schlagzeuger und Komponist immer mehr in elektronische Klangerzeugung, Live-Elektronik und die Funktionsweise analoger und digitaler Synthesizer ein. Mit dem Projekt “Reviving Parmegiani” schließlich betrat er im Jahr 2014 gemeinsam mit den Pianist:innen Sebastian Berweck und Colette Broeckaert die komplexe Welt der historischen Aufführungspraxis elektronischer Musikwerke. Elektronische Musik zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen Performer:innen wieder aufzuführen, ist nämlich häufig gar nicht so einfach. Teils werden die verwendeten Synthesizer nicht mehr hergestellt, es gibt keine Updates mehr, oder das Computerprogramm, mit dem gearbeitet wurde, kann auf neuen Computern nicht mehr gestartet werden.

 

Historische Aufführungspraxis: Stries von Bernard Parmegiani

Weil den Ausführenden die Probleme der Zukunft häufig nicht bewusst sind, machen sie keine oder nur unzureichende Aufzeichnungen dazu, welche Sounds sie eingestellt haben und welche Synthesizer oder elektronischen Effekte sie verwendet haben. In “Reviving Parmegiani” war es das Stück Stries des französischen Komponisten Bernard Parmegiani (1927-2013) aus dem Jahr 1980, das wieder spielbar gemacht werden sollte. Parmegiani hatte das Stück für das Synthesizer-Trio TM+ aus Paris geschrieben. Von dem Stück gab es sogar verhältnismäßig gute Notate und eine Aufnahme, die als Klangreferenz dienen konnte. Trotzdem mussten sich die drei Performer:innen auf eine detailreiche Suche begeben, wie die entsprechenden Sounds jeweils erzeugt worden waren und wie sich die Klänge im Heute neu realisieren lassen.

“An einigen Stellen haben wir bis heute nicht herausgefunden, wie TM+ das genau gemacht haben”, sagt Martin Lorenz. “Manchmal ist es ja auch irgendeine schlecht verlötete Stelle in irgendeinem analogen Effekt oder Synthesizer – und das bleibt dann einfach für immer ein Rätsel.”

 

Martin Lorenz hat ein Gerät, vielleicht ein Mischpult, auf dem Schoß und widmet sich vertieft den bunten Kabeln und Knöpfen.
Portrait Martin Lorenz © Florian Japp

 

Die langwierige und zugleich höchst faszinierende Arbeit an Stries< wurde zum Startpunkt für das Synthesizer-Trio Lange/Berweck/Lorenz, mit dem Martin Lorenz bis heute regelmäßig zusammenspielt. Die drei Musiker:innen Silke Lange, Sebastian Berweck und Martin Lorenz vergeben immer wieder Kompositionsaufträge an zeitgenössische Komponist:innen, um das Repertoire für die ungewöhnliche Kombination von drei Synthesizern zu erweitern.

Dabei ist es ihnen wichtig, längerfristig mit den Komponist:innen zusammen zu arbeiten. “So eine erste gemeinsame Arbeit ist ja oft eher ein Herantasten”, sagt Martin Lorenz. “Erst bei einem zweiten Mal ist klar, was von uns zu erwarten ist, was wir gut können, und womit man uns vielleicht auch gut herausfordern kann.”

Und Herausforderungen sind etwas, das Martin Lorenz immer wieder aufs Neue sucht.
Friederike Kenneweg

 

Lange/Berweck/Lorenz, Silke Lange, Sebastian Berweck, Martin Lorenz, Akademie der Künste Berlin, KONTAKTE Festival,

Erwähnte Veranstaltungen:
23.09.2022 Konzertprogramm von Lange/Berweck/Lorenz beim KONTAKTE-Festival, Akademie der Künste, Berlin
28.09.2022 Lange/Berweck/Lorenz im Kunstraum Walcheturm Zürich

Erwähnte CD-Veröffentlichung:
“Bernard Parmegiani: Stries. Broeckaert/ Berweck/Lorenz”, ModeRecords, 2021

neo-profile:
Martin Lorenz, Ensemble Orbiter, Kunstraum Walcheturm Zürich

 

 

Thomas Adès, der Alchimist

Thomas Adès, einer der erfolgreichsten und meistgespielten Komponisten unserer Zeit ist im Sommer 2022 «Composer in residence» bei Lucerne Festival. Der 51-jährige Adès passt in vielerlei Hinsicht perfekt zum diesjährigen Motto «Diversity».

Moritz Weber
Allzu häufig ist es heutzutage nicht mehr, dass ein vielbeschäftigter und international aktiver Komponist auch noch regelmässig als Dirigent und Instrumentalist auftritt. Der Brite Thomas Adès aber tritt in der Musikwelt auf vielfältige Weise in Erscheinung: Neben seinem kreativen Schaffen gibt er Konzerte als Pianist, Kammermusiker und Liedbegleiter, spielt Werke ein, und er dirigiert zudem neben eigenen Werken auch das klassisch-romantische Repertoire.

 

Portrait Thomas Adès ©Marco Borggreve

 

 

In seinem Berufsalltag verwendet er die meiste Zeit fürs Komponieren, «denn ausser mir selbst kann niemand meine Stücke komponieren», sagt Thomas Adès lakonisch mit seiner tiefen Bassstimme.

Auch am Lucerne Festival tritt er in allen drei Rollen auf, sowie zusätzlich als Dirigier-Dozent. Spielen, dirigieren und komponieren vertragen sich bei ihm offenbar sehr gut, sagt er im Gespräch: «Das Klavierspielen läuft sozusagen immer mit, da ich am Klavier komponiere. Aber ich kann mich während der einen Tätigkeit auch gut von der anderen erholen. Im Gegensatz zum kreativen Prozess stehen beim Spielen etwa eher motorische Abläufe im Vordergrund. Die Finger müssen zudem fit bleiben, man muss sie trainieren wie ein Rennpferd», sagt Adès und zeigt seine eindrücklichen Pranken.

 

Zeit am Klavier für Imagination und Träume

Wenn er Zeit für sich hat, nicht für ein Konzert übt oder komponiert, nimmt er gerne irgendein Notenheft aus seinem Regal und spielt, worauf er gerade Lust hat. «Das stimuliert die Vorstellungskraft und das Träumen. Ich liebe es, die Musik Anderer zu spielen, ihre Gestalt und Form in der Zeit zu spüren.» Besonders oft ist es dann Schumann, und auch die Beethoven-Noten «schaffen es meistens nicht zurück ins Regal». Aber Adès nimmt auch die Werke von anderen grossen Komponisten wie Chopin, Haydn, Mozart oder Couperin immer wieder gerne hervor.

Auf François Couperin bezieht er sich denn auch explizit in drei seiner Werke, in der Sonata da Caccia (1993) für Horn, Barockoboe und Cembalo, Les baricades mistérieuses (1994) für Kammerensemble oder in den Three Studies from Couperin(2006) für Kammerorchester.

 


Thomas Adès, Three studies for Couperin for chamber orchestra, Tonhalle-Orchester, Dir. Alan Gilbert, 2006, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Adès lässt sich generell gerne von bereits existierender Musik inspirieren. Wie viele zeitgenössische Komponierende bezieht er sich auf diverse Stile und Epochen und ist kein Avantgardist im engen Sinn, der sich den radikalen Bruch mit jeglicher Tradition auf die Fahne geschrieben hat. Igor Strawinsky beispielsweise war und ist für Adès in mancher Hinsicht ein «Leitstern», eine Art «Vaterfigur».

 

Vielfältige, brillante Musik

 

Schon in seinen frühen 20ern gelang Thomas Adès der internationale Durchbruch. Kompositionen wie Still Sorrowing (1992) für präpariertes Klavier ernteten Lobeshymnen, und seine steile Karriere wurde unter anderem dadurch weiter befeuert, dass er für sein erstes grosses Orchesterwerk Asyla (1997) mit dem renommierten Grawemeyer Award ausgezeichnet wurde – Adès war damit der jüngste Komponist, der diesen Preis erhielt.

 

Oper über eine Ausgestossene

Kühn war seine Stoffwahl für sein erstes abendfüllendes Bühnenwerk, die Kammeroper Powder her face (1995). «Ich setzte mich mit dem Autor Philip Hensher zusammen und sagte ihm, dass ich gerne eine Oper schreiben würde über eine Person, die durch äussere Kräfte zu Fall gebracht wird. Dies würde gut zu meiner musikalischen Sprache passen.» Hensher schlug umgehend die medial breit ausgeschlachtete Skandal-Scheidung der Society-Lady Margaret Campbell vor. «Das können wir nicht machen», war Adès’ erste Reaktion, doch flugs kamen den beiden schon Ideen für einzelne Szenen.

In der daraus entstandenen tragikomischen Groteske über die Liebschaften der hedonistischen und lebenslustigen Duchess of Argyll konnte der Komponist seine humorvolle Seite einbringen. Aber nicht nur: «Es war eigentlich auch eine Geschichte über uns: zwei heranwachsende schwule Männer im London der 90-Jahre vor dem Hintergrund der Aids-Krise. Wir fühlten, dass die Gesellschaft, in der wir lebten, auch uns als skandalös, frevelhaft und sogar gefährlich ansah – eine Gesellschaft, die empört so tat, als hätte sie noch nie was von Oralsex gehört. Dies und die Scheinheiligkeit wollten wir ins Zentrum meiner ersten Oper stellen. Denn auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Die eine oder andere Eigenschaft dieser Gräfin steckt wohl in den meisten von uns.»

So entstand eine freche, schwungvolle und äusserst bühnenwirksame Kammeroper voller hinreissender Anklänge an Tango und Music Hall, inklusive einer musikalisch sehr expliziten Fellatio-Arie der Gräfin.

 


Thomas Adès, Powder her face, Ópera de Cámara Teatro Colón 2019

 

Gegen Ende des Stücks fand der Komponist andererseits auch einen berührenden Tonfall für die an der vorgegebenen Prüderie und Grausamkeit der Gesellschaft zugrunde gehenden Gräfin. Mitgefühl und Identifikation mit seiner Figur spricht dort aus jeder Note.

Zwei weitere abendfüllende, grösser besetzte Opern folgten nach diesem ersten Coup: Die moderne Shakespeare-Oper The Tempest (2003) und die von Luis Buñuels gleichnamigem Film inspirierte, übernatürlich-gruslige Oper The Exterminating Angel(2016).

