Utopien wahr werden lassen: der Komponist Michael Wertmüller

Die Musik des Komponisten Michael Wertmüller klingt anarchisch, virtuos und hochenergetisch. Von der kürzesten Komposition bis zum immersiven raumumspannenden Musiktheater verschränkt er in seinen Werken Ansätze aus Jazz und zeitgenössischer Musik: immer dramatisch, intensiv und mit voller Wucht. Ein Porträt von Gabrielle Weber.

Porträt Michael Wertmüller zVg. Michael Wertmüller

Gabrielle Weber
Ich liebe einfach das Verrückte und verrückt zu spielen. Ich mag Virtuosität“, so Michael Wertmüller im Gespräch. Das Extrem ist für Michael Wertmüller die Norm. Seine radikalen, Genregrenzen sprengenden Werke sind hochkomplex. Meist verweben sie minutiös notierte zeitgenössische Musik mit Jazz, Pop, Rock und Improvisation. 

Der Schlagzeuger und der Komponist

Der Schlagzeuger Wertmüller spielte zunächst in verschiedenen Fusion-Bands. Von da an verlief der Weg zum Komponieren organisch: Die Musik die er spielen wollte, musste zuerst erfunden werden und so begann er sukzessive, Stücke für seine Bands selbst zu komponieren: „Es war ein Mix zwischen Jazz, Rock, Death Metal und Hardcore. Aus heutiger Sicht ein wildes Durcheinander, das gebändigt werden wollte und gebändigt werden musste“, meint Wertmüller.

Seine Auftritte als Schlagzeuger wie auch seine ersten Kompositionen sind geballte hochkonzentrierte Wucht. In „check_in_swiss“ improvisiert Wertmüller bei einem Soundcheck für die Band Full Blast ein dreiminütiges Solo in durchgängig hoher Intensität.


Michael Wertmüller, Schlagzeugsolo check-in-swiss, 2001.

Als Schlagzeuger, zuerst im Berner Sinfonieorchester, später im Concertgebouw Orchester in Amsterdam, faszinierten Wertmüller Intensität, Kraft und Dramatik des klassischen Orchesterapparats. „Es war ein Riesen-Genuss mitten in diesem Orchesterapparat mit zu verfolgen, wie die Instrumente miteinander kommunizieren, wie dieses Geflecht der Kompositionen zusammenhängt. Das hat mich ganz brennend interessiert.“ Konsequent verlagerte sich Wertmüller dann ab 1995 durch ein Kompositionsstudium bei Dieter Schnebel an der Hochschule der Künste in Berlin ganz aufs klassische Komponieren.

Michael Wertmüller der Perkussionist © Francesca Pfeffer

Gegensätze zusammenführen

Parallel tourte er laufend mit Bands weiter, zum Beispiel mit dem ausstrahlenden Jazz-Saxofonisten Peter Brötzmann und dem Bassisten Marino Pliakas im Trio Full Blast weltweit bis zu Brötzmanns Tod im Juni 2023. „Das Unterwegssein, das Spielen im Jazzkontext ist immer ein wahnsinnig wichtiger Einfluss gewesen. Und gleichzeitig ist die Komposition oder die im weiteren Sinne klassische Musik ein starker Einfluss, wenn ich spiele.“

Peter Brötzmann gilt durch sein energisches Spiel als radikaler Jazz-Innovator und war nebst Dieter Schnebel die prägende Persönlichkeit für Wertmüllers Komponieren. Ich kannte Brötzmann seit ich 22 alt war, noch vor meinem Studium bei Schnebel. Er hat mich quasi mitgezogen und mitgenommen.“

 


Michael Wertmüller, antagonisme contrôlé, Uraufführungs-Konzert  6.4.2014,  WDR-Funkhaus Köln. Peter Brötzmann (Saxophon), Marino Pliakas (E-Bass), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Ensemble Musikfabrik, Leitung Christian Eggen.

„Die freie Form des Jazz und die ganz strenge serielle Musik: Das ist ein Riesen-Spagat und das beeinflusst sich gegenseitig wahnsinnig stark.“ Wertmüllers „klassisches“ Komponieren führt beide Musikgenres zusammen. Für Peter Brötzmann als Solisten komponierte Wertmüller drei Werke, in denen er Brötzmanns Improvisationen in komponierte Partituren für Neue Musik-Ensembles einband. „Das machte Brötzmann sonst nie. Es war für mich eine Ehre und zeigte, dass er die Verbindung von beidem respektiert und ästimiert hat“.
In antagonisme contrôlé für drei Solisten, Brötzmann, Pliakas und Schlagzeugsolo, und das Ensemble Musikfabrik, setzt Wertmüller mit improvisierten Soli von Brötzmann und Pliakas einen Kontrapunkt zum streng ausnotierten Satz des 19köpfig-besetzten Kölner Ensemble Musikfabrik. Es geht ihm darum, zwei gegensätzliche Welten in eine Form zusammenzuführen, den freien Geist des Jazz und serielles klassisches Komponieren, so dass beide ihren Charakter behalten.

Verschiedene Klangkörper verbinden

Die Zusammenführung gegensätzlicher klanglicher Welten verbindet Wertmüller mit der Band Steamboat Switzerland: Seit seiner Gründung 1995 verschränkt das Trio, bestehend aus Marino Pliakas, E-Bass, Lucas Niggli, Perkussion, und Dominik Blum, Hammond-Orgel, seinerseits Jazz, Rock, Metal und Improvisation mit zeitgenössischer Musik. In den eigenen Konzerten kombiniert die Band jeweils komponierte kurze Stücke in modularer Art mit Improvisationen. Michael Wertmüller wurde seit den ersten Begegnungen in den neunziger Jahren zu so etwas wie einem Hauskomponisten der Band. „Steamboat ist die radikalste Band, die Noten spielen kann, die ich überhaupt kenne. So kann ich auch wie ein Verrückter komponieren und es wird dann auch so gespielt: in einer unglaublichen Radikalität, was natürlich grandios ist für mich“, meint Wertmüller über seine selbstbezeichnete Lieblingsband.

Später bezog Wertmüller das Trio in zahlreiche seiner grossen Musikprojekte ein, oft in Verbindung mit klassischen Klangkörpern. „Steamboat ist eigentlich ein wahnsinniger Motor, ein Generator. Diese Präzision, wie sie Material spielen. Das inspiriert definitiv auch ein klassisches Orchester“, so Wertmüller.


Michael Wertmüller, discorde für Hammond-Orgel, E-Bass, Drum Set und Ensemble, Uraufführung Donaueschinger Musiktage 15.10.2016, Steamboat Switzerland, Klangforum Wien, Dirigent Titus Engel.

In discorde, uraufgeführt an den Donaueschinger Musiktagen 2016, spielt das Trio zusammen mit dem Klangforum Wien, dirigiert von Titus Engel. Wertmüller inszeniert hier eine eigentlichen «battle» der unterschiedlichen Musikgenres. Es geht ihm aber nicht um den Gegensatz, sondern um das Gemeinsame: „Sie waren der Motor in dem ganzen Gefüge. Das war ein Zug, der voll in die gleiche Richtung fuhr.“

 

Moderne Dramen – Utopien

„Ich habe nicht den Anspruch, Stile zu vereinen. Ich habe eher das Gefühl, dass die Stile sich im Laufe meines Lebens komplett vermischt haben. Eigentlich ist es auch eine dramatische Angelegenheit, wenn sich das so vermengt. Für mich ist es ein modernes Drama.“

Das dramatische Vermengen von Gegensätzen setzt Wertmüller ab 2013 in fünf internationalen Musiktheaterproduktionen um, bisher am konsequentesten in der experimentellen Oper D.I.E für die Ruhrtriennale 2021, wo auch das Szenische und der Raum integriert werden. In einer ausgedienten Industriehalle, der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord, ist das Publikum im Zentrum platziert, umgeben von einem Rundum-Laufsteg, der Steamboat, einem Streichquartett, einer Punkband, einer Rapperin, einer Conferencière und klassischen Sänger:Innen als Bühne dient. Verlebendigte holografische Musikvisualisierungen und vergrösserte Skizzen des Bildenden Künstlers Albert Oehlen umhüllen das Ganze. Zu D.I.E. produzierte Michael Wertmüller eine exklusive, limitierte Vinylauskoppelung, zusammen mit Albert Oehlen, der das Cover gestaltete: Das Album Im Schwung mit der Sängerin Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 


Michael Wertmüller / Albert Oehlen, Im Schwung, Christina Daletska, Ruhrtriennale 2021.