 

Die Schöpfungsgeschichte als Klavierkonzert

Am diesjährigen Lucerne Festival wird auch eines der wenigen multimedialen Werke von Thomas Adès gespielt, ein Klavierkonzert über die Schöpfungsgeschichte mit dem Titel In Seven Days (2008) mit Visuals seines damaligen Lebenspartners, des Filmemachers und Videokünstlers Tal Rosner. Formal sind es Variationen über eine Akkordfolge, welche der Komponist schon für The Tempest im Sinn hatte, dort aber dafür keinen gebührenden Platz fand. Einer der besonders reizvollen Momente in diesem Konzertstück ist der fünfte Teil: Eine vertrackte Fuge, mit welcher Adès die Schaffung der Tiere und deren Auswuseln in die Welt darstellt.

 

Portrait Thomas Adès Photo © Marco Borggreve

 

Uraufführung des neuen Werks für Violine und Orchester mit Anne-Sophie Mutter

Die diesjährige Auftragskomposition der «Roche Commissions» ist ein Werk für Solist:in und Orchester: es heisst ganz schlicht «Air» (Arie bzw. Luft) und kommt im Konzert mit der Violinistin Anne-Sophie Mutter zur Uraufführung. Ganz anders als das erste, sich in wirbelnden Figuren hochschraubende 1. Violinkonzert Adès’ wirkt der Satz nach einem ersten Blick in die Partitur hier konzentrierter, ja fast reduziert. Hauptsächlich in ruhigen Viertelnoten entfaltet sich ein endlos scheinender Gesang, welcher während fast 15 Minuten in vom Komponisten so sehr geliebten ätherischen Höhen schwebt. «Die Ausdauer, die Konzentration, die Reinheit und die Klarheit ihres Spiels haben mich zu dieser Musik inspiriert» sagt der Komponist. «Musikalisch verschieben sich mehrere Linien in einem engen Kanon gegeneinander. Inhaltlich ist es ausserdem eine Kontemplation darüber, was wir während dieser Pandemie erlebt haben, eine Art Lamento. Ich habe während der Komposition die Textur immer mehr verdichtet, vieles weggestrichen – wie ich es oft tue – bis ich schliesslich zur Essenz der Musik vorgedrungen war.»

 

Ältere und neue Kammermusik

Die breit gefächerte Schau des Schaffens von Thomas Adès wird am Lucerne Festival mit Kammermusik abgerundet: Das Quatuor Diotima spielt das frühe Streichquartett Arcadiana (1996) und zusammen mit dem Klarinettisten Mark Simpson das im letzten Jahr uraufgeführte Klarinettenquintett Alchymia. Dieser Titel verweist auf die Alchimisten im London der Elisabethanischen Ära um 1600: «Ich denke alle kreativen Künstler:innen, und so auch ich, agieren sozusagen alchimistisch. Wir erwecken quasi regloses Material zum Leben, und wir verwandeln es durch eine Art Magie bestenfalls in Gold. In Alchymia konnte ich auf sehr intime Weise ausdrücken, wie ich mich persönlich fühle und was ich über die Welt denke.»
Moritz Weber

 

 

Thomas Adès, faber musicTal Rosner, Philip Hensher

Thomas Adès am Lucerne Festival – erwähnte Konzerte
20.8.22., 22h, Luzerner Saal KKL, Lucerne Festival Contamporary Orchestra, Dir. Elena Schwarz, u.a. In Seven Days
27.8.22., 19:30h, Konzertsaal KKL, Anne-Sophie Mutter, u.a. Air
4.9.22., 16h, Musikhochschule Salquin Saal, Kammermusik Quatuor Diotima

Sendungen SRF 2 Kultur
Musik unserer Zeit, 7.9.22, Redaktion Moritz Weber
Weltklasse live aus Luzern, 27.8.22, u.a. UA “Air”, Moderation Florian Hauser
MusikMagazin
, 10.9.22 Thomas Adès im Gespräch mit Moritz Weber
SRF-online-Text: Früher gemobbt, heute berühmt: Thomas Adès steht für Vielfalt, Autor Moritz Weber

Neoprofile
Thomas AdèsLucerne Festival Contemporary Orchestra

 

 

Natur und Kultur sind eng verwoben

String Creatures, Liza Lims neues Stück für das Jack Quartet aus den USA, kommt am Lucerne Festival am 14. August zur Uraufführung. Natur und Kultur in ihrem Verhältnis und das Zusammenspiel verschiedener Kulturen sind zentrale Themen im Werk der australischen Komponistin. Mit ihrem Blick auf die schwindende Schönheit der Natur sensibilisiert sie für ökologische Themen.
Ein Portrait.

 

Portrait Liza Lim ©Ricordi/Harald Hoffmann

 

Gabrielle Weber
Transkulturelle Ideen und Kollaboration, Schönheit der Natur, Wahrnehmung von Zeit, Ritual und ökologische Verbindungen – so beschreibt Liza Lim ihre künstlerischen Anliegen. Ihre Homepage mit eigenen blog zieren Aufnahmen von Natur – immer in Verbindung mit dem Menschen: im neusten post sind das Impressionen von Berliner Naherholungszonen, gerahmte Blicke aus dem Fenster, Ansichten von Häuserfassaden nachts im Grünen.

 

Die Aussicht aus Liza Lims Arbeitszimmer in Berlin ©Liza Lim

 

2021/22 war Liza Lim für ein Jahr lang composer in residence beim Wissenschaftskolleg (WIKO) in Berlin. Nach zwei Jahren pandemiebedingter drastischer Einschnitte ins Konzertleben sei sie vom lebendigen Berliner Konzertleben und den zahlreichen Begegnungen am WIKO euphorisiert gewesen, schreibt Lim. Die Schatten von Covid, der Kriegsausbruch in der Ukraine, die Unterstützung geflüchteter Kulturschaffender aber auch die emotionale Komplexität im Umgang mit Musiker:innen aus der Ukraine und Russland in Berlin hätten sie schwer beeindruckt. Die Stimmung sei in ihre neuen, dort entstandenen Stücke eingeflossen.

Der Blick aus dem Berliner Fenster hat einen inneren Zusammenhang mit ihrem künstlerischen Schaffen. Lim sieht Natur immer in Verbindung zum Menschen. Sie lebt eng auf die Natur bezogen. Und ihre Musik thematisiert Ökologie, Klimaschutz und die Veränderung der Umwelt durch den Menschen im Anthropozän, dem vom Menschen bestimmten Erdenzeitalter.

In Australien in der Grossstadt Perth am Indischen Ozean 1966 geboren, wuchs Lim in Brunei auf der Insel Borneo auf, bevor sie für die Ausbildung wieder nach Australien zurückkehrte. Die frühe Kindheit im Tropenparadies und das Verhältnis von westlicher und indigener Kultur und Natur in Australien prägen ihr Sensorium für Natur und Kultur, aber auch für das Zusammenspiel verschiedener Kulturen. Seit 2017 Professorin am Sydney Conservatorium of Music, schrieb Lim nebst Solo-, Kammermusik und Ensemblewerken u.a. vier Opern, bspw. Tree of Codes (2016), ein Musiktheater über Herkunft und Erinnerung und Zeit. Daneben arbeitet sie auch immer wieder genreübergreifend und installativ, wie 2011 zusammen mit dem Licht-Künstler Carsten Nicolai in Escalier du chant, einer architektonischen Intervention mit Performance, uraufgeführt mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart in der Münchner Pinakothek.

In Berlin entstanden mehrere Werke, in denen sie ihre aufwühlenden Eindrücke verarbeitete. Bspw. das Klavier-Orchesterwerk World as Lover, world as self, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2021.

 

Liza Lim, World as lover world as self for piano and orchestra, UA Donaueschingen 15.10. 2021, Orchestre philharmonique de Luxembourg, Dirigent Ilan Volkov, Tamara Stefanovich, Klavier.

 

World as lover, world as self ist geprägt vom Motiv der Trauer. Der Titel bezieht sich auf eine Publikation der Umweltaktivistin, Ökologin und Buddhistin Joanna Macy, deren Gedankengut Lim seit langem begleitet. Nach Macy könnten aus Trauer und einem tiefen Mitempfinden ein neuer Bezug zum Leben und umso grössere innige Freude entstehen.

 

Magische Seiltricks

 

Während ihres Berliner Jahres entwickelte Lim auch ihr neues 30minütiges Streichquartett String Creatures für das Jack Quartet. Auch String creatures befasst sich mit der Dualität von Trauer und Freude.

 

Workshop Jack Quartet, WIKO Berlin Januar 2022 ©Liza Lim: Hier setzt der Bratschist John Richards sein Instrument Seiltricks aus.

 

Das Quartett versteht Lim als lebendiges Ganzes, als hybriden mehrköpfigen Organismus. Die Streichersaiten haben für Lim etwas Magisches, sie seien als Material lebendig und beseelt. In einer Eingangssequenz mit Titel «Cats Craddle: 3 diagrams of griev» – Katzennest – drei Diagramme der Trauer befragt Lim die Streichersaiten als natürliches Material, das mittels Verknoten, Flechten oder Weben als Ursprung von Gewebe dienen könnte. An einem Workshop mit dem Quartett im Januar experimentierte sie mit magischen Seiltricks. Und Lim erwähnt im Gespräch als Inspiration auch Finger-Fadenspiele, wie sie Kinder miteinander spielen. Beides fand im übertragenen Sinn Eingang ins Stück, in ein sich immer wieder neu verflechtendes Klanggewebe.

String Creatures endet mit der Metapher des Baus eines Nests, des Inbegriffs von Geborgenheit: A nest is woven from the inside out – ein Nest wird von innen nach aussen gewoben. Der Vogel baut es rund um den eigenen Körper.

 

Nonverbale Kommunikation

 

Streichinstrumente spielen in Lim Oeuvre schon immer eine zentrale Rolle. Der Streicherklang steht für subtile nonverbale Kommunikation.  In ihrem grossen Ensemblewerk Extinction Events and Dawn Chorus (2018), unternimmt eine Geigerin in einer intimen Schlüsselszene den Versuch, einem Perkussionisten auf seinem Tamburin das Geigenspiel beizubringen. Die resultierenden Klänge haben eine eigene Schönheit, voll kratzender Harmonie. Die Kommunikation verläuft auf anderer Ebene als die Musik-sprachliche.