 

Ich habe manchmal Vorstellungen von einer Musik, die man so noch nicht kennt oder die so noch nicht gegeben hat. Für mich hängt Kunst auch in großen Teilen mit Utopien zusammen und ich versuche in diesen Bereich zu kommen, wo Utopie vielleicht auch Realität werden kann.“
Gabrielle Weber

 

Sonderband Musik-Konzepte Michael Wertmüller, edition text+kritik, Hg. Ulrich Tadday, Dezember 2024.

Am 25.1.25 erlebt Wertmüllers nächste Oper die Uraufführung:
Israel in München, Uraufführung 25.1.25 Staatsoper Hannover.

Peter Brötzmann, Dieter Schnebel, Albert Oehlen, Christina Daletska, Marino Pliakas

Sendungen SRF 2 Kultur
Musik unserer Zeit, 18.12.2024: Michael Wertmüller und das Trio Steamboat Switzerland, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neue Musik im Konzert, 18.12.2024: Michael Wertmüller im Konzert, Redaktion/Moderation Gabrielle Weber.

Neoblog, 3.10.2020: Michael Wertmüller: “..der grösste Beethoven-Fan aller Zeiten..”, Autorin Gabrielle Weber.

neoprofiles
Michael Wertmüller, Steamboat Switzerland, Lucas Niggli, Dominik Blum, Titus Engel

Der Komponist Jessie Cox: Mit Musik durch die Planeten reisen

Jessie Cox ist vieles: Drummer und Komponist, Dozent an der Harvard University und Schweizer mit Wurzeln in Trinidad und Tobago. In seiner Musik und Forschung bezieht er sich auf den Afrofuturismus und reist durch irdische und kosmische Räume. Anfang Februar 2025 erscheint sein erstes Buch.

Friedemann Dupelius
„Space is the Place“ verkündete Sun Ra 1973 auf seinem gleichnamigen Album. Der afroamerikanische Komponist und Bandleader träumte nicht nur vom All als imaginäres Ziel – es war für ihn auch eine Metapher für eine neue und fortschrittliche Welt, in der es Schwarzen Menschen besser geht als auf der Erde. Jessie Cox nimmt Sun Ra beim Wort: Sein Stück Enter the Impossible Cosmos führt durch ein musikalisches Weltall. Er entwickelte es im Jahr 2022 für das Sun Ra Arkestra, das auch über 30 Jahre nach dem Tod seines Gründers fortbesteht.

 

Jessie Cox wuchs im Schweizerischen Biel/Bienne auf und lebt mittlerweile in Boston (USA) / © Adrien H. Tillmann

 

Anstelle von Venus und Saturn tragen die Planeten in Cox’ Kosmos Namen wie KB, RT oder LBD-Moon und statt einer Rakete ist es eine virtuelle Welt in der Gaming-Plattform „Unity“, mit der die Reise stattfindet. Sie ist zugleich der visuelle Score der Musik. Idealerweise sieht auch das Publikum diese Welt während der Aufführung des Stücks auf einem Screen, wenn sich die Musiker:innen durch das virtuelle All bewegen und dort verschiedene sogenannte „Adventures“ erleben.

 

Der musikalische Raum der Planeten

Enter the Impossible Cosmos hat Elemente von einem Rollenspiel: Die Planeten haben verschiedene Eigenschaften – festgelegt sind etwa ihre Schwerkraft, ihre Atmosphäre (z.B. gasförmig), ihre Entfernung zur Sonne und die möglichen Lebensformen auf ihnen (z.B. „sound-based life“). Das soll die Musiker:innen dazu animieren, sich eigene Klänge vorzustellen, die zu den Planeten passen, auf denen sie sich gerade während ihrer Reise im Stück befinden. Musikalische Orientierung geben bestimmte Tonhöhen-Bereiche und Klangfarben, die den Planeten zugeordnet sind. „Die Planeten sind Metaphern für musikalische Räume“, erklärt Jessie Cox. „Es geht darum, durch Klänge einen Raum in der Vorstellung zu kreieren. Die Imagination anderer Welten ist zentral im Afrofuturismus – und wenn es nur eine kleine, bessere Welt ist, die wir in der Musik schaffen können.“

 

Eine Aufführung von „Enter the Impossible Cosmos“ mit einem Ensemble des KASK & Konservatorium Gent von 2022

 

Das tun die Musiker:innen, indem sie einen „Character“ für sich auswählen, also in eine bestimmte Rolle schlüpfen. Jeder Character hat verschiedene Fähigkeiten, wie man sich im Kosmos bewegen und mit anderen interagieren kann: „Es geht um Beziehungen, um Encounters – ich mag dieses Wort mit diesem ScFi-Unterton“, sagt Cox. Die Adventures schließlich sind Anweisungen, sich in dem imaginierten All zu bewegen, die Position oder gar den Planeten (also die Klangwelt) zu wechseln. Keine Aufführung von Enter the Impossible Cosmos ist wie die andere, jede ist eine Reise ins Ungewisse. Angetreten werden kann sie mit beliebig großen und besetzten Ensembles.

Den weißen Raum krümmen

Auch Jessie Cox’ Komposition Black/blackness – After Mantra(s) für Klavier solo basiert auf demselben Prinzip, der selben Game World. Entstanden ist es in einem „Encounter“ mit der Thurgauer Pianistin Simone Keller und findet sich auf ihrem Album Hidden Heartache, das sich marginalisierten Komponist:innen der letzten 100 Jahre widmet. In diesem Stück ist einprogrammiert, dass sich die Planeten verändern, je nachdem wie oft man zu ihnen gereist ist. Die Pianistin ist mit „Sense Organs“ ausgestattet – einer speziellen Reihe von Methoden, das Klavier zu spielen.

 

„Black/blackness – After Mantra(s)“ erschien 2024 auf Simone Kellers Album „Hidden Heartache“

 

Bevor die Reise durch die Planeten beginnt, spielt Simone Keller am Anfang von Black/blackness – After Mantra(s) eine Tonleiter – gefühlt endlos schreitet sie nach unten, dann doch nach oben, und plötzlich ist da ein zu großes Intervall. Es wird klar: Der wohltemperierte Raum der weißen Tasten, die in immer gleichem Abstand zueinander angeordnet sind, wird gekrümmt und aufgebrochen. Für Jessie Cox ist das auch eine Anspielung auf ein akustisches Phänomen: „Im Weißen Rauschen sind alle Frequenzen zu gleichen Anteilen enthalten. Als Teil der Sound Art ist das White Noise heute etabliert und markiert das Weiße als eine bestimmte, normative Kondition des Daseins. Ich aber möchte das aufbrechen. Ich mag, dass der Begriff des Rauschens im Deutschen selbst eine Ambiguität mit sich bringt.“ Jessie Cox geht es darum, Räume zu öffnen, in denen Widersinniges stattfinden kann – und mit diesen Räumen auch unsere Beziehung zu ihnen, zur Umwelt und zum Leben überhaupt zu reflektieren. „Das bedeutet auch über Ausbeutung, Kolonialismus und Anti-Blackness nachzudenken – aber auch, positiver: über Blackness, Kreolität, Utopien und Solidarität!“

 

Jessie Cox’ Buch “Sounds of Black Switzerland” erscheint im Februar 2025 bei Duke University Press

 

Jessie Cox’ Forschungen und Gedanken der letzten Jahre sind nun in einem Buch gemündet: Anfang Februar 2025 erscheint mit Sounds of Black Switzerland ein Novum – das erste Buch, das sich dezidiert Schwarzem Musikleben in der Schweiz widmet. „Die Begriffe ‘Black Switzerland oder Afro Swiss’ waren während des Schreibens in kaum einer Publikation auffindbar. Ich möchte einen Diskurs öffnen, eine Sprache finden, wo es noch keine gibt. Musik kann eine Methode dafür sein.“ Quer durch die Genres, von neuer Musik über Rap und Elektronik bis zum Pop, stellt Cox Musiker:innen und Stücke vor und diskutiert an ihnen „Black Life“ in der Schweiz. Nicht zuletzt möchte Jessie Cox – mit dem Buch und mit seiner Musik – zu neuen Weisen des Hörens anregen. Es gibt einen weiten, noch unbekannten Space, den wir mit unseren Ohren erkunden können.
Friedemann Dupelius

 

Website Jessie Cox
Webseite Sun Ra Arkestra
Die Virtuelle Game World von „Enter the Impossible Cosmos“
Simone Keller: Hidden Heartache auf Bandcamp
Buch: Sounds of Black Switzerland (erscheint am 11.02.2025 bei Duke University Press)

Termine:
18.1.2025Uraufführung neues Stück mit dem Ictus Ensemble – Hellerau, Dresden
2.2.2025Uraufführung Black/blackness mit Simone Keller – Sonic Matter Festival Zürich
14.3.2025Uraufführung neues Stück mit Eklekto – Geneva Percussion Center

Weitere Artikel auf neo.mx3:
neo.mx3: Simone Keller – vergessene Klaviermusik wiederenteckt
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Neo-Profile:
Jessie CoxSimone Keller

Marc Kilchenmann: Der Vielseitige

Marc Kilchenmann mag es nicht, sich zu wiederholen. Aber der Komponist schätzt es, sich zu vertiefen, wenn er sich einer Thematik annimmt. Für sein Stück Murhabala hat er sich mit dem Iran und mit dem Freiheitskampf der Frauen dort auseinander gesetzt. In der musikalischen Form treffen Ober- und Untertonstrukturen teils harmonisch, teils in dissonanter Reibung aufeinander.
Ein Portrait von Friederike Kenneweg

 

Der Komponist Marc Kilchenmann. Portrait mit einem Hut. Foto von Paul Wyss
Der Komponist Marc Kilchenmann. © Paul Wyss

 

Friederike Kenneweg
“Ich weiß nicht genau, wo das herkommt, aber Persien, der Iran – das hat mich als Kind schon sehr fasziniert”, erzählt Marc Kilchenmann. “Es war dann auch später sehr präsent in meinem Leben. Ich habe ein bisschen persisch gelernt, viele iranische Filme geschaut und iranische Gedichte gelesen. Was mir ganz besonders gefällt, ist die Sprache. Es heißt, es sei die metaphernreichste Sprache der Welt.”

Wenn Kilchenmann etwas findet, womit er sich noch gar nicht auskennt, freut ihn das. So war es auch bei der Analyse der Streichquartette des US-amerikanischen Komponisten Ben Johnston, über die er seine Promotion geschrieben hat. “Bei Johnston habe ich mal fünfzehn verschiedene Terzen gezählt. Das war ein Gefühl, als ob es mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Das ist toll. Ich habe mir gesagt: ich weiß nichts. Super!”

 

Mathematik und Musik, Iran und Ben Johnston

In seiner Komposition Murhabala für das mikrotonale Tasteninstrument Rhesutron und Streichquartett kommen diese beiden Interessensgebiete zusammen. Bei dem persischen Universalgelehrten Omar Chayyām aus dem 11. Jahrhundert entdeckte Marc Kilchenmann eine mathematische Abhandlung über Binomialkoeffizienten. Diese nutzt er ebenso wie das harmonische Konzept von Utonalität und Otonalität des Komponisten Harry Partch, der Ben Johnston maßgeblich beeinflusst hat, um seine musikalische Strukur zu finden. Als “otonal” werden Intervalle bezeichnet, die sich mit der Obertonreihe bilden lassen. Solche. Diejenigen die mit der Untertonreihe gebildet werden, heißen “utonal”.

 

Marc Kilchenmann, Dominik Blum und das Quatuor Bozzini nach der Uraufführung von Murhabala im Kunsthaus Walcheturm, Zürich. © Doris Kessler
Das Stück ‘Murhabala’ entstand im Auftrag von Dominik Blum zum Anlass seines 60sten Geburtstags. Dominik Blum und Marc Kilchenmann zusammen mit dem Quatuor Bozzini nach der Uraufführung von ‘Murhabala’ im Kunsthaus Walcheturm September 2024. © Doris Kessler

 

Das persische Wort Murhabala bedeutet ‚Gegenüberstellen‘. Marc Kilchenmann stellt in seinem Stück utonale und otonale Intervallstrukturen einander gegenüber. Das Streichquartett, das vor allem Liegetöne spielt, bewegt sich nur im otonalen harmonischen Raum. Das Rhesutron spielt ornamentale Linien und nutzt dabei sowohl otonale als auch utonale Intervalle. Im Verlauf des Stückes wird die harmonische Struktur immer komplexer. Wenn die Oberton- mit der Untertonreihe kombiniert wird, entstehen einerseits vollkommen rein klingende Intervalle. Meistens treffen aber Töne in einem Abstand aufeinander, der ausserhalb des tradierten Tonsystems liegt.

 


Murhabala für Rhesutron und Streichquartett, Aufnahme vom 23.9.2024 in der Kantonsschule Küsnacht. Dominik Blum und Quatuor Bozzini

 

Wellen wie Revolutionsbewegungen

“Du kannst mein Stück sehr linear hören, du kannst aber auch sehr auf die Harmonie achten, du kannst mal nur die Streichinstrumente verfolgen oder auch einfach die Gedanken schweifen lassen”, sagt Marc Kilchenmann. Ein Gedanke, der ihn selbst beim Komponieren beschäftigt hat, galt den Frauen im Iran, die dort in immer wieder neuen Anläufen gegen Unterdrückung und um ihre Freiheit kämpfen. Die harmonischen Zusammenhänge, die sich aus der Struktur von Murhabala ergeben, gleichen Wellenstrukturen, die an das Auf und Ab aus Niederschlagen und Wiedererstarken des Protests erinnern. Diesen Aspekt möchte Marc Kilchenmann in einer nächsten Fassung aber noch deutlicher betonen. “Die Wellen, die ich mir eigentlich vorgestellt habe, dieses Dranbleiben, dieses Immer-Wiederkommen, das ist etwas, was ich noch zu wenig höre in dem Stück. Die werde ich noch stärker herausarbeiten.”

 

Aufs Neue fremd sein

So intensiv sich Marc Kilchenmann jetzt mit Obertönen und Untertönen beschäftigt hat – in seiner nächsten Komposition wird es wahrscheinlich um etwas völlig anderes gehen. Denn das Unbekannte ist es, das ihn immer wieder aufs Neue reizt. “Ich würde gerne noch mal etwas ganz anderes studieren. Das tue ich jetzt wahrscheinlich nicht, weil die Zeit auch endlich ist. Aber ich mag es, mich mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen, und auch wieder dieses Fremdsein zu erleben: Das ist ein schönerer Zustand, als alles schon zu wissen. Was willst du dann noch vom Leben?
Friederike Kenneweg

Omar Chayyām, Ben Johnston, Harry Partch, Quatuor Bozzini

neo-profile
Marc Kilchenmann, Dominik Blum, Kunstraum Walcheturm

 

Andreas Eduardo Frank: Kollaboratives Komponieren und Meta-Komponieren

Der Komponist Andreas Eduardo Frank ist seit der Saison 2024/2025 neuer künstlerischer Leiter & Co-Leiter des Basler Gare du Nord, einer der wichtigsten Spielstätten für zeitgenössische Musik der Schweiz. Franks eigene Werke sind multimedial, verspielt, humorvoll und oft politischer, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Ein Porträt von Jaronas Scheurer.

 

Der Komponist und neue künstlerische Leiter des Basler Gare du Nord Andreas Eduardo Frank

 

Jaronas Scheurer
Seit dieser Saison ist Andreas Eduardo Frank neuer künstlerischer Leiter des Gare du Nord. Gleichzeitig ist er in der Programmgruppe des Festivals Neue Musik Rümlingen. Zum Komponieren komme er daher momentan nicht mehr, meint Frank im Interview. «Ich muss ehrlich sagen, ich sass die letzten zehn Jahren viel hinter dem Schreibtisch und habe Noten aufs Papier gesetzt. Es ist ein einsamer Job und eigentlich bin ich ein geselliger Mensch. Und Kuratieren ist so eine Art Meta-Komponieren, gerade wenn man mit Leuten kollaboriert und zusammen Ideen austauscht und umsetzt.»