 


Liza Lim: Extinction, Events and Dawn Chorus, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO),Forward 2021, Dir. Mariano Chaicchiarini, Luzern 2021, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Liza Lim versteht es, Gegensätze in Schönheit zu verweben und dennoch ihr gelebtes Anliegen geltend zu machen. Wir Menschen sind verantwortlich für die Natur und für unser Zusammenleben. Das Schicksal des Planeten liegt in unserer Hand. Damit ist sie wegweisend für eine jüngere Komponist:innengeneration, die sich über Musik hinaus um die Konsequenzen unseres Handelns und die Zukunft unserer Welt sorgt.
Gabrielle Weber
Lucerne Festival, Konzert Sonntag, 14.8., 14:30hString creatures, UA Liza Lim &Jack Quartett,
Liza LimJoanna Macy, Carsten Nicolai, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Wissenschaftskolleg zu Berlin

Lucerne Festival, 8.8.-11.9.2022, widmet diese Ausgabe unter dem Motto Diversity insbesondere dem im Klassikbetrieb nach wie vor vernächlässigten musikalischen Schaffen von people of colour.

String Creatures geht nach Luzern auf Tournee in New York, Berlin, Schwaz und Melbourne.

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, 14.9.2022: Liza Lim – Verwebung von Natur und Kultur, Redaktion Gabrielle Weber

Musik unserer Zeit, 1.12.2021: Lucerne Festival Forward – neue Hörsituationen für neue Musik, Redaktion Gabrielle Weber


Neo-Profiles:
Liza Lim, Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)

Fritz Hauser – Perkussionist und verkappter «Synästhetiker»

Fritz Hauser, Perkussionist und Komponist erhielt einen der Schweizer Musikpreise 2022. Florence Baeriswyl traf ihn zum Gespräch.

 

Foto: Andreas Zimmermann

 

Florence Baeriswyl
Fritz Hauser, die Schweizer Musiklandschaft haben Sie seit langem mitgeprägt. Gab es schon Momente, in denen Sie das alles hinschmeissen wollten?

Ja, solche Momente gibt es immer wieder. Es hat viel weniger mit der Musik zu tun, als mit den Umständen. Es ist ein steiniger Weg, wenn man als selbständig erwerbender, freischaffender Künstler unterwegs ist. Manchmal sehnt man sich nach einer schön geregelten 5-Tage-Woche mit bezahlten Ferien. Aber: es ist ein grandioser Beruf und ich mache ihn wahnsinnig gerne.

Was hält sie in diesen Momenten an der Musik?

Ich bin ein verkappter «Synästhetiker». Ich interessiere mich enorm für andere Ausdrucksformen, sei es Malerei, Tanz, Film, Fotographie, oder Literatur. Ich sehe es ein bisschen wie der englische Regisseur Stanley Kubrick: Nichts ins inspirierender als Inspiration. Wenn ich wirklich nicht mehr weiterweiss, gehe ich ins Kino oder ins Museum oder lese ein Buch und dann fällt mir immer wieder etwas ein.

Perkussion ist Freiheit

 

In Ihrer Musik haben sie stehts den Austausch gesucht. Bei dem Projekt «Chortrommel», zum Beispiel, singen zwei Chöre zusammen mit Perkussion. Warum haben Sie sich für Chöre entschieden?

Das Schlagzeug ist ein sehr abstraktes Instrument. Es ist ein freies Feld, wo man mit Geräuschen und Klängen und Obertönen arbeiten kann, da die Trommeln und Becken keine Konnotation zu Melodie und Harmonie haben. Die Stimme kann sich gut anpassen und in dieses Feld eintauchen – dabei entstehen spannende Klangsymbiosen.

Perkussion ist also Freiheit?

Unbedingt. Ich kann auf Kleinstinstrumenten spielen, aber ich kann mir auch ein riesiges Instrumentarium zusammenstellen. Ich kann mich über freie Formen der Musik bis zu ganz klassischen Formen bewegen. Ich kann rhythmisch oder klanglich spielen, ich kann abstrakte Geräusche machen. Kurzum: ich kann aus allem schöpfen, was sich anbietet.

Die Klangflächen, von denen Sie sprechen, werden bei manchen Projekten sehr gross. Bei einer Kollektivperformance im Luzerner KKL, «Schraffur», haben 100 Teilnehmende mit Schlagzeugstöcken und Essstäbchen das Gebäude beschallt. Was gefällt Ihnen an solchen Grossformationen?

Ich liebe es, in grösseren Formationen zu arbeiten, denn der Klang wird immer abstrakter. Ich finde drei Schlagzeuge schon interessant, aber 50 Schlagzeuge sind spektakulär. Dazu kommt, dass ich gerne die Zusammenarbeit mit verschiedenen Arten von Ensembles suche. Ich fühle mich von verschiedenen Altersklassen und Kulturkreisen inspiriert.

 

“Für mich geht es primär um Reduktion.”

 

Sie sind aber oft auch fast ein Minimalist. Ist das nicht ein Gegensatz?

Ich habe Stücke geschrieben, die minimal sind, aber ich zähle mich nicht zu den Minimalisten. Für mich geht es primär um Reduktion. Es ist eine Art ‘Eindampfen.’ Das ist eher minimal maximal: Ich versuche aus kleinen Dingen das Grösste rauszuholen, und dadurch Klangflächen zu gestalten, die zeitlos sind.

 


Fritz Hauser, Schraffur für Gong und Orchester, Basel Sinfonietta, UA Lucerne Festival 2010

Der Raum als Partner der Musik

 

Ihr Soloprojekt «Spettro» nennen Sie «Eine Geisterverschwörung für Schlagzeug.» Was hat es damit auf sich?

Seit über 30 Jahren besitze ich ein Haus in Italien, welches in der Nachbarschaft «La casa delle masche», also «Das Geisterhaus» genannt wird. Glücklicherweise machen mir die Geister nichts, sie inspirieren mich eher. Zusammen mit der Regisseurin Barbara Frey haben wir für dieses Projekt die Energie des Hauses genommen, um eine Art Schlagzeug-Ritual entstehen zu lassen. Wir haben uns mit den Geistern verschwört, um die Art von Musik zu machen, welche die Geister wahrscheinlich in meiner Abwesenheit spielen.

 

“La casa delle masche” (“Das Geisterhaus”) Foto: Fritz Hauser

 

«Spettro» haben sie später auch im Konzertsaal von Zaragoza aufgenommen – der hat einen besonderen Klang. Was verbindet in Ihren Augen die Musik mit dem Raum?

Der Raum ist der Partner in der Musik. Vor vielen Jahren habe ich als Schlagzeuger in einer Rockband angefangen. Damals haben wir versucht, unsere Klangästhetik den Räumen aufzuzwingen. Als ich dann begonnen habe, solo zu spielen, wurde mir klar: ich kann den Raum nicht bezwingen, sondern der Raum spielt mit. Besonders gefällt es mir, wenn der Raum hallt. Ich habe in Kirchen und Kathedralen gespielt, sogar in Parkgaragen. Aber auch eine kleine Telefonkabine kann interessant sein.

 


Fritz Hauser, Spettro – Solo für Schlagzeug, Fritz Hauser Schlagzeug, Regie Barbara Frey, Licht Brigitte Dubach, Ausschnitt, UA Lucerne Festival 2018

 

Mit dabei in Zaragoza war der Architekt Boa Baumann. Mit ihm arbeiten und reisen sie schon lange zusammen – sie haben zum Beispiel zusammen Ihr Haus in Italien designt.

Mit Boa Baumann verbindet mich eine lange Freundschaft und eine Gemeinsamkeit in Ästhetik und verschiedensten Fragen der Kultur. Seit gut 30 Jahren arbeiten wir zusammen und versuchen, jenseits der professionellen Kompetenz die Inspiration wirken zu lassen. Das heisst, ich mische mich in seine Projekte, er mischt sich in meine. Ich lasse mich von seiner Idee von Raum und Zeit und Gestaltung inspirieren.

Zum Beispiel?

Vor einigen Jahren habe ich ein Soloprogramm angedacht, bei dem ich mit vielen Becken arbeiten wollte. Als Schlagzeuger stellt man normalerweise seinen Stuhl hin und arrangiert die Instrumente einfach im Kreis um sich herum. Boa hat das gar nicht gefallen. Er schlug vor, auf einem acht Meter langen Tisch eine Becken-Landschaft zu bauen. Das sah aus wie eine Skyline von einer amerikanischen Grossstadt. Ich konnte räumlich ganz anders denken und die Dynamik der Körperbewegung einbringen. Dadurch ist eine andere Musik entstanden.

 

Fritz Hausers Beckenlandschaft erdacht von Boa Baumann © Christian Lichtenberg

 

Nebst dem Raum habe Sie sich auch viel mit Licht beschäftigt. Brigitte Dubach, die Emmentaler Lichtgestalterin, begleitet oft ihre Projekte. Wie passen die Musik und ihr Licht zusammen?

Wenn Brigitte mit Lichtdesign meine Programme begleitet, dann ist sie wie eine Musikerin, die mitspielt. Sie hat ein unglaubliches Gefühl für Farben und Verläufe von einer Stimmung in die andere. Das passt sehr gut zu mir, denn ich habe eine metamorphische Art, Schlagzeug zu spielen: etwas entwickelt ins andere und aus dem anderen entwickelt sich wieder was Neues. Besonders bei improvisierten Ansätzen muss Brigitte die Musik natürlich mitfühlen und entsprechend mit ihrem Licht Einfluss nehmen. Das macht sie auf wunderbare Art und Weise.

Woran arbeiten Sie im Moment?

Jetzt habe ich gerade eine Aufführung gemacht mit einer Weiterentwicklung meines Projektes «Point Line Area». Das habe ich letztes Jahr an der Ruhrtriennale realisiert mit 53 Schlagzeuger, verdichtet auf «nur» noch 20. Dafür haben wir zwölf Sängerinnen dazu komponiert. Dann geht es weiter Richtung kleinere Konzerte. Ich spiele am ‘überschlag’, einem internationalen Festival für Schlagzeug in Hannover Ende des Sommers ein Duo-Konzert – zusammen mit Johannes Fischer, einem Kollegen aus Deutschland. Wir dürfen eine Kirche bespielen und uns auch Zeit lassen, um verschiedene Experimente zu machen. Dieses Jahr werde ich noch verschiedene grössere Projekte realisieren, ich bin aber auch schon am Planen fürs nächste Jahr. Wenn alles klappt, dann bin ich nach wie vor sehr beschäftigt – obwohl ich ja offiziell schon schwer im AHV-Alter herumstiefle.
Florence Baeriswyl

überschlag – internationales Schlagzeug Festival 17.-21.8.22, Hannover und Niedersachsen
19.8.22,  22h: Performance Anima Fritz Hauser und Johannes Fischer
20.8.22: Meisterkurs Improvisation mit Fritz Hauser

 

Boa Baumann, Brigitte Dubach, Barbara Frey, Ruhrtriennale, Johannes Fischer

Sendung SRF 2 Kultur:
Kultur Kompakt, 20.8.18: Inszeniertes Konzert von Fritz Hauser beim Lucerne Festival,  Moderation Irene Grüter

Neoprofil:
Fritz Hauser

 

Mit historischen Synthesizern zum Klang der Gegenwart

Elektronische Musik ist die Leidenschaft der Komponistin Svetlana Maraš. Seit September 2021 ist sie Professorin für kreative Musiktechnologie und Co-Leiterin des Elektronischen Studios an der FHNW in Basel. Ihre Kompositionsklasse gestaltet das Radiokonzert der Schwerpunktwoche Classical and Jazz Talents von SRF 2 Kultur am 29. Juni, live übertragen am Radio.