Für Frank fühlt sich der Wechsel vom Komponieren zum Kuratieren also nicht als Bruch an. Auch wenn man seine früheren Stücke anschaut, wird der kollaborative Zug seiner Kompositionsweisen deutlich, was er im Interview nochmals betont: «Ich lasse mich gerne von den Menschen, für die ich schreibe, inspirieren: Was für ein Klang, was für eine Aktion, was für ein Moment passt zu diesen Menschen?»

 

Ja, Nein, Vielleicht

Doch nicht nur seine Arbeitsweise trägt eine stark soziale Dimension, auch seine Stücke selbst. Im 2020 entstandenen Stück Yes Yes No No, Yes No No No für Geige, Saxofon, Akkordeon, Perkussion, Elektronik und Video, hier gespielt vom Concept Store Quartet, beschäftigte sich Frank mit den Bedeutungsdimensionen der Wörter Ja und Nein.

 

 

«Mich hat diese Grauzone zwischen Ja und Nein, zwischen Eins und Null interessiert. Ein ‹Ja› kann schön, brutal, aggressiv, angestrengt, ablehnend klingen.» Frank ist von diesen zwei Alltagswörtchen ausgegangen und hat sie in ihrer Bedeutung und ihrem Klang untersucht. Dazu kam dann noch die Videoebene. Im Video und auf der Bühne sind Performer:innen zu sehen, wie sie in unterschiedlichen Weisen «Yes» und «No» sagen. «Das fand ich eine interessante Konstellation», meint Frank. «Es gibt vier Performerinnen und Performer auf der Bühne, die alle nur ‹Yes› und ‹No› sagen. Dazu kommen ihre digitalen Avatare, die dasselbe tun. Daraus entstehen ganz unterschiedliche soziale Konstellationen zwischen realen und digitalen Doppelgängern, zwischen den Individuen und verschiedenen Gruppenkonstellationen, zwischen medialen Ebenen. Es ist eine Art gesellschaftlicher Mikrokosmos.»

 

Neue Musik und Politik

Damit klingt eine dezidiert gesellschaftspolitische Dimension bei Andreas Eduardo Frank an, die er auch sofort bejaht: «Ich glaube, dass es in der Musik und in der Kunst eine Haltung zur Gesellschaft braucht, die sich in der Musik widerspiegelt oder heraushören lässt. Natürlich lässt sich in die Musik als eine Art heile Welt flüchten. Aber die Realität ist nicht heil.» Die Gefahr besteht dann jedoch, dass Musik zu Propaganda wird. Franks Gegenmittel dazu heisst Virtuosität: «Ich will niemandem sagen, was sie oder er denken soll.» meint er im Gespräch. «Ich möchte Gedankenräume anreissen, in die man kurz hineindenken kann und im nächsten Moment öffnet sich ein neuer Raum. Dadurch versuche ich eine Art Virtuosität in Gedankenform zu etablieren.»

 

Kann man schneller als Licht singen?

Auch in einem weiteren Stück von Frank, Restore Factory Defaults von 2017, geht es um Virtuosität. Ausgangspunkt der Komposition, die Frank mit der Sängerin Anne-May Krüger entwickelte, war die Vorstellung, dass man schneller als Licht singen kann. Mit dieser eigentlich absurden Frage ist man jedoch mitten im äusserst realen Musiker:innenalltag. Es geht Frank im Stück um Virtuosität, Wettkampf, um die Kraft der Performance.

 

 

Im Stück singt Anne-May Krüger gegen digitale Doppelgängerinnen und die projizierte Lichtchoreographie an, die sie immer wieder im Dunkeln stehen lässt. Die verschiedenen medialen Ebenen wie Video, Licht oder Audioeinspielungen dienen dabei sowohl als virtuose Erweiterung der stimmlichen Fähigkeiten der Mezzosopranistin als auch als Medienmaschine, gegen die Krüger ankämpft.

Restore Factory Default ist gleichzeitig eine humorvolle Untersuchung der Limitierungen von menschlich-körperlichen Fähigkeiten, ein multimediales Virtuosenstück für eine Sängerin und eine kulturpolitische Reflexion über den absurden Wettkampf zwischen Mensch und Medienmaschine. «Mir ging es einerseits um ein ‘Enhancen’: Also – wie kann ich es mit den medialen Mitteln noch virtuoser machen?», so Frank. «Aber gleichzeitig ist es ein Kampf zwischen der Maschine, die mit Licht operiert, und dem Klang, der vor allem vom Menschen kommt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass hinter diesem multimedialen Trend in der zeitgenössischen Musik eine Flucht von der Arbeit mit dem Klang steckt. Das wollte ich umdrehen und habe mich daher gefragt, kann man doch schneller singen als das Licht?»

 

Andreas Eduardo Frank bei einer Live-Performance am Modular-Synthesizer.

 

Ein sicherer Hafen für Klangexperimente

Mit dieser sanften Kritik an der zeitgenössischen Musik schliesst sich auch der Kreis zu seiner momentanen Arbeit als künstlerischer Leiter des Gare du Nord: «Der Gare du Nord soll ein Ort für Klangexperimente sein und ein sicherer Hafen für andere Ansätze, die vielleicht nicht dem Mainstream angehören. Ich möchte die zeitgenössische Musik entstauben und verstärkt der jüngeren Generation eine Plattform bieten.»
Jaronas Scheurer

 

Sendungen SRF 2 Kultur:
Kultur Kompakt vom 17. Oktober 2024 (ab 00:25:51): Jaronas Scheurer berichtet über die Eröffnungsproduktion der diesjährigen Saison des Gare du Nord.

Neo-Profile:
Andreas Eduardo Frank, Concept Store Quartet, Anne-May Krüger

Tapiwa Svosve fräst Saxofonklänge in die Kanalisation

Der junge Zürcher Jazzsaxofonist Tapiwa Svosve (*1995) gewann dieses Jahr einen der BAK-Musikpreise. Svosve legt sich auf keinen Stil fest: er wechselt agil zwischen Free Jazz, Ambient, Noise und Progressive Rock. Seine musikalische Praxis ist jedoch fest in der Jazztradition verankert. Ein Porträt von Jaronas Scheurer.

 

Der Zürcher Jazzsaxofonist Tapiwa Svosve / Porträt zVg. Tapiwa Svosve.

 

Jaronas Scheurer
Tapiwa Svosve hat schon viel erreicht für seine junge Karriere: Schon kurz nach seinem Studium an der Jazzschule Zürich gewann er mit der Band District Five den ZKB-Jazzpreis, es folgten unter anderem ein Auftritt mit den Jazzlegenden Hamid Drake und William Parker und ein Werkjahr der Stadt Zürich. Als Organisator und Kurator war er für das Zürcher Taktlos-Festival tätig und gründete das transdisziplinäre Kunstkollektiv Gamut mit. Er trat in Produktionen der gefeierten Künstlerin und Filmemacherin Wu Tsang auf, machte Musik für die Louis Vuitton-Fashionshow, veröffentlichte zahlreiche Alben – Solo, mit seinen verschiedenen Bands oder zum Beispiel 2023 das Album The Sport of Love mit der amerikanischen Elektronik-Produzentin Asma Maroof und dem englischen Cellisten Patrick Belaga, die er im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit Wu Tsang kennenlernte. 2024 wurde diese beachtliche Laufbahn mit einer Tour durch Südostasien und einem der begehrten BAK-Musikpreise gekrönt.

 

Tapiwa Svosve klingt im dem Song G Major Kinda Love aus dem Album The Sport of Love zusammen mit Patrick Belaga (Cello) und Asma Maroof (Produktion, Elektronik) von 2023 sehr sanft. Das ist jedoch nur eine Seite von Svosves vielfältigem Schaffen.

 

Finanzielle Knappheit und künstlerische Konsequenz

Trotzdem – finanziell kommt Svosve gerade so knapp durch: «Ich lebe zum Grossteil von meiner Musik. Das geht mal besser und mal weniger gut.» meint er im Interview. «Vielleicht hat man gerade viel gespielt, dann kommt aber wieder eine Dürreperiode und man begrenzt sich: geht nicht mehr aus, isst vielleicht nur noch Reis mit Soyasauce. Ich kann das akzeptieren, wenn es dann auch wieder nach oben geht.» Der BAK-Preis und das damit verbundene Preisgeld kam da genau zum richtigen Zeitpunkt: «Ich machte mir gerade grosse Gedanken, wie ich die nächsten Monate über die Runden kommen soll. Der Preis riss mich von einer Realität in eine ganz andere: Am einten Tag hatte ich minus zwanzig Franken auf dem Konto und am nächsten plötzlich dieses riesige Preisgeld.»

Die finanzielle Knappheit ist wohl auch Svosves künstlerischer Konsequenz geschuldet, der sich wenig bis gar nicht Verkaufsargumenten oder Marktlogiken beugt. «Grundlegend für mich ist ein improvisatorischer Ansatz – sei das jetzt in einem Jazztrio, in einer Noiseband oder wenn ich Ambient mache: Offen sein, für das Potential der Kollaborationen, und schauen, wohin es einen in dieser Konstellation von Menschen treibt.» Svosve versteht sich als Jazzmusiker: «Ich bin durch den Jazz musikalisch sozialisiert worden. Und in welcher anderen westlichen Musiktradition steht sonst diese extreme Offenheit ganz im Zentrum?»

 

Jazz und Gemeinschaft

Die Offenheit und der improvisatorische Ansatz des Jazz gehen bei Svosve über das tatsächliche Musizieren hinaus. Auch seine Arbeit als Organisator und Kurator sind davon geprägt: «Dass ich nicht nur Musik mache, sondern auch proaktiv Räume für Musik schaffe, für die der Mainstream vielleicht noch nicht bereit ist, ist für mich essentieller Bestandteil des Musikerdaseins. Und wenn ich in die Jazzgeschichte schaue, war das schon immer ein wichtiger Bestandteil des Jazz.»

 

Ein Jazzmusiker in ganz unterschiedlichen Echoräumen

Svosve ist im Wesen Jazzmusiker. Er hat sich intensiv mit der Jazzgeschichte auseinandergesetzt und unterrichtet auch Jazzgeschichte am Winterthurer Institut für aktuelle Musik (WIAM). Doch das hört man teilweise kaum in seinen Projekten. Es prägt eher seine Art des Daseins und der Zusammenarbeit, denn die tatsächlichen musikalischen Resultate. Ein gutes Beispiel ist das 2022 erschiene Album «A Lung in a Horn in a Horn». In einer nächtlichen Aktion ist er mit dem Künstler, Labelbetreiber und Sounddesigner Rafal Skoczek in ein grosses, offenes Rohr gestiegen, das unter der Sihl und der Limmat verlegt wurde. Dort ist dann das Album entstanden – nur er, das Saxofon und die psychedelisch hallende Zürcher Kanalisation, aufgenommen von Skoczek. Da wurde nicht gross abgeklärt, was möglich oder legal sei. Es gab keine Proben, keinen Soundcheck: «Das Ziel der Aktion war eher der Weg dorthin als das tatsächliche Resultat. Aber die Platte gefällt mir heute noch. Sie ist so puristisch. Es geht gar nicht so um mein Saxofonspiel, sondern mehr darum, wie dieser Tunnel eigentlich klingt, wenn ich da ein paar Klänge reinfräse.»
Jaronas Scheurer

Tapiwa Svosve und sein Saxofon sind hier im Stück A Lung in a Horn in a Horn aufgenommen in der Zürcher Kanalisation zu hören.

 

Tapiwa Svosve spielt mit District Five bis Ende 2024 jeden letzten Sonntag des Monats ein Konzert im Zürcher Helsinki Klub.

Sendung SRF Kultur:
Musikmagazin, SRF 2 Kultur, 28.9.2024: Preisgekrönt: Der Saxophonist Tapiwa Svosve: Tapiwa Svosve im Talk mit Jaronas Scheurer.

Neo-Profile:
Tapiwa Svosve, Swiss Music Prizes

Sol Gabetta erhält den Grand Prix Suisse de musique 2024

Sol Gabetta, Cellistin, Weltbürgerin und Wahlschweizerin, bekam den Grand Prix suisse de musique 2024 verliehen.

Florian Hauser
Was braucht es für eine Weltkarriere in der klassischen Musik? Talent, Glück, eine starke Persönlichkeit und nicht zuletzt die Bereitschaft, sich auf Teamwork einzulassen, also auf die Zusammenarbeit mit Künstleragentur, Presseagentur und Plattenlabel. Sol Gabetta hat all das.

 

Sol Gabetta © Julia Wesely

 

Damals, vor dreissig Jahren, als ihre Karriere begann, hätte sie sich das nicht im Traum vorstellen können. “Ich war eine romantische Musikerin, eine junge Frau mit viel Hoffnung, alles an Kunst und Musik kennenzulernen – es war alles offen für mich.” Nach dem Glück einer behüteten Kindheit in Argentinien, in der Sol Gabetta nach Kräften gefördert wird, sich nach Herzenslust entfalten und in geschütztem Raum zu einer starken, selbstbewussten Person werden kann, startet sie durch. 1998 gewinnt sie beim renommierten ARD Musikwettbewerb den 3. Preis, da ist sie 17 Jahre alt. 2004 zündet so etwas wie der Turbo: der Credit Suisse Young Artist Award beschert ihr ein Maximum an Aufmerksamkeit. Sie gründet ihr eigenes Festival, räumt einen Preis nach dem anderen ab und bald stehen die grossen Orchester an: die Wiener Philharmoniker, das London Philharmonic Orchestra und viele andere. Festspiele laden sie ein, ab 2010 kommt noch das Magazin KlickKlack im Bayerischen Fernsehen dazu und spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Sol Gabetta medial omnipräsent.

 

Teamwork ist alles

Eins kommt zum anderen. Es bietet sich ein CD-Label an, eine Assistentin, eine Agentur, Sol Gabetta beginnt, ein Team um sich herum aufzubauen und hat dabei ein gutes Händchen: “Man entwickelt feine und sensible Antennen, um zu spüren, was man wirklich ist, was man wirklich will.” Sie lässt sich in Basel von dem Cellisten Ivan Monighetti ausbilden, der heute noch ein Coach für sie ist, wenn sie ihn braucht. Sie trifft Christoph Müller, der vom Cellisten mehr und mehr zum Musikmanager mutierte, zeitweise ihr Lebensgefährte war und  heute ihr Schweizer Management inklusive ihr Solsberg Festival betreut. Sie trifft ihren heutigen Partner, den Geigenbauer und Restaurator Balthazar Soulier, der sich um all die kleineren und grösseren Wehwehchen ihres fast 300 Jahre alten Goffriller-Cellos oder des Stradivari-Cellos von 1717 kümmern kann.

Sie lernt Dirigenten wie Giovanni Antonini, Simon Rattle, Christian Thielemann kennen und kann sie von sich überzeugen. Und ist heute nach Jacqueline du Pré erst der zweite Superstar, der eine Cello-Männerdomäne erobert hat. Denn es ist ja schon frappant: Da behaupten sich in der oberen Liga zwar Frauen wie Alisa Weilerstein in den USA oder dann die ganz junge Julia Hagen hierzulande – das aber war’s dann auch schon. Denn jetzt kommen viele Männer: Gautier Capucon, Jean-Guihen Qeyras, Nicolas Altstaedt, Truls Mörk, Daniel Müller-Schott, Bruno Philippe, Johannes Moser, YoYo Ma…. Warum ist das so? Sol Gabetta hat eine Erklärung: “Das ist eine ganz einfache Frage: die Familiensituation. Ein Reise-Leben mit Kindern ist machbar, aber schwierig. Man braucht einen unglaublichen Partner, man braucht eine unglaubliche Organisation und eine unterstützende Familie.”

Nicht zuletzt dank ihres grossen Netzwerks im Hintergrund ist Sol Gabetta auch in der Zusammenstellung der Tourneen so frei und kompromisslos wie in der Wahl des Repertoires: das erstreckt sich über aller Epochen bis hin zu allerneuesten Werken wie etwa dem Concerto en Sol, das Grossmeister Wolfgang Rihm vor vier Jahren für sie geschrieben hat.