 

Die Komponistin Svetlana Maraš, Foto von Branko Starčević
Die Komponistin Svetlana Maraš ©Branko Starčević

 

Friederike Kenneweg
„An der Hochschule zu arbeiten, ist natürlich eine Herausforderung an das Zeitmanagement, wenn man die eigene künstlerische Arbeit nicht aufgeben will“, sagt Svetlana Maraš.

Doch zu ihrer Erleichterung konnte die Komponistin feststellen, dass sich die beiden Tätigkeitsfelder nicht im Weg stehen, sondern gegenseitig ergänzen.

„Mit den Studierenden entdecke ich manchmal ganz neue Sachen, die wieder für meine eigene Arbeit fruchtbar sind. Es ist also nicht etwas komplett anderes, es ist eher wie ein Kontrapunkt zu meiner kompositorischen Arbeit.“

Die serbische Komponistin, die 1985 geboren wurde, absolvierte zwar eine eher klassische musikalische Ausbildung, mit frühem Klavierunterricht, dem Besuch einer Schule mit Musikschwerpunkt und mit einem Kompositionsstudium. Zugleich gab es da aber immer das Interesse an den Möglichkeiten der elektronischen Klangbearbeitung, das sie zu internationalen Workshops und Kursen führte und schließlich zu einem Abschluss in Sound- und Medienkunst im Media Lab der Universität in Helsinki.

 


Das Kammermusikwerk Dirty thoughts von Svetlana Maraš aus dem Jahr 2016

 

Von 2016 bis 2021 war Svetlana Maraš Composer-in-residence und zugleich künstlerische Leiterin des Elektronischen Studios von Radio Belgrad. Eines der technischen Glanzstücke dort ist der EMS Synthi 100, ein analoger Synthesizer aus dem Jahr 1971, von dem nur drei Stück gebaut wurden. Maraš setzte sich intensiv mit den Möglichkeiten dieses Instrumentes auseinander und nutzte ihn in verschiedenen ihrer Kompositionen, unter anderem in ihrem Radio Concert Nr. 2, das 2021 für das Heroines of Sound Festival in Berlin entstand.

Der EMS Synthi 100 ist allerdings so groß und schwer, das er nicht an einen anderen Ort transportiert werden kann. Der Studioraum wiederum ist so klein, dass dort kein Platz ist für größeres Publikum. Also wurde die Live-Performance aus dem kleinen Studioraum per Videostream zum Festivalort übertragen.

Einige Teile des Stückes sind festgelegt, doch Maraš schafft sich darin Räume, innerhalb derer sie improvisieren kann. Und dabei kommt ihr zugute, dass sie das Instrument schon so lange erforscht hat. „Es ging nicht mehr darum, was das Instrument kann, sondern darum, was ich mit dem Instrument machen will.“

 

Hommage an die frühe elektronische Musik

Den Klangreichtum des historischen Synthesizers ergänzte sie mit den Möglichkeiten des Computers. Svetlana Maraš nutzte aber auch die alte, analoge Technik des Tonband-Loops in ihrem Radio-Konzert – als Hommage an die frühe elektronische Musik, mit der sie sich immer in einem Dialog sieht. Und tatsächlich sind es die Bilder der Pionierinnen der elektronischen Musik wie Delia Derbyshire, Daphne Oram und Éliane Radigue, die vor dem inneren Auge aufscheinen, wenn man Svetlana Maraš dabei zuschaut, wie sie an den Reglern und Knöpfen des EMS Synthi 100 dreht.

Im Elektronischen Studio Belgrad gab es vor Svetlana Maraš nur eine einzige Frau, die dort Werke produziert hat: die Komponistin Ljudmila Frajt (1919-1999). Als künstlerische Leiterin des Studios widmete Svetlana Maraš dieser Vorreiterin ein eigenes Konzertformat, um auch hier der Vorgängerin die Ehre zu erweisen.

 

Die Komponistin Svetlana Maraš dreht an den Reglern des EMS Synthi 100
Svetlana Maraš dreht an den Reglern des EMS Synthi 100 im Elektronischen Studio von Radio Belgrad.

 

Einen wichtigen Unterschied von damals zur heutigen Zeit sieht Svetlana Maraš allerdings darin, dass die analogen Studiosynthesizer heute nicht mehr als Workstations für vorproduzierte elektronische Musik dienen, sondern live verwendet werden – wenn das auch manchmal über den Umweg des Video-Konzerts passieren muss.

 


Svetlana Maraš, Ausschnitte aus Post-excavation activities von. 2020

 

Beim diesjährigen Heroines of Sound– Festival in Berlin wird die Uraufführung von Scherzo per oscillatori für Minimoog von Svetlana Maraš zu hören sein. Hier spielt die Komponistin aber nicht selbst das Instrument, sondern das Stück wird von dem Pianisten Sebastian Berweck interpretiert. Das stellte in der Vorbereitung eine besondere Herausforderung für die Komponistin dar, musste sie doch erst eine Art der Notation für die Einstellungen des Synthesizers entwickeln.

 

Die Einfachheit des Synthesizer-Klangs entdecken

Bei der Entwicklung des Werkes war Svetlana Maraš auf der Suche nach einer gewissen Einfachheit des Klangs: von dem ausgehen, was der Synthesizer mitbringt, ihn klingen zu lassen, ohne es besonders kompliziert zu machen. Diese Einfachheit kann dann aber ganz unterschiedlich klingen: ein Klicken. Ein Knacken. Eine interessante Klangveränderung oder Verschiebung über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Etwas, das einem wie ein Fehler vorkommt. Aber in der elektronischen Musik ist auch das Erzeugen des Einfachen schon recht komplex: Jede Festlegung auf einen Klang setzt eine Vielzahl von Entscheidungen bei den unzähligen Parametern voraus, die innerhalb des Instruments gestaltet werden können.

 

Elektronische Musik im Radio

Mit der Unendlichkeit der Möglichkeiten umzugehen, die einem die Computertechnologie bereitstellt, ist etwas, das Svetlana Maraš auch ihren Studierenden nahebringt. Wenn sie davon spricht, ist ihr die Begeisterung deutlich anzumerken: „Es ist eine tolle Erfahrung, den Studierenden dabei zu helfen, ihre eigene künstlerische Stimme zu finden. Ich bin so zufrieden mit den Projekten, die sie entwickelt haben – das macht mich wirklich glücklich.“

In diesem Jahr bietet sich den Studierenden noch eine besondere Möglichkeit, am Ende des Semesters ihre Projekte der Öffentlichkeit zu präsentieren: ein Radiokonzert. In der Schwerpunktwoche Classical and Jazz Talents widmet sich SRF 2 Kultur vom 26. Juni bis zum 3. Juli dem musikalischen Nachwuchs. Am 29. Juni präsentieren Studierende des Elektronischen Studios der FNHW für diesen Anlass in Zusammenarbeit entstandene, vorproduzierte elektronische Werke im Auditorium des Meret-Oppenheim-Hochhauses (MOH) in Basel, live übertragen am Radio. Danach kommt das Stück Welcome to the Radio! von Maraš’ Kompositionsstudent Dakota Wayne zur Uraufführung, interpretiert durch das Noise Ensemble des Elektronisches Studios Basel: eine fiktive Talkshow, für die er u.a. Jingles von Radio SRF 2 Kultur gesampelt hat.

 


Dakota Wayne, Welcome to the Radio!, UA Basel 2022, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Auch diesen Auftritt im Radio betrachtet Svetlana Maraš vor dem Hintergrund der Tradition: „Das hilft den Studierenden, die Bedeutung des Radios für die elektronische Musik zu verstehen. Auch wenn das Radio als Medium etwas in den Hintergrund getreten ist: wenn man fürs Radio komponiert, fügt das etwas zur Musik hinzu. Verändert die Form, die Dramaturgie, die Materialauswahl… Ich bin froh, dass wir dieses Jahr diese Erfahrung machen und zusammen daran arbeiten können.“
Friederike Kenneweg

 

Erwähnte Sendungen SRF 2 Kultur:
Classical and Jazz Talents: 26. Juni bis zum 3. Juli 2022: Schwerpunktwoche zum musikalischen Nachwuchs: Vollständiges Programm als pdf

Neue Musik im Konzert, 29.6.22: Classical and Jazz Talents – Live aus dem SRF-Auditorium, Redaktion Annina Salis: Livekonzert Neue elektronische Musik mit den Studierenden von Svetlana Maraš – Elektronisches Studio Basel.

7.-9. Juli 2022: Heroines of Sound Festival im Radialsystem Berlin
Dort kommt in einem Konzert am 8. Juli 2022 um 20 Uhr im Radialsystem Berlin  das Scherzo per oscillatori für Minimoog von Svetlana Maraš, gespielt von Sebastian Berweck, zur Uraufführung.

Svetlana Maraš, Dakota Wayne, Sebastian Berweck, Elektronisches Studio Basel, FHNW Basel

Über das Elektronische Studio des Radios Belgrad, Podcast über Ljudmila Frajt

neo-profile:
Svetlana Maraš, Elektronisches Studio Basel,  Tim Shatnyy, Dakota Wayne, Anton Kiefer, Cyrill Jauslin, Louis Keller, Isaac Blumfield, Janik Pokorny, Minh Phi  Guillod

 

Geteilte Aufmerksamkeit – Leo Hofmann und seine Hörräume

Friedemann Dupelius
„Mit welcher Maschine würdest du gerne mal essen gehen (Smartphones zählen nicht)?“ – Leo Hofmann überlegt und entscheidet sich für ein rollendes, selbstspielendes Klavier, auf dem er auch selbst mal spielen kann.
Die Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen, oder hipper formuliert: zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen, sind derzeit ein beliebtes Thema in Kunst und Diskurs, nicht zuletzt ausgelöst durch die neueste Hype-Welle um Künstliche Intelligenz. In ihrem Musiktheater-Stück All watched over by machines of loving grace behandeln der Komponist Leo Hofmann und der Regisseur Benjamin van Bebber diese Relationen in intimen Bühnen-Situationen. 1967 schrieb Richard Brautigan in seinem gleichnamigen Gedicht von einer „cybernetic meadow / where mammals and computers / live together in mutually / programming harmony“, also einer „kybernetische(n) Wiese, auf der Säugetiere und Computer in programmierter Harmonie zusammenleben“.