 


Wolfgang Rihm, Concerto en Sol, Cellokonzert für Sol Gabetta (2018-19), Kammerorchester Basel, Leitung Sylvain Cambreling, Konzertaufnahme und UA: Victoria Hall Genève 2020.

 

Der Vulkan

“Ich bin fast wie ein Vulkan, aber ein ruhiger. Es gibt tatsächlich diese Klarheit bei mir, was ich suche und welchen Weg ich gehen will. Dabei gibt es natürlich auch Unsicherheiten, logisch. Und deswegen versuche ich einfach, wichtige Menschen zu um mich herum zu haben.” Wichtig dabei auch: Disziplin und Routine. “Nach dem Aufwachen mache ich tatsächlich gleich das Wichtigste: Üben. Der Lernprozess im Gehirns braucht eine Frische, die wenigen Stunden, die mir am Morgen bleiben, sind Gold wert.”

Sol Gabetta ist ein glückliches Beispiel, wie eine Solistin durch den Markt schwebt. Die es versteht, mit dem richtigen Riecher, positiver Ausstrahlung und einem einnehmenden Wesen auf und jenseits der Bühne zu agieren und dabei den nötigen Schwung und Enthusiasmus zu haben, um das Publikum zu begeistern.
Florian Hauser

 

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Sendungen SRF Kultur
Passage, SRF Kultur, 13.9.2024: Teamwork ist alles. Cellistin Sol Gabetta und das Musikbusiness, Redaktion Florian Hauser.
Musikmagazin, Grand Prix suisse de musique für Sol Gabetta, SRF Kultur, 25.5.24 (ab Min 06:00): Talk: Sol Gabetta im Gespräch mit Florian Hauser.
neoblog, 10.1.2020: Melancholische Eleganz – Wolfgang Rihm schreibt für Sol Gabetta, Autorin Gabrielle Weber.

 

neo-profile
Sol Gabetta, Wolfgang Rihm

Marianthi Papalexandri-Alexandri und die Unabhängigkeit der Objekte

Die Arbeiten von Marianthi Papalexandri-Alexandri faszinieren das Ohr wie das Auge gleichermassen. Ihr Werk besteht aus einer Vielzahl von Objekten, Klanginstallationen und Performances und überrascht durch Einfachheit und Eleganz seiner Funktionsweise. Alexandre Babel unterhielt sich bei einem Treffen mit der Künstlerin über die intime Beziehung der Objekte zum Klang in ihren Arbeiten.

 

Portrait Marianthi Papalexandri-Alexandri made available by Marianthi Papalexandri-Alexandri

 

Alexandre Babel
Sobald man den Ausstellungsraum betritt, füllt eine Klangkomposition, bestehend aus einer Vielzahl kurzer Impulse, den Saal. Die Klänge liegen so dicht beieinander, dass sie wie eine einzige, sich ständig bewegende Struktur erscheinen. Beim Annähern ans Objekt Modular n.3 das gleichzeitig die Klangquelle ist, lassen sich allmählich einzelne Impulse voneinander unterscheiden und je näher man ihm kommt, desto mehr enthüllt dieses Installations-Objekt seine Identität und seinen Klang. Durch eine ständige Drehbewegung und Reibung von Rohren mit einem Nylonfaden werden Klangimpulse erzeugt, die von zahlreichen kleinen aufgehängten Lautsprechern verstärkt werden.

 

 

Marianthi Papalexandri-Alexandri, modular n.3, en collaboration avec Pe Lang, 2019.

 

Modular n.3, das dritte Werk einer gleichnamigen Serie, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Pe Lang und ist praktisch von seiner physischen Erscheinung untrennbar. Während die Vielzahl von Lautsprechern ein eigenständiges Klanguniversum erzeugen, eröffnet das Verstehen des Produktionsmechanismus eine konkrete wie auch eine poetische Dimension. „Ich mag es, die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Art und Weise wie ein Instrument gebaut ist zu lenken. Meine Werke beinhalten oft auch eine etwas didaktische Demonstration: es geht darum zu verstehen, wie sie funktionieren“, erklärt Papalexandri-Alexandri.

Das Prinzip von Modular n.3 findet sich auch in anderen Werken der Künstlerin wie Untitled n.V oder Speaking of Membranes. Sie thematisieren die mit der Funktion von Objekten verbunden Erwartungen in poetischer Weise. Ein Lautsprecher wird normalerweise zur Verbreitung von Schall durch Verstärkung von elektrischem Strom eingesetzt. Hier sind die Lautsprecher jedoch nicht angeschlossen: der Klang ist also ganz akustisch.

„Man erkennt zwar, dass es sich um einen Lautsprecher handelt, aber ich möchte ihm einen privilegierten Raum geben, ich möchte seine eigene Stimme hören.“ Papalexandri-Alexandri macht das Publikum auf das Wesen des Objekts aufmerksam, indem es durch das Bewegungsgerät in Schwingung versetzt wird. Wie sieht das Objekt dann aus, wenn die Installation nicht eingeschaltet? Die Künstlerin fährt fort: „Manchmal frage ich mich was passiert, wenn ein Klang- oder Musikobjekt keinen Ton erzeugt. Ist es ein totes Objekt? Ich denke, dass jedes musikalische Objekt funktional ist. Indem ich es in Bewegung setze, erforsche ich eine bestimmte Art von Funktionalität, und meist existieren verschiedene Funktionalitäten, die ich am selben Objekt erforschen kann.“

Solo for generators, motors and wind resonators komponierte Papalexandri Alexandri für die Blockflötistin Susanne Fröhlich, mit der sie schon lange zusammenarbeitet. Auch hier umgeht die Beziehung zum Instrument die konventionelle Erwartung. Eine in ihren Einzelteilen zerlegte Blockflöte wird flach auf einem Tisch liegend präsentiert. Auf demselben Tisch befindet sich ein motorisiertes Gerät, welches Drähte in Rotation versetzt. Diese sind mit über die offenen Teile der Flöte gespannten Membranen verbunden. Das akustische Resultat erinnert an lange Klangwellen. „Da wir das Instrument zerlegt haben, sind nur Fragmente davon zu sehen“, erklärt die Komponistin. Ein musikalisches Objekts, das man normalerweise mit einer bestimmten Nutzung verbindet, in diesem Fall der Tonerzeugung durch Blasen in das Mundstück, wird ganz anders verwendet. Die Klangmanifestation wird vom Instrument selbst erzeugt. „Wenn man dieses Instrument auf einer Bühne oder in einer installativen Situation platziert, wird es zu einem Resonanzobjekt. Man sieht es als Körper und nicht mehr als ein Musikinstrument, das man wiedererkennt. Durch diese Art von Verfahren habe ich das Gefühl, dem Publikum einen neuen Zugang zum Instrument zu bieten, ihm eine Art Hommage zu verschaffen“, so Papalexandri-Alexandri.

 

Marianthi Papalexandri-Alexandri, salon de musique du 31, Susanne Fröhlich, Festival Archipel Genève, march 2019.