 

Leo Hofmann im Kunsthaus Langenthal

 

Die Utopie, die Brautigan beschreibt, entspringt der Hippie-Ära. Die Gegenbewegungen der 1960er-Jahre sahen in der aufkommenden Computertechnologie ein revolutionäres, humanistisches Potenzial für eine bessere Welt. Sogar die Gründungen der ersten Firmen im Silicon Valley lassen sich darauf zurückführen. Lang ist’s her.

Nach einer coronabedingten Film-Premiere von All watched over… im Jahr 2021 feierte das Stück im Mai seine Premiere in physischer Ko-Präsenz im Roxy Birsfelden. Im Juni findet sich der gemischte Chor nochmals für zwei Aufführungen im Berliner Ballhaus Ost zusammen.

 


Film: All watched over by machines of loving grace

 

Menschliche und nichtmenschliche Klangkörper

Wie die Technologien des 21. Jahrhunderts unser Zusammenleben verändern, davon handelt das Musiktheater All watched over…. Dabei geht es insbesondere um Klang. Wie lässt sich inmitten der omnipräsenten Dauerbeschallung verantwortungsvoll handeln? Wo entsteht Raum für Intimität? Und was ist das mit den Maschinen und uns? Der „extrem gemischte Chor“, den Hofmann und van Bebber für ein anderes Projekt gegründet hatten, stellt den menschlichen Part der Akteur:innen auf der Bühne. Extrem gemischt heißt, dass hier Profis und sogenannte Laien mit unterschiedlichsten Hintergründen singen. Hinzu kommen nichtmenschliche Klangkörper, etwa Lautsprecher. Hier zeigt sich ein Spezifikum der Arbeit Hofmanns und van Bebbers. „Ich bin elektronischer Komponist und denke vom Hörspiel und vom Lautsprecher aus“, sagt Leo Hofmann. „Wenn man mit fertiger Musik arbeitet, schafft das eine neue Freiheit auf der Bühne. Es stellt sich die Frage nach einer Ko-Präsenz in der Inszenierung.“

Dafür haben Hofmann und van Bebber für sich den Begriff der „Ergänzungshandlung“ gefunden. Was machen befreite Körper, wenn die Musik aus dem Lautsprecher kommt und nicht erst performt werden muss? Die Performer:innen werden zu ko-präsenten Vermittler:innen der Musik und können durch kleine Handlungen und Gesten die Aufmerksamkeit auf bestimmte musikalische Details lenken. Einen anderen Begriff finden die Musiktheatermacher beim Prinzip des „Ritournelle“ von den Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Demnach eröffnet sich die Option, einen eigenen akustischen Handlungsraum zu schaffen, etwa indem der oder die Performer:in durch leises Summen oder Murmeln ein inneres Sicherheitgefühl etabliert, aus dem heraus der Chor in All watched over… improvisatorisch agieren kann. Leo Hofmann spricht gern von einem Hörraum, in den Performer:innen und Publikum gemeinsam eintreten und in dem dadurch eine „geteilte Aufmerksamkeit“ entstehe.

 


Leo Hofmann: Ritournelle

 

Gastfreundschaft im Musik-Haushalt

Einen solchen Hörraum richtet das Duo auch im Juli bei den Musikinstallationen in in Nürnberg ein. Das Festival findet erstmals statt und möchte den Raum als zentrales Erfahrungsmoment von Musik erforschen – in bewusster Abgrenzung zu Formen wie Klanginstallation, Musiktheater oder Konzert. Leo Hofmann interpretiert die Vorgabe so: „Darin liegt für mich ein Versprechen, dass durchgehend Musik von agierenden Körpern produziert wird, die aber instabil sind.“ Wobei, könnte nicht schon eine Bar mit Hintergrundbeschallung, mit dem richtigen Framing als Musikinstallation bezeichnet werden? Anyway, bei Hofmann und van Bebber erklingt die Musik live. Für die vier Festivaltage nisten sie sich in den kollektiven Räumlichkeiten der Nürnberger Band Borgo ein und haben verschiedene Musiker:innen zu Gast. „Wir möchten Gastfreundschaft auf verschiedenen Ebenen verhandeln. Es wird kein Werk, kein Totalraum, sondern wir leben, schlafen und essen für vier Tage in diesem Raum, machen ein Tagesprogramm und unsere Gast-Musiker:innen bringen mit, was sie schon haben“, erzählt Leo Hofmann. Die Composer-Performerin Francesca Fargion etwa komponiert Schlafsongs und arbeitet mit ästhetisierten Tagebüchern. Ein Besuch bei Hofmann/van Bebber soll wie ein Hausbesuch funktionieren. Im Gegensatz zu oft autark laufenden Klanginstallationen wird dieser musikalische Haushalt erst durch seine Bewohner:innen und Gäste klanglich aktiviert. Das Publikum ist selbstverständlich ebenso in diesen Raum geteilter Aufmerksamkeit eingeladen.

 


Leo Hofmann: Kapriole, erschienen 2022 bei Präsens Editionen

 

Intime Kapriolen

Eine andere Art inszenierter Hörräume verewigte Leo Hofmann im Frühjahr 2022 auf Vinyl-Platte. Zwar ist der Absolvent der Hochschule der Künste Bern in den letzten Jahren vor allem mit seinen Musiktheater-Produktionen in Erscheinung getreten, doch schon viel früher hatte er Hörspiele und Musik produziert. Kapriole ist dennoch sein erstes „richtiges“ Musik-Album und erscheint beim umtriebigen Luzerner Label Präsens Editionen. Verteilt auf acht Tracks zeigt Leo Hofmann seine Interpretation zeitgenössischer Soundpraktiken. In seinen Live-Stücken setzt er sich häufig mit haptischen Audiotechnologien aus dem Consumerbereich, also beispielsweise Bluetooth-Boxen, auseinander. Vor allem interessiert ihn deren ästhetische und soziale Bedeutung – welche Hör-, Schutz- und Privaträume eröffnet zeitgenössische Audiotechnologie?

 

„Eigentlich höre ich privat nur Renaissance-Musik und Shoegaze-Bands.“ (Foto © Robin Hinsch)

 

Die Musik auf Kapriole klingt intim und nah, auch durch den behutsamen Einsatz von Stimme, die mitunter so wirkt, als sänge oder spräche sie nur für die Hörer:in selbst. Hofmann erzählt, dass die größte Herausforderung für ihn war, Platz im Hörraum zu schaffen. „Ich höre oft, dass meine Musik sehr dicht ist und viel Aufmerksamkeit erfordert. Bei der Arbeit an dem Album habe ich immer wieder entdichtet, weggenommen und Klänge im Hintergrund gelassen. Aber man soll auch jederzeit hinhören und etwas entdecken können.“ Ob in geteilter Aufmerksamkeit vor der Musiktheaterbühne oder auf der inneren Bühne zwischen zwei Ohrstöpseln: In den Hörräumen von Leo Hofmann kann man sich aufgehoben fühlen.
Friedemann Dupelius

 

11.+12. Juni, Ballhaus Ost, Berlin: Leo Hofmann & Benjamin van Bebber: All watched over by machines of loving grace

Hofmann/van Bebber im Interview über All watched over…

7.-10. Juli: Musikinstallationen Nürnberg – Festival for Space Time Body Musics 

Leo HofmannBenjamin van BebberPräsens Editionen, Richard Brautigan, Gilles Deleuze, Félix Guattari

neo-Profil: Leo Hofmann

Superinstrumente und schöne Monster – Xenakis wird 100

Zum 100. Geburtstag von Iannis Xenakis finden am 28. und 29. Mai 2022 die Xenakis-Tage Zürich statt. Initiiert hat das Festival der Musikwissenschaftler Peter Révai. Ihm gelang es 1986, Iannis Xenakis nach Zürich zu holen, an die von Révai gegründete «konzertreihe mit computer-musik». An den drei Konzerten der Xenakis-Tage wird die breite Palette von Xenakis Schaffen präsentiert.

 

Portrait Iannis Xenakis 1973 © les amis de Xenakis

 

Cécile Olshausen
Der Komponist Iannis Xenakis (1922-2001) wird meist mit drei Etiketten versehen: griechischer Widerstandskämpfer mit schwerer Gesichtsverletzung, Le Corbusiers Assistent (später auch Konkurrent), und musikalischer Mathematiker. Seine Tochter Mâkhi bringt einen weiteren und überraschenden Aspekt mit ins Spiel: sie berichtet, dass ihr Vater eigentlich ein Romantiker gewesen sei. Johannes Brahms war sein Lieblingskomponist. Das Buch, das Mâkhi Xenakis 2015 über ihren Vater geschrieben hat, erscheint dieser Tage in deutscher Übersetzung. Der Mitherausgeber Thomas Meyer wird an den Xenakis-Tagen in Zürich darüber berichten. Vater und Tochter verband eine liebevolle, aber auch ambivalente Beziehung. Xenakis wollte unbedingt, dass seine Tochter den mathematisch-naturwissenschaftlichen Weg einschlägt, erst dann sollte die Kunst kommen; so wie er es vorgelebt hatte. Als Kompromiss studierte Mâkhi Xenakis dann Architektur, aber sie wurde nicht Architektin, sondern Bildhauerin und Malerin.

Xenakis also liebte Brahms und entwickelte gleichzeitig visionäre Klangwelten. Er beschäftigte sich mit elektronischer Musik und Schlagzeug, da er hier ein grosses Potential nie zuvor gehörter Klänge sah.

 


Iannis Xenakis beschäftigte sich oft mit Schlagwerk, ein Instrument, in dem er ein grosses Potenzial an neuen Klängen sah, Rebonds B für Schlagwerk (1987-1989), Marianna Bednarska, Lucerne Festival 22.8.2019, Eigenproduktion SRG/SSR
Aber auch eine der traditionellsten Gattungen, das Streichquartett, verwandelte er in etwas Neues. Seine Streichquartette werden in Zürich gesamthaft aufgeführt, und zwar vom Arditti Quartet, für das Xenakis zwei der vier Quartette komponiert hat. Eine tour de force, denn die Werke sind rabiat schwer zu spielen.

 

«Superinstrument» Streichquartett

 

Goethes Bonmot, man höre beim Streichquartett «vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten» kann man dabei gleich vergessen. Denn Xenakis bricht mit fast allen Traditionen des Streichquartetts. Da gibt es keinen Austausch musikalischer Gedanken, keine Motiventwicklungen, keine individuellen Wortmeldungen. Vielmehr scheint Xenakis hier für ein einziges, verschlungenes «Superinstrument» zu schreiben. Ein Superinstrument, das durch den ganzen Tonraum rast, von extrem tief bis spitzig hoch, das seine Klangfarben ständig ändert mit unterschiedlichen Tremoli, mit Pizzicati aller Art und mit col legno-Partien, also mit dem Bogenholz gestrichenen oder geschlagenen Tönen. Und vor allem: Die vier Streicher sausen mit ihren Fingern über die Griffbretter und hinterlassen dabei regelrechte Feuerschweife. Gerade in den ersten beiden Quartetten (ST/4 und Tetras) ist das Glissando Xenakis liebstes musikalisches Mittel. Er erzeugt damit eine faszinierende Schwerelosigkeit des Klangs. Dieses Schwebende hat Xenakis auch in seiner Architektur verwirklicht: der von ihm für die Weltausstellung 1958 in Brüssel entworfene Philips-Pavillon mit seinen kühnen Kurven ist eine in Beton gegossene Glissando-Musik.

 


In Phlegra für Ensemble von 1975 lässt sich Xenakis’ Vorliebe für Glissandi gut hören, Ensemble Phoenix Basel, Dir. Jürg Henneberger, Gare du Nord, 3.11.2018, Eigenproduktion SRG/SSR

 

An den Xenakis-Tagen in Zürich werden aber auch Raritäten zu hören sein, die eine ganz andere Seite seines Schaffens offenbaren, nämlich Kammermusik, die an Volksmusik erinnert. Diese Kompositionen weisen weit in Xenakis Vergangenheit. Er wurde in Rumänien geboren. Die erste Musik überhaupt, die Xenakis als Kind hörte, war Volksmusik, die in seiner Geburtsstadt Brăila in den Kaffeehäusern und im Radio erklang. Die traditionelle rumänische und griechische Musik findet ein Echo in diesen Kammermusikwerken.

Ein weiterer Aspekt von Xenakis Schaffen wird in einer Matinée am Sonntagmorgen im Pavillon Le Corbusier gezeigt. Dort erklingt Xenakis letzte elektronische Komposition: GENDY3 aus dem Jahr 1991. Hier wurde Xenakis grosser Traum eines komponierenden Automaten Wirklichkeit. In GENDY3 kontrolliert der Computer mittels Zufallsoperationen nicht nur die Klangereignisse, also Rhythmus, Tonhöhe und Tonfolge, sondern auch die Klangfarben. Im Vergleich zu manch heutiger computergenerierter Musik, die keinesfalls nach Computer klingen soll, wird bei GENDY3 nicht versteckt, dass da eine Maschine komponiert, es röhrt und quietscht und brummt. Xenakis sagte einmal, er hoffe, seine Musik töne nicht «wie ein Monster». GENDY3 klingt aber tatsächlich wie ein lebendiges Ding, – ein fantastisches, schönes Monster.
Cécile Olshausen

 

Portrait Iannis Xenakis 1988 © Horst Tappe

 

Les amis de Xenakis, Iannis Xenakis, Johannes Brahms, Mâkhi Xenakis, Thomas Meyer, Arditti Quartet, Le Corbusier, Philips Pavilion, Peter Révai, Pavillon Le Corbusier

 

Xenakis Tage Zürich, 28. und 29. Mai 2022

Erwähnte Veranstaltungen:
Samstag, 28. Mai, 20h, Konzert Streichquartette, Arditti Quartet, Vortragssaal Kunsthaus Zürich
Sonntag, 29. Mai, 11h, Gesprächskonzert, GENDY3, Pavillon Le Corbusier
Sonntag, 29. Mai, 18h: Konzerteinführung mit Thomas Meyer / Konzert Kammermusik, Swiss Chamber Soloists, Kirche St. Peter Zürich

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 25.5.2022, 20h, Musik und Architektur – Iannis Xenakis zum 100 Geburtstag, Redaktion Cécile Olshausen
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 23.6.2021, 20h, Nackte Wucht: Iannis Xenakis’ “Metastasis”, Redaktion Moritz Weber

neo-Profile:
Iannis Xenakis, Arditti Quartet

Eine Seele – viele Seelen: Dieter Ammann 60

Dieter Ammann, Komponist grosser Orchesterwerke und bekennender Langsamschreiber feiert seinen 60igsten Geburtstag, u.a. mit Konzerten der Basel Sinfonietta und des Luzerner Sinfonieorchesters.

Musikredaktor Florian Hauser traf ihn zum persönlichen Portraitgespräch:

 

Dieter Ammann Portrait © Dieter Ammann

 

Eine Seele

… von Mensch. Der, wenn er sich Zeit nimmt, viel davon hat. Der fragt, erzählt, lacht und lebt, bei einem Interview zum Beispiel, bei Kaffee und Ostereiern und Tabak, und ganz langsam, unmerklich geht es zur Sache, geht es hinein in die verschiedenen Schichten der Konzentration. Oder – auch das kann sein – die Assoziationen springen nur so und die Themen jagen sich. Ein Treffen mit Dieter Ammann ist ein direkter Ausdruck dessen, wie es in seinem Inneren zugeht. Da wo sie wohnen: die …

 

Zwei Seelen

 

… in seiner Brust. Aus denen er Energie saugt: Da ist die improvisierende, vorwärts stürmende Seele, und da ist die komponierende, reflektierende. Sie befeuern sich gegenseitig, und die eine erscheint wie das Reversbild der anderen. Treffen sie aufeinander, entsteht ein Netz von Kräften, die in verschiedene Richtungen zerren und die Musik bis zum Zerreissen spannen. Beim Improvisieren zwingt einen der Auftritt, die Mitmusiker, der Groove dazu, im Fluss zu bleiben und immer weiterzumachen. Wenn er eine Idee hat, dann spielt er sie. Wenn er dagegen als Komponist eine Idee hat, dann zerlegt er sie, legt sie auf den Prüfstein. Da wird dieses Unbewusste angehalten. Die Zeit wird angehalten. Dann probiert er, experimentiert, klopft die Ideen ab, ob sie etwas taugen und wie viel sie taugen. So ist die Musik, die Ammann komponiert, wie eine eingefrorene Improvisation. „Wenn ich mit einem Stück fertig bin“, sagt der ausgesprochene Langsamschreiber Ammann, „ist es für mich wie ein Schmuckstück, ein Kleinod, das ich poliert habe. Ich lege es dann weg, schaue in die nächste Schachtel – und die ist wieder vollkommen leer. Dann beginne ich wieder von neuem.“

 

Von 2014 bis 2016 komponierte der Langsamschreiber Dieter Ammann sein Orchesterstück glut für Orchester, hier in der Aufnahme mit dem Lucerne Festival Academy Orchestra, Dir. George Benjamin, 1. September 2019, KKL Lucerne Festival, Eigenproduktion SRG/SSR

 

Viele Seelen

 

Mit Altrocker Udo Lindenberg oder Jazzlegende Eddie Harris hat Dieter Ammann gejammt, sich als Trompeter, Saxofonist und Bassist bei den Donkey Kongs und in Steven’s Nude Club ausgetobt, an den Jazzfestivals Köln, Willisau, Antwerpen und Lugano ist er aufgetreten.

Komposition und Theorie hat er studiert, bei Roland Moser und Detlev Müller-Siemens, bei Witold Lutoslawski und Wolfgang Rihm. Dann, Anfang der 90er, stellte ihn das Ensemble für Neue Musik Zürich in einem Konzert mit komponierenden Jazzern vor. Das war eine Initialzündung mit Folgen: erste CD, erste Auszeichnungen – er wird bekannt. Als composer-in-residence in Davos und anschliessend beim renommierten Lucerne Festival. Es regnet Preise: Schweizer Musikpreis, Hauptpreis der IBLA-Foundation New York, Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (den Siemens-Hauptpreis, den ‘Nobelpreis’ der Musik bekommt er irgendwann auch noch…)

 

Was ist so besonders an Ammans schneller, vitalen Musik? Dass sie keinen Leerlauf kennt. Die ständige Bewegung und das Unerwartete kennt sie, und ständig kann sie implodieren oder explodieren.

Mit dem Ergebnis, dass sich die Energie seiner Musik unmittelbar mitteilt: Es ist nicht eine Musik, bei der man das Gefühl hat, man müsse sich erst durch eine dicke Schale beissen, bevor man an den Kern herankommt. Nein, die Kontaktaufnahme funktioniert schnell: Da wird man nicht nur eingeladen, sondern geradezu mitgezogen, mitgerissen.