Marianthi Papalexandri-Alexandris Welt lenkt die Aufmerksamkeit  auf die Präzision der Herstellung. Man könnte meinen, dass die Komponistin durch die makellose Inszenierung der Objekte eine gewisse Kontrolle über den Ablauf der Ereignisse sucht. Die Werke erscheinen aber während den Performances nicht starr. Im Gegenteil, sie lassen eine Dimension der Zerbrechlichkeit erkennen, die von möglichen Unvollkommenheiten, die sich im Lauf von Performances einstellen, ausgeht. Zu Solo for generators, motors and wind resonators meint Papalexandri-Alexandri, dass die Kontrolle nie absolut sei. „Wenn ich selbst mit diesem Gerät spiele, kann ich es spüren und wunderschöne Klänge erzeugen, und das Gleiche gilt für Susanne (Fröhlich). Ich habe aber auch schon Situationen erlebt, in denen das Gerät während der Performance nicht funktioniert hat. Das liegt an einer Spannung zwischen dem Performer und der Maschine, die notwendig ist, damit das Stück Gestalt annimmt.“

Die Dualität zwischen Kontrolle und Zerbrechlichkeit trägt zur Poesie der Werke von Papalexandri-Alexandri bei: „Letztendlich geht es nicht wirklich um Kontrolle. Meine Haltung ist eher, die Ereignisse so zu akzeptieren, wie sie sich entwickeln.“ Auf die Frage, wie sie diese Ereignisse gerne weiterentwickeln würde, antwortet sie: „Was kann ich selbst dazu beitragen? Ich möchte mich einfach mit den vorhandenen Objekten auseinandersetzen, sie haben bereits unheimlich viel zu erzählen“.
Alexandre Babel

Susanne Fröhlich

neo-profiles :
Marianthi Papalexandri-AlexandriPe LangFestival Archipel

Mit der Zukunft verknüpft – 20 Jahre Lucerne Academy

Nur schöne Konzerte hören? Nein. Am Lucerne Festival kümmert sich eine Akademie für die Interessen des musikalischen Nachwuchses: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Sie alle bringt die Lucerne Festival Academy zusammen. Die Idee zu dieser Akademie hatten vor 20 Jahren Festivalintendant Michael Haefliger und der Komponist und Dirigent Pierre Boulez.

Benjamin Herzog
Samstagnachmittag. Hitze über dem Vierwaldstättersee. Das Lucerne Festival läuft seit einer guten Woche auf Hochtouren. Das gilt nicht nur für die dichte Abfolge von Sinfoniekonzerten, Debütrezitals, Gratisformaten für die Besucher:innen vor und neben Jean Nouvels emblematischem Kultur- und Kongresszentrum KKL. Intensive Zeiten erleben in den ersten drei Festivalwochen auch die Mitwirkenden der Lucerne Festival Academy. 110 an der Zahl, aus 30 verschiedenen Ländern: Instrumentalist:innen, Komponierende, Dirigent:innen. Ein Teil von ihnen präsentiert an diesem Samstagnachmittag in einem Konzert im Luzerner Saal des KKL die Früchte einer ersten Arbeitsphase. Pierre Boulez’ enorm schwieriges Rituel in memoriam Bruno Maderna für acht Instrumentalgruppen, Wolfgang Rihms In-Schrift und ein Stück von Lisa Streich namens Ishjärta, was auf deutsch „Eisenherz“ heisst und worin die Komponistin versucht, zwei unterschiedliche Gefühlszustände gleichzeitig zu Gehör zu bringen.

Probe Lucerne Festival Academy, Leitung Heinz Holliger © Lucerne Festival / Stefan Deuber.

Ausführende, Dozierende, Lernende. Das Zusammenwirken ist sinnvoll. So sagt der britische Komponist Eden Lonsdale, Teilnehmer am Composer’s Programme: „Mit einem Orchester zu arbeiten, zeigt einem erst, was man in seiner Partitur geschrieben hat.“ Auch die chinesiche Komponistin Yixuan Hu ist froh um das künstlerisch-pädagogische Dreieck Akademie-Orchester, Dirigent:in und Lehrkraft. „Diese Zusammenarbeit hier ist einzigartig“, sagt sie. „So kommt man sehr schnell sehr weit.“ In Seminaren diskutieren dieses Jahr zwölf Komponierende für Orchestermusik und kleinere Ensemblestücke mit dem Komponisten Dieter Ammann und der Komponistin Unsuk Chin, die heuer für den im Juli verstorbenen Wolfgang Rihm eingesprungen ist, über neue Stücke. Der Tonfall ist freundlich, aber direkt. Die Intention: Theorie und Praxis zusammenzubringen.


Mit seinem Orchesterwerk Sub-Kontur schockierte der junge Wolfgang Rihm 1976 an den Donaueschinger Musiktagen, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Sylvain Cambreling, Konzert 3.9.2022, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Mit seinem eigenen Orchester, dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), dem Composers-Programm, einem Programm für Dirigent:innen, die ihre Kenntnisse in neuer Musik vertiefen wollen, sowie mit Workshops, an denen die Akademist:innen mit eingeladenen Fachkräften von Ensembles wie dem Ensemble Intercontemporain, dem Frankfurter Ensemble Modern oder dem Klangforum Wien aufführungspraktische Fragen diskutieren können, ist die Lucerne Festival Academy breit aufgestellt. Ein Management-Workshop und zwei Preise, der Fritz Gerber-Award für Instrumentalist:innen und die Roche Young Comissions für Komponierende runden das Programm ab.

Drei Wochen Campus-Atmosphäre

Drei Wochen Campus-Atmosphäre, drei Wochen voller Begegnungen. Ehemalige Akademist:innen erzählen, dass ihnen das Netzwerk, das sie in Luzern gespannt haben, in ihrer künstlerischen Karriere bis dato hilft. Sei es für konkrete Fragen bei einer Notation, einem spiel- oder dirigiertechnischen Problem, sei es auch nur einfach freundschaftlich. Die Verbundenheit innerhalb der ehemaligen und heutigen Akademist:innen wird auch vom Lucerne Festival selbst aktiv gepflegt: 2016 gründete man ein Alumni-Programm, das ehemalige Teilnehmer:innen aktiv in die laufenden Akademien einbindet.

 


Reigen der diesjährigen Komponistin in Residence Lisa Streich interpretierte das LFCO als spontanes Vorprogramm zum Festival-Eröffnungskonzert im grossen Saal des KKL am 16.8.24, Lucerne Festival Contemporary Orchestra, Leitung Johanna Malangré, Eigenproduktion SRG/SSR.

 

Der 2016 verstorbene Komponist und Dirigent Pierre Boulez, der vor 20 Jahren zusammen mit dem Intendanten des Lucerne Festivals, Michael Haefliger, die Akademie gegründet hatte, erklärte in einem Interview im Gründungsjahr, die Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts werde „in den Ausbildungsstätten vernachlässigt“, weshalb eine solche Akademie dringend Not täte. Sich drei Wochen lang auf dieses Repertoire konzentrieren zu können, sei übers Jahr sonst „kaum möglich“. Die skeptische Haltung der Hochschulen gegenüber der musikalischen Moderne hat sich seither sicher geändert. Doch wird konzentrierte Arbeit, Studierende können davon sein Lied singen, während des Semesters durch die vielen weiteren Verpflichtungen oft verunmöglicht.

Lucerne Festival Academy, Probe SK14, Leitung Sir George Benjamin © Lucerne Festival / Manuela Jans.

Wolfgang Rihm, dessen Rolle nach dem Tod Boulez’ an der Lucerne Festival Academy führend wurde, verstand die Akademie bei aller Spezifikation weniger als Sondertruppe für den Sound der Avantgarde, denn als notwendige und logische Ergänzung zum Lucerne Festival. Die Musiker:innen der Akademie sollten, so Rihm, „die Moderne aus ihren Wurzeln heraus verstehen. Diese Wurzeln reichen weit und gehen irgendwann einmal auch in das romantische Repertoire zurück.“ Also zu Brahms oder Schönberg, dem hierbei eine Schlüsselrolle zukommt. Symptomatisch, dass dieses Jahr Schönbergs monumentale Gurrelieder am Lucerne Festival aufgeführt werden. Ein Werk, dem sowohl die Apotheose der Romantik eingeschrieben ist wie auch der Aufbruch in die Moderne, das folglich die beiden Festival-Ideen „Konzert“ und „Akademie“ aufs Beste verbindet.


Arnold Schönberg begleitet das LFCO durch die Festivals. 2019 führte das Orchester seine fünf Orchesterstücke op 16 von 1909 auf, LFCO, Leitung Riccardo Chailly, Konzert 8.9.2019, KKL Luzern, Eigenproduktion SRG/SSR.