 

Noch mehr Seelen

 

Das spüren und davon profitieren auch seine Student*innen. Seit über 30 Jahren unterrichtet Ammann an der Hochschule Luzern die Fächer Komposition Klassik, Komposition und Arrangement Jazz sowie Theorie Klassik. Er fördert und fordert die jungen Kolleg*innen, denn er ist beileibe keiner, der Nachfolger züchten will. „Ich will die Studierenden nicht in eine vornherein definierte ästhetische Richtung zwingen, sondern sie vielmehr dazu bewegen, ihren eigenen Weg zu gehen und die musikalische Sprache zu entwickeln, die in jedem Einzelnen von ihnen angelegt ist.“

 


Am Geburtstagskonzert der Basel Sinfonietta kommen auch zwei Orchesterwerke von Dieter Ammanns Student:innen zur Uraufführung, u.a. von der jungen, aus Armenien stammenden Komponistin Aregnaz Martirosyan (*1993), hier ihr Orchesterstück Dreilinden: UA durch das Armenien national Philharmonic Orchestra, am 14. Mai 2021

 

Wohin ihn seine eigene, in ihm angelegte Sprache noch führt? Wohin sie sich entwickelt? Keine Ahnung. Und das ist auch gut so. „Vielleicht ist es eben genau das: dieses Unsicher-Sein und dieses permanente Suchen, was mich am Komponieren wirklich reizt. Das Spannende am Komponieren ist eben dieses es-ist-so-noch-nicht-da und ich muss das jetzt irgendwie mir erarbeiten.“

 

Ammann ist nicht einer, der dem Selbstgelingen der Arbeit als Beobachter zuschauen kann. Aus der Vogelperspektive sozusagen. „Ich bin nicht der Vogel, ich bin eher der Frosch. Wenn ich zwei gekreuzte Grashalme vor mir sehe, muss ich mir überlegen, ob ich rechts oder links herum gehe, mittendurch schlüpfe oder darüber springe. Von oben betrachten kann ich die Grashalme aber nicht. Ein Beispiel: ich habe in der Vertikalen, also im Harmonischen, den Anspruch, dass jeder gesetzte Ton zu jedem anderen in einer sinnvollen Beziehung steht. Dass dies, gerade in einer Textur für Orchester, zu äusserst langwierigen Entscheidungsprozessen führt, liegt auf der Hand. Als intuitiv vortastender Komponist kann ich ja keinerlei Verantwortung an die Prädisposition des musikalischen Materials abschieben, da diese Vorformungen gar nicht existieren. Nebst der Tonhöhe gilt dasselbe natürlich auch für alle anderen musikalischen Aspekte, inklusive der nicht planbaren Gestaltwerdung der Gesamtform: ich bin in allen Belangen die einzige, immer ungesicherte (und unsichere) Beurteilungsinstanz.“

Ad multos annos, lieber Frosch!
Florian Hauser


Udo Lindenberg, Eddie Harris, Detlev Müller-Siemens, Witold Lutoslawski, IBLA-Foundation – New York, Ernst von Siemens MusikstiftungJazzfestival WillisauEstival Jazz Lugano
Basel Sinfonetta «Musik am Puls der Zeit», 23.5.22: Dieter Ammann – Sechzig Jahre im Groove, Gespräch mit Robin Keller und Baldur Brönnimann

 

Konzerte zum Geburtstag:
Basel Sinfonietta:
Donnerstag, 26. Mai, 19h, Stadtcasino Basel : 5. Abo-Konzert «60 Jahre im Groove», Dieter Ammann: «Unbalanced instability» für Violine und Kammerorchester (2013), «Core» (2002), «Turn» (2010), «Boost» (2000/01) für Orchester, Dirigent Principal Conductor Baldur Brönnimann, Solistin Simone Zgraggen (Violine)
18h Pre-Concerttalk Dieter Amman & Uli Fussenegger (Leiter Zeitgenössische Musik Hochschule für Musik FHNW) / Vorkonzert Studierende FHNW

Sonntag, 22. Mai,19h, Club auf dem Jazzcampus Basel: Dieter Ammann live in concert im intimen Rahmen als Improvisator auf Keyboards, an der Trompete und am Bass, mit Jean-Paul Brodbeck (Piano), Christy Doran (Guitar) und Lucas Niggli (Drums, Percussion)

Luzerner Sinfonieorchester:
Dieter Ammann zum 60. Geburtstag: “Glut”, 31. 5. 2022, KKL, 19:30h, Dir. Michael Sanderling

Sendungen SRF 2 Kultur:
Musik unserer Zeit, Mittwoch, 18.5.2022, 20h / Samstag, 21.5.2022, 21h: Durchwachte Nacht. Mit und zu Dieter Ammann, Redaktion Florian Hauser.

Musik unserer Zeit, Neue Musik auf dem Sofa, Mittwoch, 23.2.2022: u.a. über glut von Dieter Ammann, mit Doris Lanz und Marcus Weiss, Redaktion Benjamin Herzog
neoblog, 21.8.2020: Ich bin einer der langsamsten Komponisten Europas, Dieter Ammann im Gespräch zum Film Gran Toccata, Autorin Gabrielle Weber

Neo-Profile:
Dieter Ammann, Basel Sinfonietta, Wolfgang Rihm, Roland Moser, ensemble für neue musik zürich, Aregnaz Martirosyan, Davos Festival young artists in concert, Lucerne Festival ContemporarySwiss Music Prices, Luzerner Sinfonieorchester

Labyrinthische Spuren gegen fixe Systeme

Jaronas Scheurer
Die Münchener Biennale ist ein Festival für neues Musiktheater, das seit 2016 von Daniel Ott und Manos Tsangaris kuratiert wird. Die Uraufführungen des Festivals sprengen immer wieder die gewohnten Formate und führen das Publikum an überraschende Orte. So auch dieses Jahr vom 7. bis zum 19. Mai: zum Beispiel mit der Produktion
«s p u r e n» der jungen russischen Komponistin Polina Korobkova.

Ich treffe Polina Korobkova einen guten Monat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in einem gemütlichen Basler Café. Nach einem abgeschlossenen Kompositionsstudium in Moskau hat Korobkova in Zürich bei Isabel Mundry und in Basel bei Caspar Johannes Walter studiert. 2021 hat sie in Zürich ihren Master abgeschlossen und wohnt seit kurzem in Berlin. Weitere Studien betreibt sie nun bei Martin Schüttler in Stuttgart. Damit sind schon einige Fixpunkte für Korobkovas Schaffen abgesteckt: Ein waches, sensibles politisches Bewusstsein wie Mundry, ein Interesse für mikrotonale Klangwelten wie Walter und gründliches konzeptuelles Arbeiten wie Schüttler.

 

Die Komponistin Polina Korobkova, zVg. Polina Korobkova


Wendepunkt 24. Februar

Korobkova wirkt bei unserem Treffen erschüttert, jedoch gefasst ob der russischen Invasion in die Ukraine. Sie sei noch daran, die Geschehnisse zu verarbeiten und befinde sich noch im Schockzustand. Obwohl sie sich nicht mit Russland identifiziere, wird sie als gebürtige Russin unweigerlich damit in Verbindung gebracht. Für sie, die wie viele andere russischen Künstler:innen einerseits die russische Invasion vehement ablehnen und öffentlich kritisieren, andererseits beruflich und privat auch unter dem Krieg leiden, stellt der 24. Februar 2022, der Tag an dem Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, einen Wendepunkt dar. Es gäbe für sie eine Zeit davor und eine Zeit danach und sie sei sich gerade noch am neu sortieren und könne noch nicht sagen, wie das Danach überhaupt aussehen werde. Die russische Invasion betrifft auch ihre Münchener Produktion namens «s p u r e n». Der grosse Teil der Arbeit sei vor dem 24. Februar entstanden, aber die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine könnten nicht spurlos an ihrer Produktion vorbeigehen. Wie genau sich das im Resultat, das vom 12. bis 18. Mai an der Münchener Biennale gezeigt wird, niederschlagen wird, wisse sie jedoch noch nicht.

 


Polina Korobkova: flashbacks to perform i, UA: 2021: in der Zürcher Hochschule der Künste.


Verloren im Luftschutzbunker

Ihre Produktion «s p u r e n» ist konzeptuell auf jeden Fall so angelegt, dass der Thematisierung des Ukraine-Kriegs nichts im Wege steht. Die Produktion wird in den Kellerräumen der Hochschule für Musik und Theater in München gezeigt. Das Gebäude hat Adolf Hitler als «Führerbau» in den 1930er Jahren errichten lassen und die Kellerräume waren als Luftschutzbunker gedacht. Ab 1943 boten die Kellerräume, in denen «s p u r e n» spielt, jedoch nicht Menschen Schutz, sondern über 600 grösstenteils geraubten Gemälde, die Hitler in seinem «Führermuseum» in Linz ausstellen wollte. Davon sieht man heute jedoch keine Spur mehr. Die Kellerräume sähen, so Korobkova, alle gleich aus und böten äusserlich keinerlei Hinweise auf Zeit, Land oder ihre Geschichte. Nur ein ungutes, klaustrophobisches Gefühl aufgrund des fehlenden Tageslichts und der dicken Kellerluft bekäme man. Man fühle sich sehr verloren da unten.

Korobkova bespielt die Kellerräume mit einem Popsong, dessen Fragmente von fünf Sängerinnen live gesungen werden. Dieser Song klänge wie ein ganz normaler Popsong, auch der Text sei typisch. Doch aufgrund der persönlichen Geschichte dahinter – Korobkova schrieb diesen Popsong, als sie zwölf Jahre alt war – sei das auch sehr persönlich und intim. Durch die Platzierung dieses Popsongs in den vereinheitlichten, klaustrophobischen Kellerräumen entsteht ein starker Kontrast. Ein ganz anderes Setting als ein konventionelles Konzert – sowohl was die Räumlichkeiten, als auch was das Format betrifft. Denn Korobkova bespielt den ganzen Luftschutzbunker. Das Publikum wird durch die Anlage geführt und sitzt nicht auf zugewiesenen Stühlen.

 


Polina Korobkova: anonymous material i, UA 2020: in Apeldoorn (Holland) durch das Orkest De Ereprijs.

 

Unzählige historische Spuren

Zu dem Popsong und den fünf Sängerinnen gesellt sich die Aufnahme einer 36-tönigen Orgel, die durch einen vorprogrammierten Roboter bespielt wird. Diese Orgel namens Arciorgano steht an der Musik Akademie Basel und ist ein Nachbau nach einer Beschreibung des Komponisten und Musiktheoretikers Nicola Vicentino. Er war im 16. Jahrhundert tätig. Vicentino wollte mit dieser Orgel alle Stimmungsprobleme lösen, die damals ausführlich diskutiert wurden: er entwarf eine Art Super-Orgel, die die Idee der “Universalharmonie”, ein wichtiger Bezugspunkt für die Musikphilosophie der Renaissance, mit der immer komplexer werdenden Harmonik vereinen sollte. Vicentino hat also die überbordende Musikpraxis der Zeit mit einem fixen, übergeordneten System zu bändigen versucht. Für Korobkova steht diese Orgel auch für den leicht diktatorischen Versuch, die wild wuchernde Welt der Musik in ein fixes System zu zwängen; daher auch die mechanische Spielweise und die Megafon-Lautsprecher, die an politische Repression egal welcher Couleur erinnern und über die die Orgelaufnahmen abgespielt werden.