Am Konzert an jenem heissen Samstagnachmittag mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra wird klar, auf welch hohem Niveau hier moderne und zeitgenössische Musik gespielt wird. Das Orchester, obwohl die meisten sich vor einer Woche erstmals begegnet sind, hat die teils abenteuerlichen Schwierigkeiten mit erstaunlicher Präzision locker im Griff. Mit seiner vielgestaltigen und grossen Akademie stemmt das Festival Arbeit, die es eigentlich gar nicht stemmen müsste. Für den Nachwuchs verantwortlich könnten ja die Schulen und Musikhochschulen sein. Und doch ist die Verknüpfung mit der nächsten Generation für ein Klassikfestival natürlich auch eine solche mit der eigenen Zukunft. 
Benjamin Herzog

Pierre Boulez, Eden Lonsdale, Yixuan Hu, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, Klangforum Wien, Fritz Gerber-Award, Roche Young Comissions, Unsuk Chin

Sendungen SRF Kultur:
Musik unserer Zeit, 4.9.2024, SRF 2 Kultur, 20 Jahre Lucerne Festival Academy, Autor Benjamin Herzog.
Musikmagazin, 24.8.2024, SRF 2 Kultur, Komponieren an einem Epochenübergang – Lisa Streich, Autor Benjamin Herzog

Neo-profiles:
Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO), Lisa StreichDieter Ammann

Ein lebendes Archiv – das Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente

Erst sieben Jahre ist es alt, und schon hat es einen der drei Spezialpreise der Schweizer Musikpreise eingeheimst: Das Schweizer Museum und Zentrum elektronischer Musikinstrumente – kurz: SMEM – in Fribourg macht es die Technik, Geschichte und Praxis elektronischen Musikmachens erfahrbar.

Hochregale im Schweizer Museum für Elektronische Musik

Friedemann Dupelius
„Der Preis kam total überraschend für uns“, sagt Victorien Genna, Projektkoordinator am SMEM, „so etwas hätten wir uns frühestens in ein paar Jahren vorgestellt. Es ist wunderbar, dass wir jetzt eine anerkannte Schweizer Institution sind.“ Die längst nicht nur in der Schweiz bekannt ist. Neben Gästen aus Frankreich und Deutschland reisen auch zahlreiche Fans aus England, den USA, Japan, Australien oder Neuseeland nach Fribourg, um die beachtliche Sammlung zu bestaunen. Rund 5000 elektronische Musikinstrumente stellt das SMEM aus, darunter fast alle erdenkliche Arten von Geräten: Sampler, Drummachines, Synthesizer, Mischpulte, Effektgeräte, Verstärker, Aufnahmedevices, Mikrofone – sogar Software wie die erste Version des heute weit verbreiteten Musikprogramms Ableton Live aus dem Jahr 2001 und die entsprechend alten Computer, auf denen diese läuft.

(c) Johnma.ch
Die Hammond Novachord wurde zwischen 1938 und 1942 produziert

Meterhoch ragen die Regale an die Decke einer ehemaligen Brauerei – heute zu einem Areal für Startups und kulturelle Initiativen umfunktioniert. Doch wer nun dicke Staubschichten auf den Keyboards befürchtet, darf beruhigt aufatmen: Das SMEM versteht sich als „lebendiges Archiv“. All diese Geräte werden nicht nur professionell gewartet, sondern können auch gespielt werden. Im “Playroom des Museums steht immer eine breite Auswahl unterschiedlicher Instrumente angeschlossen bereit, darunter Klassiker wie die Drumcomputer TR-808 und TR-909 der Firma Roland. Für wenig Geld kann man sich hier eine Session buchen, die eigenen Jams auch aufnehmen und auf dem Stick mit nach Hause nehmen.

Ein Museum für Kids wie für Nerds

Auf die Frage, ob das SMEM eigentlich eine Unterscheidung zwischen akademisch geprägter, „ernster“ elektronischer Musik und ihren popkulturellen Spielarten macht, fragt Victorien Genna zurück, was ich damit eigentlich meine – und gibt damit schon eine indirekte Antwort. Er ist kein Musikwissenschaftler oder Komponist, sondern stieß als Philosophie-Student, der gerne privat mit Synthies spielt, zum SMEM. „Die FM-Synthese ist ein gutes Beispiel: Sie gelangte von den Laboren der Universitäten auf den Konsummarkt und wurde mit dem Yamaha DX7 in den 80ern weltberühmt. Bei uns kommen die Nerds auf ihre Kosten, man kann hier richtig ins Detail gehen. Aber auch fünfjährige Kinder oder jemand von 100 Jahren soll hier Spaß haben können.“

Auch Kinder haben im SMEM ihren Spass.

Der erste Schaltkreis schließt sich auf einer Zugfahrt

Dass das SMEM überhaupt existiert, war glückliche Fügung: Der Großteil der Sammlung stammt von Klemens Niklaus Trenkle – einem Schauspieler aus Basel, der seit den 70er-Jahren elektronische Instrumente sammelt. So viel, dass es seinem Vermieter irgendwann zu bunt wurde, er solle das Zeug wegschaffen. Auf einer Zugfahrt kam er mit dem Architektur-Professoren Christoph Allenspach aus Fribourg ins Gespräch. Allenspach hatte seit Jahren die Idee, ein Museum mit Musikbezug zu eröffnen und so war die erste Verkabelung unverhofft gelungen. Bald zogen die Instrumente von Basel in die Westschweiz um, ein Verein wurde gegründet und ein Team von Freiwilligen zusammen gestellt. 2017 eröffnete das Museum. Bis heute hat sich nicht viel geändert: Die Menge an Instrumenten ist groß, das Budget gering.


Victorien Genna vom SMEM hat eine Dokumentarfilm-Reihe über Instrumente aus der SMEM-Sammlung produziert.

Das SMEM lebt – neben öffentlicher Förderung und privaten Spenden – durch den Einsatz von Ehrenamtlichen, so wie es auch Victorien Genna einer war, bis er vor kurzem eine der drei festen Stellen am Museum bekam. Die Freiwilligen reparieren die Instrumente, mischen Konzerte ab oder übernehmen Barschichten dort. Der frisch erhaltene Preis ist für das Museum daher natürlich Gold wert, denn die Sammlung wächst stetig. Doch wie soll man aus einer Flut technischer Neuerscheinungen herausfiltern, welches Delay-Modul, welcher Wavetable-Synthie wirklich historisch relevant sein werden? „Manchmal kann man technische Revolutionen schnell erkennen“, sagt Victorien Genna und verweist auf den Elektron Digitakt, 2017 erschienen, „da war es schon mit dem Erscheinen klar, dass das ein wichtiger Sampler für das 21. Jahrhundert sein wird. Oft kann man aber nur spekulieren und weiß es erst nach ein paar Jahren.“ Klemens Niklaus Trenkle kauft immer noch selbst neue Instrumente für das Museum ein. „Er hat einen ziemlich guten Riecher dafür, was relevant ist oder sein wird.“

Das SMEM veranstaltet u.a. Konzerte, Workshops und Vorträge – mindestens einmal im Monat. Mehrmals im Jahr sind auch Residenz-Künstler:innen für eine bis vier Wochen zu Gast in Fribourg, um mit Instrumenten ihrer Wahl zu experimentieren. Ein künstlerisches Ergebnis ist dafür nicht verpflichtend. Doch immer wieder kommt etwas dabei heraus, das dann in der Regel auf dem Fribourger Label oos erscheint. Im Oktober steht ein Release des Wiener Musikers Oliver Thomas Johnson alias Dorian Concept an, der sich am SMEM mit dem Yamaha CS01-Synthesizer beschäftigt hat. Die polyrhythmischen Geflechte aus perkussiven Synthesizern beginnen mit jeder neuen Schichtung mehr zu grooven, die 200 Beats per Minute Geschwindigkeit merkt man dieser leichtfüßigen Musik nicht an. Es ist eben ein lebendiges Archiv, in dem Geschichte nicht nur dokumentiert, sondern auch aktiv mitgestaltet wird.
Friedemann Dupelius


Schweizer Museum und Zentrum für Elektronische Musikinstrumente (SMEM)
SMEM auf Instagram
Das Online-Magazin des SMEM
Dorian Concept auf Bandcamp
Klemens Niklaus Trenkle
Das Album Unconditional Contours von Legowelt, das auch am SMEM entstand

Termine
04.09.2024 – Modular-Synthesizer-Workshop mit dem Duo OK EG (Lauren Squire & Matthew Wilson) aus Melbourne
09.09.2024 – 25 Jahre Anyma (Audiovisuelles Kunst-Kollektiv aus Fribourg): SMEM Open Doors und Konzert von Synkie
Oktober 2024 – Veröffentlichung von Dorian Concept auf ous