Diktatorisch anmutende Megafon-Lausprecher, aus denen die mechanisch klickende Aufnahme einer Super-Orgel aus dem 16. Jahrhundert plärrt; fünf Sängerinnen, die den 08/15-Popsong eines Teenagers singen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufwuchs; die klaustrophobischen, identitätslosen Kellerräume, in denen vor knapp 80 Jahren die Nazis massenhaft Raubkunst lagerten: In
«s p u r e n» von Polina Korobkova fliessen sehr unterschiedliche historische Zeitschichten zusammen, unzählige Spuren sind darin angelegt. Doch alle kreisen irgendwie um die Problematik von fixen Systemen– seien sie nun musiktheoretischer oder politischer Natur. Und dieses Hinterfragen von fixen Gewissheiten und Systemen ist auch ihr kompositorischer Antrieb. Sie frage sich bei jedem Stück immer und immer wieder, wieso sie eigentlich komponiere und wo ihr Platz in der Kunst- und Musikwelt überhaupt sei.
Jaronas Scheurer

Münchener BiennaleManos Tsangaris, Isabel Mundry, Caspar Johannes WalterMartin SchüttlerNicola Vicentino, Arciorgano,  Arciorgano des Studio 31+Führerbau

Erwähnte Veranstaltungen
Die Münchener Biennale findet vom 7. bis 19. Mai 2022 an verschiedenen Orten in München statt.

«s p u r e n» von Polina Korobkova wird vom 12. bis 18. Mai 2022 im Luftschutzbunker der Hochschule für Theater und Musik an der Arcisstrasse 12 in München aufgeführt.

 

Profile neo-mx3:
Polina Korobkova, Daniel Ott, Isabel Mundry

Offen für Menschen und Musik

Friederike Kenneweg
„Es fällt gerade schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren“, sagt die Pianistin Tamriko Kordzaia, als ich sie Anfang März zu einem Zoom-Gespräch treffe. Wir sind beide erschüttert vom Krieg, der in der Ukraine begonnen hat. Aber für die Georgierin Kordzaia hat das Geschehen noch eine andere Bedeutung. „Ich bin hier natürlich auch gleich auf der Demo gewesen, und das hat gut getan, aber wenn danach alles wieder einfach so weiter geht, fühle ich mich hier auf einmal einsam…“

 

Die Pianistin Tamriko Kordzaia sitzt am Flügel und spielt konzentriert, vor ihr die aufgeschlagenen Noten.
Portrait Tamriko Kordzaia © Lorenzo Pusterla/ Kunstraum Walcheturm

 

Brücken zwischen Georgien und der Schweiz

Und dabei ist Tamriko Kordzaia schon lange als eine Art musikalische Botschafterin zwischen der Schweiz und Georgien unterwegs. Seit 2005 leitet sie das Festival Close Encounters, das sich zur Aufgabe gemacht hat, zeitgenössische Musik beider Länder gemeinsam zur Aufführung zu bringen. Alle zwei Jahre findet das Festival in der Schweiz und in Georgien statt. Dabei geht es Tamriko Kordzaia zum einen darum, die Musik zeitgenössischer Komponist:innen beider Länder gemeinsam zu präsentieren und so Begegnungen zu schaffen. In Georgien geht es aber auch darum, zeitgenössische Musik in ländliche Regionen weit abseits des hauptstädtischen Zentrums zu bringen. „Das ermöglicht allen Beteiligten – Musiker:innen wie Zuhörenden – immer wieder einmalige Erfahrungen“, betont Kordzaia.

In diesem Jahr werden zu Werken von Peter Conradin Zumthor und Cathy van Eck junge georgische Komponist:innen mit neuen Stücken vorgestellt. Und mit Alexandre Kordzaia (*1994) ist auch der Sohn der Pianistin beim Close Encounters Festival vertreten. Er kann selbst als vermittelnder Grenzgänger zwischen der Schweiz und Georgien gelten, aber auch zwischen klassischer und elektronischer Musik. Denn er komponiert nicht nur Kammermusikwerke, sondern ist unter dem Namen KORDZ auch als Clubmusiker bekannt.

 

Engagiert für einen vergessenen Komponisten

Es sind allerdings nicht nur die jungen georgischen Komponist:innen, die Tamriko Kordzaia bekannter machen will. In Zusammenarbeit mit zwei weiteren georgischen Pianistinnen hat sie sich auch der Wiederentdeckung des in Vergessenheit geratenen Komponisten Mikheil Shugliashvili (1941-1996) gewidmet. Im Jahr 2013 brachten die drei Pianistinnen die Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Shugliashvili zur Aufführung und veröffentlichten die erste Aufnahme des beeindruckenden Werks für drei Klaviere auf CD.

 

Ausschnitt einer Aufführung des Stückes Grand Chromatic Fantasy (Symphony) von Mikheil Shugliashvili beim Musikfestival Bern 2020

 

Brücken bauen zwischen Formationen, Epochen und Genres

Tamriko Kordzaia ist als Pianistin in ganz unterschiedlichen musikalischen Formationen aktiv. Sie spielt Soloauftritte, konzertiert im Duo mit Dominik Blum von Steamboat Switzerland oder mit der Cellistin Karolina Öhman, und ist seit 2008 Mitglied des Mondrian Ensembles, das selbst alle möglichen Kombinationen, die ein Klavierquartett ermöglicht, mit seinen Programmen abdeckt.

 

Die vier Musikerinnen des Mondrian Ensembles. Foto: Arturo Fuentes
Tamriko Kordzaia spielt schon seit 2008 im Mondrian Ensemble, zusammen mit Karolina Öhman, Ivana Pristašová und Petra Ackermann. Foto: Arturo Fuentes

 

Und schon lange ist Tamriko Kordzaia nicht nur eine Grenzgängerin zwischen den Ländern und Formationen, sondern auch zwischen den Epochen. Zu Beginn ihrer Karriere in Georgien hatte sie sich zunächst mit ihren Interpretationen von Mozart und Haydn einen Namen gemacht. Als sie aber an der Zürcher Hochschule der Künste ihre Studien fortsetzte, begann ihre Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik. Zum Beispiel mit den Werken des Schweizer Komponisten Christoph Delz (1950-1993), dessen sämtliche Klavierwerke Kordzaia im Jahr 2005 einspielte. Das Mondrian Ensemble, in dem Kordzaia Mitglied ist, hat es sich explizit zur Aufgabe gemacht, in seinen Programmen alte und neue Musik gemeinsam zu spielen und dadurch ungewöhnliche Zusammenhänge hörbar zu machen. Das Ensemble setzt in seinen Programmen auch Konzepte um, in denen Raum, Bühne oder Film eine Rolle spielen, und hat auch keine Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit Vertreter:innen des Jazz oder der Clubmusik.

 

Aufnahme des Mondrian Ensembles von Plod on von Martin Jaggi.

 

Über die lange Zeit, die Tamriko Kordzaia jetzt beim Mondrian Ensemble dabei ist, haben sich feste und regelmäßige Arbeitsbeziehungen ergeben, u.a. mit Komponisten wie Dieter Ammann, Felix Profos, Antoine Chessex, Martin Jaggi, Jannik Giger, Roland Moser und Thomas Wally.

 

sieben sonnengesichter

Ein besonderes Verhältnis hat Tamriko Kordzaia allerdings zur Musik von Klaus Lang, dessen Stücke schon in einige Programme des Mondrian Ensembles Eingang gefunden haben. Als die Corona-Pandemie das Konzertleben jäh zum Stillstand brachte, war es das Stück sieben sonnengesichter von Klaus Lang, mit dem sich Kordzaia, auf sich selbst zurückgeworfen, endlich einmal ausführlicher beschäftigen wollte. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung erschien 2021 auf CD.

 


Video von den CD-Aufnahmen der sieben sonnengesichter von Klaus Lang mit Tamriko Kordzaia am Klavier.

 

Arbeit mit der jungen Generation

Etwas, das Tamriko Kordzaia schon seit ihren Anfängen in der Schweiz begleitet, ist die Arbeit mit jungen Musiker:innen – eine Tätigkeit, die sie heutzutage richtig glücklich macht. An der Zürcher Hochschule der Künste gibt sie Klavierunterricht und hilft den Studierenden, den Weg zur eigenen Stimme bei der Interpretation nicht nur klassischer, sondern auch zeitgenössischer Werke zu finden. Und dort kommt sie auch mit jungen Komponist:innen in Kontakt, denen sie bei der Entwicklung ihrer Stücke beratend zur Seite steht. „Das ist so toll zu sehen, was diese jungen Leute für Ideen haben und wie sie weiter kommen. Das gibt mir immer Sinn und hilft mir weiter zu machen, auch wenn drumherum alles schwierig ist.“
Friederike Kenneweg

Erwähnte Veranstaltungen:
Festival Close Encounters:
Dienstag, 26.4.22 Kunstraum Walcheturm – Favourite Pieces
Donnerstag, 28.4.22 Stanser Musiktage – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Freitag, 29.4.22 Feilenhauer Winterthur – Georgische Musik mit dem Gori Frauenkammerchor
Samstag, 30.4.22 GDS.FM Club Sender Zürich – Tbilisi Madness

10 PIECES TO DESTROY ANY PARTY:
Im nächsten Programm des Mondrian Ensembles kommt das gleichnamige Stück von Alexandre Kordzaia zur Uraufführung, eine „Oper ohne Libretto in 6 Sätzen“ für Klavierquartett und Elektronik. Das Stück erzählt die Geschichte von drei Prinzessinnen, die angesichts ihrer Hochzeit anfangen zu zweifeln und schließlich ihr eigenes Fest sabotieren. Dazu kombiniert: Werke von Mauricio Kagel, Cathy van Eck und Bernd Alois Zimmermann.
Dienstag, 3.5.22 Gare du Nord, Basel
Mittwoch, 4.5.22 Kunstraum Walcheturm, Zürich
Donnerstag, 5.5.22 Cinema Sil Plaz, Ilanz

Erwähnte CD-Einspielungen:
Klaus Lang / Tamriko Kordzaia, sieben sonnengesichter: CD domizil records 2021.
Mikheil Shugliashvili/Tamriko Kordzaia, Tamara Chitadze, Nutsa Kasradze, Grand Chromatic Fantasy (Symphony) For Three Pianos: CD, Edition Wandelweiser Records, 2016.
Christoph Delz: Sils „Reliquie“ – 3 Auszüge aus „Istanbul“, CD, guildmusic, 2005.

Klaus Lang, Mikheil Shugliashvili, KORDZ, Christoph Delz

neo-Profile:
Tamriko Kordzaia, Festival Close Encounters, Mondrian Ensemble, Karolina Öhman, Petra Ackermann, Alexandre Kordzaia, Cathy van Eck, Peter Conradin Zumthor, Jannik Giger, Dieter Ammann, Martin Jaggi, Roland Moser, Felix Profos, Antoine Chessex, Zürcher Hochschule der Künste, Musikfestival Bern